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3Trauerfeier

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„Ich hab nich ma schwarze Klamottn“, nuschelte Kaja und spuckte Zahnpasta ins Waschbecken.

„Der braune Mantel ist dunkel genug“, sagte Kalle, der hinter ihr stand und sich die Haare kämmte. „Die Hose auch. Und die Haare bindest du dir mit meinem schwarzen Schlauchschal zurück.“

„Wann ist der das letzte Mal gewaschen worden?“

„Gestern.“

Kaja verzog den Mund und spuckte noch einmal aus, bevor sie den Wasserhahn aufdrehte, um die Zahnbürste auszuspülen. „Das hast du ja perfekt geplant.“

Kalles Bart kitzelte, als er sich vorbeugte und sie auf den Hals küsste. „Weil ich wusste, dass du rumpiensen wirst.“

„Hey, das ist mein Wort, ich bin die Hessin!“ Kaja duckte sich unter einem zweiten Kuss weg und hielt den Mund unter den Wasserstrahl.

Ihr Freund trat zurück und fasste sich in aller Seelenruhe die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, den er auf der ganzen Länge mit drei schwarzen Bändern fixierte. Kaja beobachtete ihn, während sie das Wasser von einer Backe in die andere wandern ließ. Schließlich rammte sie ihre Zahnbürste mit Wucht in den getöpferten Becher.

„Ja, toll, erwischt. Ich will halt nicht gehen. Ich war nicht mal auf der Beerdigung von Leuten, die ich wirklich mochte.“ Außer Oma. Die erste und letzte Beisetzung, an der Kaja je teilgenommen hatte. Die Erinnerung daran führte auch nicht dazu, dieses Erlebnis unbedingt wiederholen zu wollen.

„Das kannst du in Frankfurt machen, aber hier sind wir auf dem Dorf.“

„Gemeinde“, korrigierte Kaja.

„Egal.“ Kalles Stimme blieb so unglaublich ruhig und verständnisvoll, es war zum Ausrasten! „Wir wollen hier zu Hause sein, also müssen wir auch ein bisschen am Gemeindeleben teilnehmen und können nicht komplett ignorieren, was die Leute denken.“

Kaja drehte sich um und warf ihre Haare über die Schulter zurück. Allein die waren schon ein Grund gewesen, warum die Leute anfangs gestarrt hatten – und es zum Teil nach eineinhalb Jahren immer noch taten. Meistens amüsierte sich Kaja darüber. Heute nicht. „Die halten uns sowieso schon für verrückt.“

Kalle rückte näher an sie heran, Kaja hob eine Hand, um ihn zu stoppen. Er zuckte die Schultern. „Das vielleicht, aber sie haben uns trotzdem gut aufgenommen. Nicht auf die Beerdigung zu gehen, ist eine ganz andere Nummer. Das könnten uns manche echt übel nehmen.“

„Na und? Lasse reden!“, fauchte Kaja, aber nur halbherzig. Im Gegensatz zu ihr kam Kalle vom Dorf. Von einem bayerischen Dorf obendrein. Dort seine Rebellenphase gehabt zu haben, hatte sicher wenig Spaß gemacht.

Und was er nicht aussprach: Es ging hier um die Beerdigung einer Reitschülerin, einer, deren Pferd Kaja anvertraut gewesen war, und sie beide hatten sie nicht davon abgehalten, in den Sturm hinauszureiten. Petersen hatte ihnen gestern auf der Wache verdächtig viele Fragen in dieser Richtung gestellt: Ob einfach jeder im Stall kommen und gehen dürfe, wer die Verantwortung trug, wie Mensch und Tier versichert waren, wer die Sättel und Steigbügel in Ordnung hielt, ob Pferde mit oder ohne Beschlag sicherer auftraten, wie schreckhaft Mira gewesen war und ob man nicht mit Pferden trainierte, um sie abzuhärten. Wie auch immer die Bullen versuchten, ihnen einen Strick zu drehen, – das Ganze hätte wirklich böse für sie ausgesehen, wenn Mira kein Privatpferd und Marietta nicht dreiundzwanzig gewesen wäre und damit nach allen Gesetzeslagen erwachsen. Der Rechtsmediziner hielt mittlerweile ein Szenario für wahrscheinlich: Mira hatte gescheut, sich überschlagen und ihre Reiterin unter sich begraben. Marietta war wohl bewusstlos gewesen, als sie ertrank.

Am Mittwoch hatte Kaja den Ermittlern gegenüber noch als Ausrede vorschieben können, dass sie auf die Tierkörperbeseitigung warten musste, die nicht vorhersagen konnte, wann genau sie vorbeikommen würden. Zwar war die schließlich schon am frühen Nachmittag aufgetaucht, aber nachdem Kaja hatte mit ansehen und vor allem hören müssen, wie Mira unzeremoniell von der Hebebühne in dieses schreckliche Müllauto gekippt wurde, hatte sie keinen Nerv mehr gehabt, nach Niebüll zur Dienststelle zu fahren.

Die Kombination aus Tierkörperbeseitigung und den Details über Mariettas Tod sorgten bei Kaja für unruhige Träume. Dann hatte ihre Mutter heute Morgen versucht, sie anzurufen und ihr dann – Kaja war nicht rangegangen, sie hatten erst gestern ihr wöchentliches Telefonat gehabt, die Frau sollte mal lernen, sich an Absprachen zu halten – eine E-Mail geschrieben. Im Anhang die abfotografierte Seite eines Boulevardblatts, das die Heidebrinks natürlich nie lasen. Der Artikel handelte von der „Schimmelreiterin“ und ihrem tragischen Tod, die E-Mail beinhaltete den kaum versteckten Vorwurf, warum sie, Helena, auf diesem Wege habe erfahren müssen, wie gefährlich der Sturm tatsächlich gewesen war.

Der Text stand auf einer der hinteren Seiten und war vergleichsweise klein, wurde aber bebildert von einer Außenaufnahme des Hofs Sturmwolke. War das Bild einfach irgendwo aus dem Netz geklaut oder waren diese ach so verantwortungsvollen Schreiberlinge hier herumgeschlichen und hatten fotografiert, ohne Kaja als Besitzerin um Erlaubnis zu fragen oder um eine Stellungnahme zu bitten? Im Gegensatz zu den drei, vier seriöseren Medien, die sie zunehmend ungeduldiger abgewimmelt hatte.

Schimmelreiterin! Das Buch war in der Schule an ihr vorbeigegangen, aber hier, nahe der Heimat von Theodor Storm, kam man nicht drum herum. Marietta spukte garantiert nicht als Geist über den Hof. Geschmacklos!

Die Reitstunden hatte Kaja diese Woche abgesagt – und jetzt ließ Kalle sie nicht mit dieser Scheiß-Beerdigung in Ruhe!

Kaja malträtierte den Filterhalter der Kaffeemaschine, der sich verklemmt hatte, da stand Kalle schon wieder hinter ihr. Diesmal hielt sie ihn nicht auf, als er seine Arme um sie schlang.

„Überleg mal“, wisperte er in ihr Ohr. „Die anderen Leute sind vielleicht nicht so wichtig, aber was ist mit Sasha? Mit den anderen aus der Autorinnenrunde?“

„Ich bin nicht ihre Mami“, maulte Kaja leise.

„Ob du willst oder nicht, sie schauen zu dir auf, und ich denke, es wäre ihnen echt wichtig, dass du dabei bist.“

„Dafür machen wir doch die Trauerfeier heute Abend hier.“ Kaja seufzte. Sie wusste, dass sie schon verloren hatte.

„Trotzdem.“

Sie lehnte sich an Kalle. „Ich hasse es, wenn du recht hast.“

Schon drei Straßen vom Friedhof entfernt reihten sich unzählige Autos entlang der eisgeränderten Entwässerungsgräben aneinander, nicht nur mit Kennzeichen vom Kreis Nordfriesland, sondern auch aus Flensburg, Kiel, Hamburg, sogar Frankfurt. Wow. Offenbar war Mariettas Bucherfolg groß genug gewesen, um eine VIP-Beerdigung zu provozieren. Nach der dritten Runde stellte Kaja ihr Postauto auf dem Hof der Fahretofter Schmiede ab, deren Besitzer ihr das an diesem Nachmittag hoffentlich nicht übel nahmen, und machte sich mit Kalle zu Fuß auf den Weg, vorbei am Neubaugebiet, wo die Rains wohnten.

Vor der Kirchwarft drängelten sich vor allem weibliche Fans, alle in schwarzen Klamotten und unterschiedlichen Graden der Auflösung. Sie trugen winterblasse Blumen, grellbunte Plüschtiere und Karten, die sie aus Kopien von Mariettas Cover gebastelt hatten. Dazwischen entdeckte Kaja eine Handvoll Profifotografen.

Sie drehte sich auf dem Absatz um, aber Kalle hielt sie am Arm fest. „Von Beileidsbekundungen am Grab ist abzusehen“, murmelte er. „Das heißt, auf dem Friedhof wird’s ruhiger sein.“

Kaja versank bis zur Nasenspitze in ihrem Mantelkragen und ließ sich mitziehen. „Warum überhaupt so ein Theater? Frau Rain ist eine Dramaqueen, aber das …“

Kalle zuckte die Schultern und zischelte ein „Pst“.

Kaja stieß ihn unauffällig mit dem Ellenbogen in die Seite. „Pst mich nicht an. Ich werde mich schon benehmen.“

Ein paar Blicke folgten ihnen, während sie sich durch die Menge zum schwarzen Gittertor drängelten.

„Du siehst übrigens auch nicht nach Beerdigung aus, sondern mehr nach Goth-Konzert oder Vampir-LARP“, flüsterte Kaja.

Wieder hob Kalle nur die Schultern, aber seine Mundwinkel zuckten verdächtig.

Der Weg führte sie links zur Backsteinkirche hinauf. Dort, zwischen dem einzeln stehenden, hölzernen Glockenturm und der Seitentür, drängten sich die Dagebüller und Fahretofter, die auf den Trauergottesdienst verzichteten oder keinen Platz gefunden hatten, und starrten zu den Fremden hinüber. Fast trotzig, als müssten sie ihren Friedhof verteidigen. Kaja entdeckte David, einen ihrer Reitschüler, ein rotblonder Dreizehnjähriger mit Prinz-Eisenherz-Frisur, der noch auf seinen pubertären Wachstumsschub wartete. Er erwiderte ihr Nicken und wirkte, als hätte er sich lieber zu ihnen gesellt, blieb dann aber an der Seite seiner Eltern. Kaum kamen sie dazu, noch ein paar Bekannte zu grüßen, bevor die Glocke loslegte und jedes Gespräch unmöglich gemacht hätte, selbst wenn Kaja danach gewesen wäre. Sie schaute zu der Sonnenuhr aus rotem Sandstein auf, die über der Tür angebracht war und erstaunlich präzise zwei Uhr zeigte. Vor über zweihundertfünfzig Jahren war sie von Hans Momsen entworfen worden, der Bauer und Mathematiker, Instrumentenbauer und Autodidakt, den Storm angeblich als Vorbild für seinen Hauke Haien genommen hatte. Kaja drehte sich um und blickte über die Köpfe der Menge hinweg zur Warft gegenüber. Da stand Momsens Wohnhaus, ein Museum und Café, das nur am Wochenende geöffnet war. Schon wieder dieser verdammte Schimmelreiter! Zum Glück waren die Paparazzi nicht belesen genug, um auch noch dort herumzuturnen.

Die Glockenschläge dröhnten in Kajas Kopf und sie rieb sich über die Oberarme. Der braune Mantel war vielleicht gerade schicklich genug, aber auch zu leicht für den Winter.

Da öffnete sich das Portal und der Trauerzug kam heraus.

Der Sarg war weiß und schlicht, die Blumenbouquets dafür umso bombastischer. Nicht gerade umweltfreundlich, schoss es Kaja kurz durch den Kopf, aber der Gedanke verpuffte beim Anblick von Mariettas Eltern. Mit dem Würde-wahren war es bei Frau Rain vorbei. Sie hing am Arm ihres Mannes, dem ungehindert die Tränen über das zerfurchte Gesicht strömten. Nein, sie mochten noch so große Snobs sein, niemand hatte es verdient, so was durchzumachen.

Als Kaja die Gestalt erkannte, die wie ein Schlafwandler hinter den beiden her tapste, durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Sasha hatte vergessen, ihre Jacke zu schließen. Die rötlich getönten Locken hingen in ihr Gesicht, die Pausbacken waren blass, mehr konnte Kaja nicht ausmachen. Keine Spur mehr von dem Energiebündel, das sie noch vor einer Woche gewesen war.

„Die Arme“, sagte Kalle leise. „Vielleicht sollten wir ihr anbieten, gleich mit uns zu fahren?“

Kaja nickte.

Am liebsten wäre sie einfach hier stehen geblieben, aber die Menschen um sie herum drifteten der Prozession nach, also folgten sie im Kielwasser bis zum südlichen Ende, wo die moderneren Grabsteine standen. Die kahlen Äste der Bäume, die den Friedhof dort begrenzten, streckten ihre langen, dünnen Schattenfinger nach den Trauergästen aus.

Kajas Beine waren wie taub. Statt dem salbungsvollen Geschwafel des Pfarrers zuzuhören, beobachtete sie die Menschen, versuchte zu erraten, was sie dachten, was sie fühlten. Ein Mann unbestimmten Alters mit kantigem Gesicht, weißblonden, gefärbt aussehenden Haarsträhnen und einer auffälligen, schwarz geränderten Brille hatte sich bis in die erste Reihe vorgekämpft. Dort stand er mit gesenktem Kopf, eine einzelne weiße Rose in den gefalteten Händen. Kaja brauchte eine Weile, um darauf zu kommen, woher sie sein Gesicht kannte: Tile Eisenberg, Eigentümer des Meerschaum-Verlags, der Mariettas Bestseller herausgebracht hatte. Fast hätte man ihm seine Rolle abnehmen können, aber dann korrigierte er leicht seinen Stand, damit sein Gesicht wie zufällig für die Fotografen besser ausgeleuchtet und nicht von einem Ast überschattet wurde. Wahrscheinlich hatten Mariettas Eltern ihm dieses ganze Tamtam zu verdanken. Wenn er gleich vor dem Friedhof ein Interview gibt, schmeiß ich ihm Schafscheiße unter seine feinen Schuhe, schwor sich Kaja. Das war ein guter Gedanke, um sich abzulenken.

Beileidsbekundungen waren nicht erwünscht, aber Erde ins Grab werfen sollte „man“ trotzdem. Allein das hohle Klatschen, mit dem sie auf dem Sargdeckel landete, drückte auf Kajas Magen. Zum Glück war, bis sie an die Reihe kamen, genug Erde aufgehäuft, um das Geräusch zu dämpfen. Eine fremde Hand griff nach ihrer, und Kaja fuhr zusammen. Erkannte Herrn Rains Gesicht und verzichtete darauf, die Finger abzuschütteln.

„Danke, dass Sie sich um alles gekümmert haben mit …“, sagte er heiser. „Das hätten wir … nicht ausgehalten.“

Kaja drückte seine Hand und nickte Frau Rain zu. Ob die es sah oder nicht, war unmöglich zu sagen. Schnell ging sie weiter, Kalles beruhigende Präsenz direkt hinter sich. Zwischen den unzähligen schwarzen Schuhen lag ein kleines Kuschelherz am Boden, halb in den Schlamm getreten. Zu klischeehaft, wirklich. Kajas Hals wurde trotzdem eng.

Wenn sie vom Hof über die Außentreppe kam, fühlte sich der Gemeinschaftsraum wärmer an, als er war. Aber wenigstens sah sie nicht mehr ihren Atem. Kaja und Kalle hatten die Wände mit Dämmplatten gepflastert, um die Wärme aufzufangen, die vom Pferdestall heraufstieg. Dann war ihnen das Geld für eine Abdeckung ausgegangen. Jetzt war die braune Beschichtung großflächig bemalt mit kunterbunten pferdeähnlichen Kreaturen – ein Beitrag der jüngeren Reitschüler und Ferienkinder – oder diente als Pinnwand für Plotideen, Mindmaps und Charakterbeziehungen. Ihrem Versicherungsvertreter für Feuerschutz hätte das wahrscheinlich die Schweißperlen auf die Stirn getrieben, schließlich trennten nur ein paar Spanplatten den Raum vom Heuboden. Aber was der Mann nicht wusste, konnte ihn nicht heiß machen.

Kaja schlängelte sich zwischen Tischen und Stühlen hindurch, ein wildes Sammelsurium, das sie vom Sperrmüll herbeigeschafft und ebenfalls mit Farbe aufgepeppt hatten, und rückte die beiden Heizlüfter von Wand und Bücherregal ab, bevor sie sie an die Steckdose anschloss und einschaltete. Nur einen Moment, das waren verdammte Stromfresser. Später würden die Leute mit ihrer Körperwärme den Raum aufheizen, ansonsten konnten sie immer noch ins Wohnzimmer umziehen.

Als Kaja ein paar Zeitschriften und Anthologien ins Regal zurückräumte, hörte sie Schritte auf der Treppe. Sie kam gerade rechtzeitig, um Kalle mit der Getränkekiste und Sasha mit einer großen Platte frisch belegter Brote die Tür aufzuhalten. Die junge Frau bewegte sich immer noch wie jemand, dem ein außerirdischer Parasit jede Energie ausgesaugt hatte, aber ihr Blick war nicht mehr so stumpf und leer. Ob sie überhaupt schon geweint hatte?

„Danke, dass du hilfst, Sasha.“ Kaja deutete zum Tisch an der Seitenwand, direkt unter dem Zeitstrahl, der am Beispiel von Herr der Ringe zeigte, wie man parallel laufende Handlungsstränge planen konnte. „Da bauen wir das Büfett auf.“

Kalle stellte den Kasten ab und Kaja warf einen Blick hinein: Fruchtsäfte, Holunderblüten- und Mate-Limo. „Ich denke, wir brauchen dringend Alkohol.“

„Natürlich. Hole ich gleich. Wir müssen nur ein Auge drauf haben, je nachdem, wer alles kommt.“

Passenderweise war es Holli, die als Erste auftauchte, ‒ die Einzige aus der Autorenclique, die noch zwei Jahre warten musste, bis sie legal trinken durfte. Sie ließ ihr Fahrrad gegen die Stallwand fallen, ohne darauf zu achten, dass es sofort daran herunterrutschte und auf den Beton schepperte, und wischte sich mit behandschuhten Händen über die roten Augen. Kaja, die gerade eine Schüssel mit Apfel-Crumble über den Hof trug, umarmte Holli einarmig und schob sie vor sich her die Treppe hinauf.

Oben hatte Kalle seinen Laptop an die Lautsprecher angeschlossen und drehte Streetlight Manifesto auf. Schnell, fröhlich, mit viel Posaune und Saxophon und erstaunlich tiefsinnigen Texten übers Sterben. Da mussten die Pferde halt durch, wenn sie von der Weide kamen. Also jetzt, dachte Kaja und spähte durch die Dachluke in den tiefblauen Himmel hinauf.

Kalle kam herüber und nahm ihr die Schüssel ab. „Ich mach das, kümmer du dich um deine zweibeinigen Schützlinge“, flüsterte er ihr ins Ohr und verschwand schneller, als sie ihn schlagen konnte. Kaja verzichtete darauf, ihn zu verfolgen, denn gerade kam Roswitha herein. Die Sechsundsiebzigjährige trug einen altmodischen, schwarzen Rock und dicke Strümpfe, dazu einen absurden Schleierhut. Zum ersten Mal überhaupt sah sie wirklich alt aus. Sie warf den Hut auf den Tisch neben der Eingangstür, auf dem schon drei Mäntel lagen, und fuhr sich durch die kurzen, eisgrauen Haare.

„Was für eine verdüvelte Sache, so was darf einfach nicht passieren.“ Sie seufzte. „Die armen Eltern. Gerade erst habe ich die Erinnerung an meine schlimmste Sturmflut aufgeschrieben, Weihnachten 1954, die Erwachsenen so nervös, dass wir uns gar nicht auf unsere Geschenke konzentrieren konnten … Aber so schlimm war es eigentlich gar nicht, diesmal. Ach!“ Roswitha wischte sich kurz über die Augenwinkel. „Ich glaube, ich muss mein Projekt eine Weile liegen lassen, das wühlt mich zu sehr auf.“

„Darüber kannst du später nachdenken“, sagte Kaja und küsste die alte Dame spontan auf die kalte, nach Creme duftende Wange. „Willst du einen Glühwein?“

Immer mehr Leute trudelten ein, auch ein paar der Jugendlichen. Kaja zählte regelmäßig die Bierflaschen und sah weg, solange es nicht zu viele wurden, die fehlten. Alle waren etwas blass und wortkarg, wobei Kaja sich fragte, bei wie vielen es echte Trauer war oder einfach nur Schock, dass so etwas in ihrem kleinen Dorf passieren konnte. Jemandem, den sie kannten. Ob noch andere diese kleine Stimme im Hinterkopf hatten, die wiederholte, wie anstrengend Marietta gewesen war, dass sie selbst schuld gewesen war mit ihrer übertriebenen Hysterie? Das Leben geht weiter. Immer. Dieses eiskalte Miststück war sogar bei Oma Agathes Beerdigung dabei gewesen und Kaja schämte sich so für diese Stimme, dass sie nicht mal Kalle oder Vera jemals davon erzählen könnte.

Nemo, der Horrorautor der Schreibgruppe, war der Erste, der sein Bierglas erhob und einen Toast über die Musik hinwegrief. Seine marineblauen Haare blitzten verstrubbelt unter seinem Matrosen-Cap hervor. „Auf Marietta! Ich konnte ihren Schnulzkram nie leiden, aber sie ist nach ihrem Erfolg auch nicht mehr abgehoben als vorher. Und sie hat mir beigebracht, Küsse zu schreiben.“

„Auf Marietta!“, echoten die anderen und tranken, was auch immer gerade greifbar war. Kalle drehte die Lautstärke etwas runter, denn jetzt fingen die knapp dreißig Gäste an, Anekdoten auszutauschen, die Kaja zum größten Teil gar nicht kannte. Wie Marietta bei ihrem ersten Turnier im Schlamm gelandet war und sich ihre weiße Reithose ruiniert hatte, aber erst darüber schimpfte, nachdem ihr Pferd wieder sicher eingefangen war. Wie sie mit ihrem Verlagsvertrag sofort zum Hof gerast kam und fast mit ihrem Auto den Schuttcontainer gerammt hatte (die ersten paar Monate war Sturmwolke eine halbe Baustelle gewesen). Roswitha erinnerte sich an ein Schlaflied, das Marietta der nervösen Mira immer leise zur Beruhigung vorgesungen hatte, und brachte ein paar Leute zum Weinen, als sie es anstimmte.

Kaja ging zu Sasha, die sich in einer Ecke auf einem Stuhl zusammengekauert hatte, die Knie angezogen, sprach sie aber nicht an. Sie wollte nur in der Nähe sein, falls Mariettas Freundin Hilfe brauchte.

Die Tür öffnete sich, Kaja reckte den Kopf und erkannte das Gesicht, brauchte aber einen Moment, um es mit der neuen Frisur zusammenzubringen und diesem Ort …

„Nadine!“, rief Nemo, bevor Kajas Verarbeitungsprozess beendet war. Ein Raunen lief durch den Raum, dann drängten sich die Ersten vor, um die junge Frau zu umarmen. Kaja schloss sich an.

„Das ist lieb, dass du gekommen bist“, sagte sie und strich Nadine eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. „Sieht cool aus, so.“

Der Geist eines Lächelns huschte über Nadines schmales Gesicht. Ihre dunklen Augen waren rot gerändert. „Meine echte Haarfarbe.“

Und erheblich kürzer als früher. Im Nacken anrasiert, nur oben etwas länger. Nun, wenn man lange, blond gefärbte Haare loswerden wollte, musste man sich wohl was einfallen lassen. Kaja drückte Nadine noch einmal. Die Schultern fühlten sich hart und verkrampft an unter der Jacke, der Atem an Kajas Ohr war zittrig. Sie wusste nicht, was sie sagen könnte, um Nadine zu trösten. Marietta war tot, und es gab keine Möglichkeit mehr, sich mit ihr auszusöhnen, was auch immer damals den Bruch zwischen den beiden verursacht hatte. So gern Marietta sonst ihr ganzes Gefühlsleben vor der Welt ausgebreitet hatte, dazu hatte sie eisern geschwiegen. Selbst nachdem ihr „Twin“ die Schreibgruppe verlassen und ihren Wallach Pescado auf einem Hof im Binnenland untergestellt hatte.

Gerade als Kaja Platz für Roswitha machte, bemerkte sie, dass Sasha sich in Richtung Tür schlängelte – zitternde Lippen, gesenkter Kopf –, ohne auch nur einen Blick auf die zurückgekehrte Freundin zu werfen. Kaja holte sie ein und wühlte ihrer beider Mäntel aus dem Haufen. „Komm, wir schauen nach den Pferden.“

Der Wind hatte nach Osten gedreht und wehte eisig vom Land her über die Pferdeweide. Umso wärmer schlug ihnen die Stallluft entgegen, kaum dass Kaja das Tor einen Spalt aufgeschoben hatte. Unwillkürlich atmete sie tief ein. Dass manche Menschen diese Mischung aus Heu, Hafer und Pferdeschweiß als unangenehm empfanden, würde sie niemals begreifen. Selbst Pferdeäpfel waren die wohlriechendste Scheiße der ganzen Tierwelt.

„Komm, sonst gibt es Durchzug“, sagte sie zu Sasha.

Die junge Frau stolperte über die Schwelle. Im sanften Schein der Notbeleuchtung glitzerten Tränen auf ihren Wangen und zogen Spuren bis in den Kragen hinunter.

Endlich! Besser raus als rein.

Das sagte Kaja nicht, sondern schloss nur das Tor und schob ihre Reitschülerin Ares entgegen, der zur Begrüßung wieherte. „Achtung, der Kerl ist gerade etwas nervös. Ich hab den Verdacht, irgendwo in Schnupperweite ist eine Stute rossig. Nicht bei uns, zum Glück.“

Wahrscheinlich gingen bald wieder die Anfragen nach Samenspenden los. Dieses ganze Stammbaum-Gedöns war Kaja zwar aus Prinzip zuwider, aber es spülte dringend benötigtes Geld in die Kasse, einen reinrassigen Welsh Cob zu besitzen.

Der Hengst suchte sofort Sashas Mantel fordernd nach Leckerbissen ab. Schließlich nahm er den Saum ins Maul, wölbte den Hals und zog, dass die Nähte knirschten. Sasha stand nur da und tastete wie eine Blinde die Mähne des Pferdes ab.

Kaja übernahm es, Ares zu ermahnen. „Nein! Lass los!“ Bevor er nachgreifen konnte, drehte sie sein Maul zu sich herum. „Du wartest, bis du was kriegst. Verwöhnter Pascha!“

Aus der Abfohlbox beschwerte sich Precious, und Kaja dirigierte Sasha zu ihr hinüber. „Die Arme braucht etwas Trost, sie versteht nicht, warum sie allein stehen soll.“

Mehr als ein unterdrücktes Schluchzen brachte Sasha nicht heraus. Kaja öffnete die Boxentür und drängte Precious zurück, die prompt herauswollte. Kaum war Sasha in der Box, warf sie mit einem Wehlaut die Arme um den Hals der Stute und presste ihr Gesicht in die mit Stroh durchsetzte Mähne. Die Stute nickte einmal mit dem Kopf und trappelte hin und her, hielt dann aber still. Kaja steckte ihr hinter Sashas bebendem Rücken ein Leckerli zu.

Nach einer Weile trat sie neben Sasha und fuhr mit der Hand die Flanke der Stute entlang, dann über den unförmigen Bauch. Sie glaubte, einen kleinen Huf ertasten zu können. „Ich bin wirklich neugierig, was da rauskommt. Also, hoffentlich war’s nicht gerade ein Kaltblüter, der da über den Zaun gesprungen ist. Wo die Liebe hinfällt, schön und gut, aber das wäre ein ganz schöner Brocken für so ein kleines Pony. Würde mich aber auch nicht wundern, wenn diese verschusselten Leute nicht mal mitkriegen, dass die Stute, die sie verkaufen, trächtig ist.“ Sie stockte. „Na gut, und wir Schussel merken nicht, dass die Stute, die wir kaufen, trächtig ist. War noch sehr früh.“

Sasha kannte die Geschichte natürlich, jeder auf Hof Sturmwolke kannte sie: die große Überraschung. Kaja wollte ihr einfach Zeit geben, sich zu fassen. Deshalb plauderte sie weiter und lenkte Precious, deren Schweif zunehmend ungeduldiger hin und her peitschte, mit Futter ab.

Schließlich zog Sasha die Nase hoch und murmelte irgendwas in das graue Fell hinein.

„Hm?“

Sasha ließ Precious los, die sich sofort umdrehte und die beiden Menschen mit ihrem Hintern zur Seite drängte. Kaja rempelte mit der Schulter zurück, machte noch einen Schritt und hielt Sasha eine Packung Taschentücher hin.

„Danke“, krächzte die und wischte sich über Gesicht und Nase. „Hast du … hast du eigentlich mein Handy gefunden?“

„Dein Handy?“ Hatte Sasha es nach der letzten Stunde liegen lassen? Über eine Woche ohne Handy? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass jemand aus der Clique auch nur einen Tag ohne überleben konnte. Nicht mal Roswitha, die whatsappte täglich mit ihrem Enkel in Ravensburg.

Sasha zog die Schultern hoch. „In Miras Box?“

„In Miras …“ Kaja verstummte, als Sasha den Kopf hob und das feuchte Gesicht verzog. Sie breitete die Arme aus und Sasha flog geradezu hinein. Noch mehr Tränen, heiß und nass an Kajas Hals. Das war nicht allein wegen Mariettas Tod. Da war mehr.

Precious schwang sich wieder herum, reichlich ausladend, wie Kaja fand. Sie rempelte der Stute leicht gegen die Schulter, damit das Pferd nicht vergaß, auf die zweibeinigen Besucher in seiner Box Rücksicht zu nehmen.

Es dauerte noch eine Weile, bis der Strom versiegte. Von oben drang mittlerweile Nightwish herunter, wieder lauter gedreht.

„Soll ich nachschauen?“, fragte Kaja leise.

Sasha richtete sich auf und wischte sich die knallroten Augen. „… komme mit.“

„Musst du nicht.“

Die junge Frau zuckte nur mit den Schultern und schlurfte zur Boxentür. Kaja gab Precious ein letztes Apfelstückchen und schlüpfte hinterher.

Jeder Schritt auf dem Weg zur Box kostete Sasha sichtlich Kraft. Tatsächlich hatte Kaja noch nicht den Nerv aufgebracht, alles auszuräumen und sauberzumachen für einen potenziellen Nachmieter. Sie hatte nur zwei, drei der aufdringlichsten Haufen aufgesammelt.

„Wo liegt es denn?“, fragte Kaja, als sie vor der offenen Tür standen, mit Blick auf die Hügellandschaft mehr oder weniger plattgetretenen Strohs. Warum liegt es hier, wäre die treffendere Frage gewesen, aber die würde Sasha beantworten, wenn sie bereit dazu war.

Sie deutete in die hintere rechte Ecke. „Da irgendwo ist es hingeflogen.“

Kaja ließ die Mistgabel stehen. Falls das Display den Sturz und die Pferdehufe überlebt hatte, wollte sie nicht diejenige sein, die es zerkratzte. Sie tastete sich in ihren Winterschuhen vor und hob die erste Schicht Stroh ab. Im nächsten Moment hockte Sasha neben ihr und folgte ihrem Beispiel.

„Ich war hier. Montagabend“, wisperte sie.

Kaja stockte und warf Sasha einen Seitenblick zu. Die hielt den Kopf gesenkt, während sie weiterwühlte.

„Wir sind mit meinem Auto gekommen. Und dann … während M…Marietta geputzt hat … haben wir uns gestritten. Sie hat mein Handy hier hingefeuert. Und ich bin weggerannt. Ich wusste ja nicht, dass sie dann mit Mira …“ Tropfen fielen aus dem Vorhang rötlicher Haare ins Stroh. „Ich hätte es wissen müssen!“ Das war fast ein Aufschrei.

Kaja fasste nach Sashas Hand, doch die zog sie zurück. Warf sich die Haare mit einem Ruck nach hinten. Darunter kamen weit aufgerissene Augen zum Vorschein, in denen der pure Horror stand. Der Anblick krampfte Kaja den Magen zusammen.

„Sie war so aufgeregt. Ich hätte es wissen müssen, dass sie durchdreht. Ich … Alles nur wegen mir. Ohne mich wäre sie noch am Leben!“

„Blödsinn!“ Das kam rauer heraus als beabsichtigt, und Sasha zuckte zusammen. Kaja schüttelte den Kopf. „Egal, worüber ihr gestritten habt, da ist nie immer nur eine schuld, und du kannst nicht hellsehen.“ Marietta hatte es immer ausgenutzt, wie sehr die zwei Jahre jüngere Freundin sie anhimmelte. Es so gedreht, dass die alles für sie tat, und jetzt sogar die ganze Verantwortung auf sich nehmen wollte. „Da sind so viele Zufälle zusammengekommen. Wenn, dann hätte ich sie aufhalten müssen, draußen am Deich.“ Der letzte Satz rutschte einfach so raus, aber er fühlte sich erschreckend echt an.

Sasha schüttelte schon den Kopf, bevor Kaja zu Ende gesprochen hatte. „Ich hab angefangen, und ich hätte wissen sollen …“ Ein Schauder schüttelte ihren Körper.

Die Arme. Kaja konnte sich die Frage nicht mehr verkneifen. „Worüber habt ihr gestritten?“

Sasha presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg.

„Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst, aber …“ Kaja streifte ihren Arm. „Es quält dich so.“

Wieder entzogen die Haare ihr die Möglichkeit, Sashas Gesichtsausdruck zu deuten. Als die Antwort schließlich kam, war die Stimme sehr dünn. „Der Streit mit Nadine.“

Kaja wartete einen Moment, doch da kam keine weitere Erklärung. „Ich weiß nicht, worum es dabei ging.“

„Oh.“ Sasha wischte sich noch einmal über das Gesicht, ohne Kaja anzusehen. „Ich vergesse immer, dass du noch nicht so lange da bist. Die anderen wissen es.“

Über ihren Köpfen hatten die Gäste angefangen zu tanzen, dem dumpfen Stampfen nach.

„Marietta und Nadine haben schon in der Schule zusammen Geschichten geschrieben. ‚Wo das Meer das Land küsst‘ – die Idee war eigentlich von beiden. Die Figuren. Marietta hat es umgeschrieben, zurechtgefeilt, aber trotzdem.“

Verdammte Scheiße! „Und dann dem Verlag angeboten?“

Ein zögerliches Kopfschütteln. „Sie hat gefragt. Aber erst, als sie es schon losgeschickt hatte, auf diese Ausschreibung hin. Da konnte Nadine kaum noch Nein sagen. Dann kam die Zusage. Plötzlich der Erfolg, die Interviews …“

Allein der Gedanke, sehen zu müssen, wie jemand anderes, selbst eine Freundin, mit etwas absahnte, was zum Teil im eigenen Kopf entstanden war, mit dem eigenen Baby … Bewundernswert, dass Nadine öffentlich so konsequent dazu geschwiegen hatte.

„Ich meine, wir alle gönnen den anderen ihren Erfolg, oder?“ Sasha schniefte, aber ihre Stimme klang fester. „Als es aber jetzt um die Fortsetzung ging, hab ich ihr vorgeschlagen, Nadine als Co-Autorin zu nennen. Aber Marietta meinte, wie das denn vor dem Verlag aussieht und vor den Fans … Ich war so dumm, ich hätte mich raushalten sollen. Ich wollte nur … dass wir wieder alle drei Freundinnen sind, wie früher.“

„Ach, Süße!“ Kaja beugte sich vor und schlang ihre Arme um Sasha. „Das tut mir alles so leid. Aber was passiert ist, ist trotzdem nicht deine Schuld.“ Nun war klar, warum Marietta wie eine Furie den Deich entlanggerast war. Aber ihr Temperament war immer noch ihr Problem. Gewesen.

Sasha löste sich aus der Umarmung und nickte, wich Kajas Blick aus. Sie begann wieder, im Stroh zu wühlen.

Kaja unterdrückte ein Seufzen, sagte aber nichts weiter. Das brauchte einfach Zeit.

Kurze Zeit später stießen sie tatsächlich nahe der Boxenwand auf das Handy in der himmelblauen Schutzhülle mit dem glitzernden, Regenbogen furzenden Einhorn auf der Vorderseite. Das Display war heil geblieben, blieb aber dunkel, natürlich. Der Akku sei schon vorher schwach gewesen, sagte Sasha. Deshalb hatte Kaja es am Dienstagmorgen nicht mehr anklingeln können.

„Oben im Gemeinschaftsraum fliegt sicher ein Ladekabel rum“, sagte Kaja. „Oder willst du lieber nicht zurück?“

„Doch, es geht wieder.“ Sasha verzog den Mund zu einem wenig überzeugenden Lächeln. „Danke.“

Sie wuschen sich die Hände in dem kleinen Waschraum neben der Sattelkammer und stampften den gröbsten Schmutz von den Schuhen, bevor sie die Treppe erklommen. Die Menge hatte sich gelichtet, es waren nur noch die älteren Semester da. Erst jetzt ging Kaja auf, dass sie ein Gesicht vermisst hatte: Jesko war weder Hobbyautor noch interessierte er sich für Pferde, aber er hing ganz gern bei ihnen herum, um seinen Eltern zu entkommen. Vielleicht hatte Frau Nissen ihn an diesem Abend nach der Beerdigung mit zu Verwandten geschleppt.

Nemo tanzte für sich allein, die Augen geschlossen, die Arme weit ausgestreckt, eine Bierflasche in der Hand.

Nadine saß im Schneidersitz vor dem Bücherregal, ausgerechnet Mariettas Bestseller auf dem Schoß. Kajas erster Impuls war, zu ihr zu gehen und mit ihr über das zu reden, was sie gerade erfahren hatte. Aber wozu? Die ganze Runde hatte offenbar schon vor Monaten mehr oder weniger damit abgeschlossen. Wie viel wohl von Marietta in der Protagonistin Carolina steckte, der jungen Frau, die wenig enthusiastisch mit ihrer Studienfreundin den Job auf der einsamen Vogelinsel annahm? Nadine musste Marietta das Ankommen in der neuen Heimat sehr erleichtert haben, damals. Umso schlimmer …

Kaja wischte die Gedanken beiseite, angelte nach einem Ladekabel, das zusammengeknäuelt auf einem der höheren Bretter lag, und warf Nadine ein Lächeln zu. Roswitha rückte mit ihrem Stuhl bereitwillig zur Seite, der vor einer der Steckdosen stand.

Kaum hatte Sasha das Handy aktiviert und ihre PIN eingegeben, erschallte eine Kakophonie an verschiedensten Pfeiftönen, als sie offenbar tausende Nachrichten gleichzeitig angezeigt bekam.

Kaja spähte ihr über die Schulter. „Nichts kaputt, sehr gut.“

Sasha keuchte und ließ das Handy fallen, das drohte, von ihrem Schoß auf den Boden zu rutschen. Schnell streckte Kaja die Hand aus und hielt es auf.

Roswitha beugte sich näher zu Sasha. „Was ist los, mien Leev?“

Alle Farbe war aus dem Gesicht der jungen Frau gewichen. Mit zitternden Fingern tippte sie auf den Bildschirm, ohne Kaja das Handy aus der Hand zu nehmen. Mariettas Profilbild flammte in der grünen Leiste auf.

Eine Nachricht … Kajas Herz schlug schneller. Sie legte ihre andere Hand auf Sashas Schulter. Lass!, hätte sie am liebsten gesagt, aber sie konnte nicht wegschauen.

Ich kann nicht mehr. Das alles und jetzt du … Ich habe keine Kraft mehr. Es tut mir leid. Sei bitte für meine Eltern da. Lebwohl, Sasha-Pie.

Sturmflutnacht

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