Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Jeder Mord braucht einen Täter - Andreas Behm - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Am Dienstag, dem 22. Februar 2011, nachmittags, saß Hansen am Schreibtisch des kleinen Detektivbüros. Die im Aschenbecher abgelegte Zigarette rauchte ebenso wie Hansens Kopf, dem es nicht gelingen wollte, eine strukturierte Spesenabrechnung für die Versicherung zu erstellen. Er scheiterte schon an der Vorsortierung der Belege. Mit Umsatzsteuer, sieben oder neunzehn Prozent, ohne Umsatzsteuer nach Paragraph Dingsda des StGB … ach nee, das war ja das Strafgesetzbuch. Wie hieß nochmal das Buch mit den Steuergesetzen?
Er schenkte sich Kaffee nach.
Wird auch nicht helfen, dachte er. Für diese Aufgabe bräuchte ich was Stärkeres.
Jemand klopfte an die Bürotür. Wer konnte das sein? Die Detektei Hansen war bisher nirgendwo marketingtechnisch tätig, weder im Branchenverzeichnis (zu teuer), noch im Telefonbuch (zu neu) oder im Internet (keine Ahnung).
Find’s raus, dachte Hansen und rief: »Kommen Sie rein. Die Tür ist offen!«
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Hansen sah ein schmales Gesicht, halb verdeckt von einer großen Sonnenbrille mit fast schwarzen Gläsern, umrahmt von gewelltem, blondem Haar, das bis über die Schultern reichte. Rote Lippen mit perfektem Schwung fragten: »Herr Hansen?«
»Ja?«
»Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
Eine angenehme, leise Stimme.
Hansen stand auf, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und machte eine einladende Geste.
»Natürlich. Treten Sie ein.«
Die Frau schloss die Bürotür hinter sich. Sie trug einen hellbraunen Kamelhaarmantel mit großen Kragenaufschlägen und Lederhandschuhe. Lackstiefeletten in Rot, passend zur Farbe der Lippen, bewegten sich auf Hansen zu. Vier Schritte mit wiegender Hüfte, die auf jedem Laufsteg der Welt gut ausgesehen hätten, dann hatte sie seinen Schreibtisch erreicht. Er wollte ihr die Hand reichen, doch sie warf einen Blick auf den IKEA-Stuhl neben sich.
»Darf ich?«
»Bitte, nehmen Sie Platz.«
Sie setzte sich, mit kerzengerader Haltung und Abstand zur Lehne, die schlanken Beine ausgerichtet, die Knie aneinander liegend. Sie erinnerte ihn an irgendjemand. Mit dem Zeigefinger berührte sie den Steg ihrer Brille.
»Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Eine Bindehautentzündung, meine Augen sind derzeit sehr lichtempfindlich.«
Hansen zeigte Verständnis. Die tiefstehende Februarsonne schickte ihre Strahlen durch das einzige Fenster des Büros und erschwerte ihm nachmittags regelmäßig die Sicht auf den Monitor. Leider hatte er keine Vorhänge angebracht und eine Jalousie war nicht vorhanden.
Die Rauchschwaden der letzten Zigarette hingen wie Nebelfetzen zwischen ihm und seiner Besucherin, die nun Finger für Finger an ihren Handschuhen zupfte, um sie abzuziehen. Hansen ließ sich in seinen Chefsessel fallen.
Plötzlich wusste er, an wen ihn die Frau erinnerte.
Lauren Bacall, Humphrey Bogarts Ehefrau! In Hansens Kopf tauchten Schwarzweißbilder aus dem Film ›Tote schlafen fest‹ auf. Bogart spielte den Privatdetektiv Philip Marlowe, Lauren Bacall seine Klientin. Hansen schob die Bilder weg.
»Was kann ich für Sie tun, Frau …?«
»Aus Gründen der Diskretion bitte ich Sie, mich einfach Laura zu nennen.«
»Ja gut, ich bin Humphrey …, äh nein, Harry.«
Mein Gott, wie peinlich war das denn?
Mit einem Hauch von einem Lächeln nahm sie Hansen die Scham. »Sie sind doch diskret, Harry?«
»Solange ich dadurch nicht kriminell werde, ja«, antwortete er erleichtert.
»Das dürfte nicht der Fall sein. Es geht um meinen Mann.«
Hansen zögerte kurz, dann beschloss er, seinem Grundsatz treu zu bleiben. »Tut mir leid, ich befasse mich nicht mit Fällen von Ehebruch.«
Lauras Hände krampften sich um die Lederhandschuhe.
»In der Hinsicht mache ich mir keine Sorgen, Harry.«
Das zweite Fettnäpfchen. Weiter so, Harry!
»Verzeihung, ist auch kaum vorstellbar, dass ein Mann so blöd sein kann, Sie zu betrügen.«
Die großen, dunklen Brillengläser schauten ihn an. »Danke für das Kompliment.«
Gerade noch die Kurve gekriegt! Bleib in der Spur, Harry.
»Kaffee?«
»Gerne, schwarz bitte.«
Nachdem Hansen den Kaffee eingeschenkt hatte, erklärte Laura ihr Anliegen.
»Mein Mann ist ein toller Mensch, aufmerksam, zärtlich, verständnisvoll und gebildet. Er hat sogar Humor. Sein Wesen und meines ergänzen sich auf ideale Weise. Ein Leben ohne ihn möchte ich mir nicht vorstellen.«
»Das klingt beneidenswert. Wo ist das Problem?«
»Kennen Sie sich mit wahrer Liebe aus, Harry?« Sie hob Einhalt gebietend die Hand. »Sie müssen nicht antworten. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Zur wahren Liebe gehört meiner Ansicht nach auch, die Schwächen des Partners zu erkennen und bereit zu sein, sie zu akzeptieren. Wir sind ein ungleiches Paar. Mein Mann stammt aus einfachen Verhältnissen. Wir leben von dem Vermögen, das meine Familie erwirtschaftet hat. Kein Problem für mich, für meinen Mann leider schon. Er ist in einem Alter, in dem Männer gerne ihre Lebensmitte-Krise bekommen. Und aus seiner Sicht hat er keine persönlichen Erfolge, auf die er mit Stolz zurückblicken kann.«
Der Mann muss also Mitte vierzig sein, wie alt ist Laura?, fragte sich Hansen. Auf dem Teil des Gesichts, das er unterhalb der Sonnenbrille sehen konnte, fand er keine Falten. Und ein Halstuch verhinderte den Blick auf die darunter liegende Hautpartie.
»Er ist vertrauensselig und in geschäftlichen Belangen … sagen wir, unterdurchschnittlich begabt«, fuhr Laura fort. »Diese Kombination hat mich im vorigen Jahr fünfzigtausend Euro gekostet, weil er einem Betrüger aufgesessen ist. Den Verlust des Geldes kann ich verschmerzen, viel schwerer wiegt die Beschädigung des Selbstbewusstseins meines Mannes.«
Hansen nickte und griff zur Zigarettenschachtel.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Nein, wenn Sie ein wenig Frischluft hereinlassen.«
Hansen stellte das Fenster auf Kipp und zündete die Zigarette an. »Bitte, erzählen Sie weiter.«
»Vor einer Woche bat mich mein Mann um Hilfe bei der Finanzierung eines neuen Projekts, das angeblich hervorragende Renditen verspricht. Für den Einstieg benötigt er hundertzwanzigtausend Euro. Die Summe stellt für mich kein Problem dar.«
»Aber die Gefahr eines erneuten Scheiterns ihres Mannes«, warf Hansen ein.
Die roten Lippen nippten am Kaffee. »Ich sehe, Sie verstehen die Situation. Das ist für mich sehr wichtig.
Denn nur mit diesem Verständnis können Sie in angemessener Weise agieren.«
»Was soll ich tun?«
Sie senkte den Kopf. »Meine Sorge trieb mich dazu, im Büro meines Mannes zu … «
»Zu ermitteln«, half Hansen aus.
»Ermitteln, genau! Das ist das passende Wort. Im Kalender fand ich einen Termineintrag. Offenbar will sich mein Mann morgen mit seinen neuen Geschäftspartnern treffen, in einem Hotel in Ahrensburg.«
Sie reichte Hansen einen Zettel und ein Foto. »Hier ist die Adresse. Und so sieht mein Mann aus.«
Hansen betrachtete das Bild. Der gutaussehende Mann sah zehn Jahre jünger aus als Hansen vermutet hatte, ein bisschen zu jung für eine Lebens-mitte-Krise. Er trug sein dunkles Haar kurz mit Linksscheitel. Die braunen Augen hinter der Brille schauten seitlich an der Kamera vorbei.
Laura legte ihre Handflächen aneinander. »Bitte, es ist ungeheuer wichtig, dass mein Mann Sie nicht bemerkt. Sie sollen nur herausfinden, mit wem er sich trifft. Wer sind diese Leute? In welcher Branche sind sie tätig? Und vor allem, sind sie seriös? Ich möchte keinesfalls, dass Sie meinen Mann über dieses Treffen hinaus beschatten oder Nachforschungen über ihn anstellen. Habe ich mich klar ausgedrückt? Kriegen Sie das hin?«
»Natürlich. Ihr Mann wird mich nicht bemerken. Zu wann brauchen Sie die Ergebnisse?«
»Spätestens in drei Tagen muss ich Bescheid wissen. Ich kann meinen Mann bezüglich des Geldes nicht ewig hinhalten.«
»Apropos Geld. Sie haben nicht nach meinem Honorar gefragt.«
Laura taxierte die Büroeinrichtung. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Forderung meinen finanziellen Rahmen sprengen könnte. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Sie fischte einen Briefumschlag aus ihrer Handtasche und reichte ihn Hansen. Der Ex-Kommissar klappte die unverklebte Lasche auf und sah zwei Fünfhunderteuroscheine.
»Ich nehme an, das genügt fürs Erste«, sagte die blonde Schönheit. »Für gute Informationen gibt es am Ende eine großzügige Erfolgsprämie.«
»Wie kann ich Kontakt zu Ihnen aufnehmen?«
»Gar nicht. Ich melde mich bei Ihnen.«
Sie stand auf und streckte die Hand aus, im Gelenk leicht abgeknickt, als erwarte sie einen Handkuss. Hansen griff vorsichtig zu. Ihr Händedruck war so flüchtig wie dezentes Parfüm.
Laura Unbekannt ging und ließ einen verwirrten Hansen zurück. Sie hatte einen zwiespältigen Eindruck bei ihm hinterlassen. Anfangs zurückhaltend, mit leiser Stimme und schüchterner Gestik, hatte sich im Laufe des Gesprächs zunehmend die selbstbewusste Geschäftsfrau gezeigt, gepaart mit Standesdünkeln bis hin zur Arroganz. Sie hatte ihn ebenso fasziniert wie abgestoßen. Warum bloß hatte er den Auftrag angenommen? Er kannte die Antwort. Ihre brüchige Persönlichkeit hatte seine Neugier geweckt.
Den Vormittag des nächsten Tages ging Hansen in Ruhe an.
Nadja hatte einen freien Tag und konnte sich um Mareike kümmern. Hansen schlief bis 9 Uhr, genoss ein üppiges Frühstück und überprüfte seine neue Kamera. Der Analog-Mensch hatte sich für seine detektivische Tätigkeit von seinem ehemaligen Kollegen Thomas Bernstein die Grundkenntnisse der digitalen Fotografie beibringen lassen. Er kannte nun sogar den Unterschied zwischen optischem und digitalem Zoom und war beeindruckt von den Fähigkeiten des kompakten Geräts.
Zur Sicherheit machte er sich noch einmal mit den Funktionen vertraut und schoss ein paar Probefotos von Nadja. Bei Observierungen sollte man nicht erst die Bedienungsanleitung lesen müssen, bevor man Fotos machte.
Um 11 Uhr fuhr er los. Lauras Mann sollte um 12 Uhr am Hotel in Ahrensburg eintreffen. Für die Fahrt in die knapp zwanzig Kilometer von der Wohnung in Hamburg-Bramfeld entfernte Stadt rechnete er mit einer Fahrzeit von 35 Minuten, ein ausreichendes Sicherheitspolster war somit vorhanden.
Ahrensburg grenzte an die nordöstlichen Hamburger Stadtteile Volksdorf und Meiendorf. Mit mehr als dreißigtausend Einwohnern war sie die größte Stadt des Kreises Stormarn.
Das Park Hotel Ahrensburg war leicht zu finden. Hansen folgte der Bundesstraße 75, bis er auf der linken Seite das Wahrzeichen der Stadt, das Ahrensburger Schloss sah. Zwischen Schlosspark und Bundesstraße gab es einen Streifen mit Parkplätzen. Hansen stellte seinen Wagen ab und hatte vom Fahrersitz aus freien Blick auf die Einfahrt des Hotels auf der anderen Seite der Straße. Er schaute auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Termin, Zeit genug, sich umzusehen.
Er stieg aus und betrachtete das weiße Schloss. Das von einem Wassergraben umgebene Gebäude aus dem 16. Jahrhundert war eigentlich ein Herrenhaus, wurde aber seit Ewigkeiten als Schloss bezeichnet. Es war fast quadratisch und bestand aus drei nebeneinander liegenden Langhäusern mit verschnörkelten Giebeln und schlanken Türmen an den Ecken. Die Wintersonne spiegelte sich in den hohen Sprossenfenstern und ließ die weißen Wände strahlen. Für eine Minute, dann verschwand das freundliche Licht hinter einer grauen Wolkenwand.
Hansen überquerte die Straße und inspizierte vom Gehweg aus den Vorplatz des Park Hotels. Der hoteleigene Parkplatz hatte etwa zwanzig Stellplätze. Die hintere Hälfte war durch Schranken abgetrennt. Eine kurze Rampe führte zum Eingang, der einen halben Meter höher als der Parkplatz lag. Ein paar Kübel mit immergrünen Pflanzen versuchten erfolglos, gegen das Wintergrau anzukämpfen. Weiße Fassade, glänzendes Messing umrahmte den Eingang. Ein großzügig verglaster Vorbau gewährte Einblick in das angeschlossene Restaurant.
Hansen sah keine Möglichkeit, sich zu verstecken, um unauffällig den Eingang beobachten zu können. Dann entdeckte er den Kastenwagen eines Handwerkers am Rande des Platzes. Hinter dem konnte er sich verbergen, solange der Handwerker nicht auftauchte. Hansen ging zügig auf den Wagen zu als wäre es sein eigener. Drei schnelle Schritte von der Fahrertür zum Heck, schon war er in Deckung. Eine mannshohe Hecke schützte ihn vor Blicken von der Straße aus. Er lugte um die Ecke. Die gläserne Drehtür des Eingangs bewegte sich. Drei Männer mit südländischem Aussehen betraten den Vorplatz. Der erste war mittelgroß, schlank und hatte kurzes, braunes Haar mit akkuratem Linksscheitel. Die beiden anderen sahen aus wie Brüder, klein, korpulent, mit lockigen schwarzen Haaren. Ihre runden Gesichter mit den breiten Nasen erinnerten Hansen an den argentinischen Fußballspieler Diego Maradona. Er war zwar kein Fan des Fußballsports, aber Maradona gehörte zu den drei Spielern, die er kannte – neben Franz Beckenbauer und Uwe Seeler.
Die korpulenten Männer zündeten sich Zigaretten an. Der schlanke Mann rauchte nicht. Er redete viel und gestikulierte dabei lebhaft mit beiden Armen. Seine Zuhörer standen breitbeinig mit verschränkten Armen vor ihm und wirkten wie Chefs, die sich die immer gleichen Ausreden eines Angestellten anhören mussten.
Ein schwarzer Audi A8 fuhr die Rampe hinauf. Aus dem Fond des Wagens stieg ein dunkelhaariger, hochgewachsener Brillenträger. Konnte das Lauras Ehemann sein?
Hansen schaute auf seine Armbanduhr. Fünf Minuten vor Zwölf, im doppelten Sinn. Er war schlecht vorbereitet. Hastig suchte er in der Tasche seiner Winterjacke nach der Lesebrille, setzte sie auf, öffnete die Jacke und zog die darunter verborgene, mit einem Band um seinen Hals gehängte Kamera hervor.
Der Brillenträger begrüßte die drei Südländer. Hansen schaltete die Kamera ein.
Noch nicht reingehen!, flehte er.
Er fand den Schieberegler für den Zoom und betätigte ihn, bis die Gesichter der vier Männer den Bildausschnitt füllten. Er schaffte es, drei Mal auf den Auslöser zu drücken, bevor ihm die Objekte seiner Begierde die Rücken zudrehten und im Hotel verschwanden. Mit dem vierten Foto erwischte er den Audi, der gewendet hatte und nun über die Rampe wegfuhr.
Hansen atmete auf. Beinahe hätte er es vermasselt. Vielleicht konnte er im Hotel mehr über die drei Männer erfahren. Das ›wie‹ war noch ungeklärt. Zeit für einen Kaffee in der Lobby, befand er, versteckte die Kamera unter der Jacke und machte sich auf den Weg. Den Mann im geparkten VW Passat, der ihn fotografierte, bemerkte er nicht.
Der Gestalter der Lobby hatte eine Vorliebe für Rundungen.
Hinter dem aus Hansens Sicht konkav geformten Empfangstresen saß eine Blondine mit Pferdeschwanzfrisur. Hansen spielte den hilflosen Touristen.
»Guten Tag«, sagte er. »Ich bin seit zwei Stunden zu Fuß in der Kälte unterwegs und hatte gehofft, in Ihrem Restaurant einen heißen Kaffee genießen zu können. Leider sehe ich, dass es um diese Uhrzeit geschlossen ist. Ist es möglich, hier in der Lobby ein heißes Getränk zu bekommen?«
Die Blondine musterte ihn mit prüfendem Blick, dann lächelte sie. »Ich denke, das lässt sich einrichten. Nehmen Sie bitte im Kaffeebereich Platz. Eine Kollegin kommt sofort zu Ihnen.«
Sie zeigte auf einen Bereich mit Stühlen und Tischen hinter einem bogenförmigen Holzgitter. Die runden Formen setzten sich überall fort. Raumteiler, Treppenstufen, Geländer, Sessel und Bartresen huldigten der Magie des Kreises.
Hansen bedankte sich, ging mit scheinbar müden Schritten auf die Tische zu und entdeckte seine Zielpersonen. Die Vierergruppe saß in Cocktailsesseln an zwei kleinen Tischen an der Fensterfront. Sie hatten Kaffeekannen und Tassen vor sich stehen. Im Vorbeigehen hörte Hansen Wortfetzen, die spanisch klangen. Der schlanke Südländer schien als Dolmetscher zwischen Lauras Mann und den zwei Maradonas zu fungieren.
Hansen setzte sich ein paar Meter entfernt an einen freien Tisch und bestellte bei der Bedienung ein Kännchen Kaffee. Er nahm sich eine der bereitliegenden Zeitungen und versuchte, möglichst desinteressiert an seiner Umgebung auszusehen.
Verborgen hinter der Zeitung, dachte er darüber nach, wie er an die Namen der Südländer kommen könnte. Früher hätte er am Empfang seinen Polizeiausweis gezeigt und mit hoher Wahrscheinlichkeit die gewünschten Auskünfte erhalten. Verweigert wurden diese meist nur in besonders teuren oder besonders billigen Hotels. Die Visitenkarte eines Privatdetektivs würde wenig Eindruck machen, zumal er gar keine Visitenkarten besaß.
Die sich in Bewegung setzende automatische Drehtür kündigte einen neuen Gast an. Hansen lugte an seiner Zeitung vorbei.
Er sah eine glänzende Halbglatze mit silbergrauem Haarkranz in einem dunkelblauen Trenchcoat.
Der Mann kam ihm bekannt vor, doch der Name fiel ihm nicht ein. Dann wurde ihm bewusst, dass der Typ ihn auch wiedererkennen könnte und er zog schnell die Zeitung vor das Gesicht.
Die vier Herren standen auf und begrüßten den Neuankömmling. Die Gruppe schlenderte durch die Lobby und verschwand in einem Konferenzraum. Die Szene wirkte wie ein ganz normales Treffen von Geschäftspartnern, wenn man davon absah, dass Lauras Mann einen angespannten Eindruck machte und die Kleidung der wie Brüder aussehenden Männer – Flanellhemden und Jeans – nicht dem üblichen Standard entsprach.
Hansen entdeckte eine Schlüsselkarte auf dem verlassenen Tisch, an der ein kleines Schild mit der Zimmernummer hing. Er blickte sich um. Die Frau am Empfang schaute konzentriert auf ihren Monitor. Er näherte sich dem Tisch, streckte die Hand nach der Karte aus und hörte Schritte hinter sich. ›220‹ las er auf dem Anhänger, nahm die Karte und drehte sich um.
»Ah, gut, dass Sie kommen«, sagte er zu der Kellnerin, die den Tisch abräumen wollte. »Einer Ihrer Gäste hat seine Schlüsselkarte liegen lassen. Ich wollte sie gerade am Empfang abgeben.«
Ihr Misstrauen war unübersehbar. »Danke, ich kümmere mich darum. Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte sie.
»Ich möchte zahlen.«
Sein großzügiges Trinkgeld besänftigte sie nicht. Hansen schnappte sich am Tresen einen Flyer des Hotels und spazierte gemächlich zu seinem Auto.
Hinter einem großen Lüftungsschacht neben der Einfahrt zur Tiefgarage standen zwei Männer in knielangen, grauen Mänteln. Sie nickten einander zu. Der eine folgte Hansen, der andere ließ den Fahrer des Passat nicht aus den Augen.
Der Ex-Kommissar versuchte es mit einem simplen Trick. Er holte sein Handy heraus und wählte die Nummer des Hotels.
Die Stimme der Blondine ratterte die übliche Begrüßungsformel herunter und fragte nach seinem Anliegen.
»Zimmer 220, bitte.«
»Einen Moment.« Warten. »Herr Ramirez ist leider momentan nicht auf seinem Zimmer. Soll ich es bei seinem Bruder versuchen? Ach, jetzt fällt es mir ein. Die Herren befinden sich in einem unserer Konferenzräume. Ich könnte Sie dorthin durchstellen.«
»Nicht nötig, ich melde mich später wieder.«
Hansen trennte die Verbindung. Er hatte einen Namen. Da er zurzeit keinen Sinn darin sah, weiterhin das Hotel zu beobachten und außerdem Hunger verspürte, beschloss er, eine Mittagspause einzulegen.
Nach zehn Minuten Fußmarsch erreichte er die Innenstadt von Ahrensburg. Bei einem Schlachter am Rondeel, der Mittagsgerichte anbot, aß er einen Erbseneintopf mit Wursteinlage. Mit einem Coffee-to-go vom Bäcker gegenüber machte er sich auf den Rückweg, diskret begleitet von einem Mann in einem langen, grauen Mantel. Hansen setzte sich in seinen Opel Astra und rauchte eine Zigarette.
Eine Stunde lang passierte nichts. Ein Telefonat mit Nadja war die einzige Abwechslung während der öden Warterei. Dann fuhr ein schwarzer Mercedes der S-Klasse vor den Hoteleingang. Die Brüder Ramirez stiegen in den Fond, der dritte Mann nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Hansen startete den Motor und folgte der Luxus-Limousine. Ein silberner Mercedes folgte ihm.
Der Fahrer des VW Passat legte seine Profi-Kamera beiseite. Er hatte für heute genug gesehen und viele gute Fotos geschossen. Er freute sich auf Kaffee und Kuchen bei Muttern.
Die Fahrt führte nach Hamburg-Poppenbüttel, in das Alstertaler Einkaufszentrum. Die Shopping-Tour der Brüder begann beim Juwelier und wurde beim edlen Herrenausstatter fortgesetzt. Der dritte Mann diente als Dolmetscher und Tütenträger. Es ging weiter zu zwei Boutiquen, drei Schuhgeschäften, einer Parfümerie und endete im Apple-Store. Den Brüdern Ramirez schien es an Geld nicht zu mangeln. Hansens Füße schmerzten. Die seltenen Einkaufstouren mit Nadja waren ein Scherz gegen das hier.
Endlich trat der Trupp den Rückweg an.
Nach vier Stunden nutzloser Verfolgung saß Hansen frustriert in seinem Auto auf dem Parkplatz vor dem Ahrensburger Schloss. Er dachte an den Fall der Brandstiftung und den Obdachlosen. Am Ende hatte es sich ausgezahlt, drei Nächte lang frierend im Auto zu hocken.
Er redete sich Mut zu und widerstand der Versuchung, nach Hause zu fahren.
Um 19 Uhr schlenderten drei südländische Gestalten an ihm vorbei Richtung Innenstadt. Hansen raffte sich auf und folgte ihnen. Sie landeten im ›Berlin Milljöh‹, einer urigen Mischung aus Kneipe und Restaurant, eingerichtet im Stil der zwanziger Jahre. Dunkles Holz dominierte den großen Raum. Tische und Stühle standen zum Teil auf verschieden hohen Podesten, von hölzernen Geländern umrahmt. Die Wände waren halbhoch holzvertäfelt, darüber und an der Decke zeigte sich eine Farbe, die zwischen sonnengelb und nikotinvergilbt changierte. Hansen setzte sich auf einen Hocker am Tresen und bestellte ein alkoholfreies Bier. Er beobachtete die Brüder und ihren Begleiter. Sie bestellten Essen, große Biere und eine Flasche Tequila. Der Abend war gelaufen. Neue Erkenntnisse waren hier nicht zu gewinnen. Hansen trank hastig sein Bier aus und ging.
Am Auto angelangt, beschloss er, noch nicht nach Hause zu fahren. Er brauchte Ruhe zum Nachdenken.
Im Büro holte er eine Flasche Flensburger aus dem Kühlschrank und erfreute sich an dem satten Plopp beim Öffnen des Bügelverschlusses. Er plumpste in den Chefsessel, zog die Stiefel aus und stöhnte. Während er das Bier genoss, sortierte er die Kostenbelege des Tages und lud die Bilder, die er vor dem Hotel geknipst hatte, auf den PC.
Die Gesichter der Personen waren gut zu erkennen. Das Foto des Audis hingegen war ihm nicht gelungen. Er hatte im falschen Moment auf den Auslöser gedrückt. Ein nicht sichtbares Nummernschild und ein Fahrer, den man wegen Spiegelungen der Windschutzscheibe nicht identifizieren konnte – keine Meisterleistung! Das Foto passte zur Tagesbilanz. Zehn Stunden Arbeit und was hatte der grandiose Ex-Kommissar Hansen erreicht? Fast nichts.
Er hatte ein paar Gesichter und einen Namen, Ramirez. Der war in spanischsprechenden Gebieten wahrscheinlich so selten wie Schmidt oder Schulze in Deutschland. Er wusste weder woher die Männer kamen, noch welchen Geschäften sie nachgingen. Die stundenlange Beschattung hatte nur eine Erkenntnis eingebracht: Die Brüder Ramirez waren keine armen Schlucker. Sein einziger Hoffnungsschimmer war nutzlos, solange ihm nicht einfiel, woher er den Mann im blauen Trenchcoat kannte.
Dem Hauptkommissar Hansen standen die Ressourcen und Berechtigungen der Polizei zur Verfügung, wie zum Beispiel POLAS, das PolizeiAuskunftssystem.
Der Versicherungsdetektiv Hansen konnte sich immerhin als Mitarbeiter der Firma ausweisen und einem Auftrag folgend offen auftreten und Fragen stellen.
Der Privatdetektiv Hansen verfügte über kein berechtigtes Interesse an irgendwas. Niemand musste ihm Auskunft erteilen. Lauras Bedingung, ihr Mann dürfe von den Nachforschungen nichts erfahren, machte die Aufgabe nicht leichter. Hansen musste zugeben, dass ihm seine Erfahrung als Polizist wenig nützte, wenn er verdeckt und ohne Amt ermitteln sollte.
Wie machte der Matula im Fernsehen das? Der bändelte mit Zimmermädchen oder Kellnerinnen an. Der bezahlte für Informationen. Der brach in Büros und Hotelzimmer ein. Methoden, die Hansen weder beherrschte noch anwenden wollte.
Hansen verfluchte sich selbst dafür, den Auftrag von Laura angenommen zu haben. Und er fragte sich, ob die Entscheidung, Privatdetektiv zu werden, die richtige gewesen war.
Einen Versuch würde er noch starten, morgen. Wenn der kein Ergebnis brachte, würde er den Auftrag samt Vorauszahlung zurückgeben.