Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Jeder Mord braucht einen Täter - Andreas Behm - Страница 8

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Kapitel 3

Am Donnerstag, dem 24. Februar 2011 um 10:10 Uhr stand Harald Hansen am Tresen des ›Berliner Milljöh‹ und freute sich über sein Glück. Der junge Mann hinter dem Tresen mit dunklen Bartstoppeln, der die Arbeitsfläche putzte, hatte ihn auch am Abend zuvor bedient.

Hansen versuchte sich in unverfänglicher Konversation.

»Moin. Schon wieder im Dienst?«

»Moin. Ja, geht nicht anders. Die Hälfte der Belegschaft liegt mit Grippe im Bett. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich nehme das Frühstück ›Faulpelz‹, auch wenn der Name nicht zu mir passt.«

Der junge Mann quittierte Hansens Scherz mit einem wohlwollenden Lächeln, er hatte ihn wohl schon öfter gehört.

»Kaffee, Tee oder Schokolade?«

»Kaffee.«

»Kommt sofort.«

Hansen wählte einen Stehtisch direkt vor dem Tresen, der den Pfosten einer alten Gaslaterne umschloss, wie sie vor achtzig oder neunzig Jahren an Berlins Straßen zu finden waren. Eine Energiesparlampe in der Laterne spendete Licht. Außer Hansen und der Bedienung waren zu der frühen Stunde nur zwei weitere Gäste anwesend.

Drei Minuten später bekam er sein Frühstück.

»Ich hätte da mal eine Frage«, begann Hansen sein Vorhaben.

»Ja?«

»Gestern Abend hatten Sie drei ausländische Gäste, ich tippe mal auf Spanier oder Südamerikaner, die gleich zu Anfang eine Flasche Tequila bestellten.«

»Ja. Und?«

»Die sind bestimmt länger hier gewesen, oder?«

»Kann schon sein. Aber was geht Sie das an?«

Hansen hatte befürchtet, dass seine Fragen auf Ablehnung stoßen würden und sich deshalb eine Geschichte ausgedacht.

»Sie haben Recht, Entschuldigung. Ich habe mich ja noch nicht mal vorgestellt. Harry Hansen, ich bin Privatdetektiv. Wie darf ich Sie ansprechen?«

Der Tresenmann schaute skeptisch und antwortete dennoch:

»Sie können Lars zu mir sagen. Worum geht es denn?«

»Um einen möglichen Versicherungsbetrug in großem Ausmaß. Eigentlich darf ich dazu nichts sagen. Nur so viel, da werden mit einer raffinierten Masche alte Leute dazu gebracht, ihre Versicherung zu betrügen. Das Geld landet am Ende bei einer gut organisierten Bande und die unwissenden alten Menschen stehen als Versicherungsbetrüger da. Auf die kommen nun erhebliche Schadenersatzforderungen zu. Einige der Betrogenen haben sich zusammengetan und mich engagiert, um die Täter ausfindig zu machen.«

Hansen hatte keine Ahnung, wie diese Masche angeblich funktionieren sollte. Das war auch nicht nötig. Die Fragmente der Geschichte reichten aus, um die Auskunftsbereitschaft von Lars zu wecken.

»Aha! Und was haben die drei Gäste damit zu tun?«

»Ich glaube, das sind die Hintermänner, die das Startkapital für die Aktion geliefert haben und einen Großteil des Profits einstreichen.«

Da Hansen keine Antworten auf weitere Fragen parat hatte, fügte er hinzu: »Mehr darf ich dazu wirklich nicht sagen.«

»Okay, was wollen Sie wissen?«

»Die drei haben ja gestern ordentlich getankt. Vielleicht wurden sie leichtsinnig und haben was erzählt. Konnten Sie von den Gesprächen etwas aufschnappen?«

»Nee, die sprachen untereinander Spanisch. Ich kann nur ein paar Brocken, die ich im Urlaub gelernt habe. Der eine, der Schlanke, konnte Deutsch sprechen. Der hat immer die Bestellungen aufgegeben. Und am Ende, so kurz vor Mitternacht, wollten die mir unbedingt einen ausgeben.

Da haben wir ein paar Minuten geklönt, mit dem Schlanken als Übersetzer. Sie sagten, sie kämen aus Kolumbien, aus einer Hafenstadt namens Turbo. Komischer Name.«

»Interessant. Und was noch?«

»Nicht viel. Ich fragte, ob sie hier Urlaub machen. Sie haben ›Business, Business‹ geantwortet.«

»Hmm, keine Andeutung, um welches Business es sich handelt?«

»Sie sagten, sie hätten mit Schifffahrt zu tun. Mehr weiß ich leider nicht.«

»Vielen Dank. Sie haben mir geholfen.«

»Keine Ursache. Solchen Leuten muss das Handwerk gelegt werden.«

Auf dem Weg zu seinem Auto stellte Hansen sich eine Szene mit Laura in seinem Büro vor. Er hatte fünf von hundert Teilen eines Puzzles in der Hand und sie forderte:

»Beschreiben Sie mir das Bild.«

Dieser Fall nagte beständig an seinem Selbstbewusstsein.

Das Handy klingelte. ›Home‹ stand auf dem Display.

»Nadja, was gibt’s?«, fragte er arglos.

»Mareike ist mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Bist du weit weg?«

»Oh je. Ich bin in Ahrensburg. Aber ich kann sofort losfahren.«

»Das dauert mir zu lange. Ich rufe ein Taxi und bringe sie ins AK Barmbek. Kommst du nach?«

»Natürlich. Gib ihr einen Kuss von mir. Ich beeile mich.«

Trotz seiner Sorge um Mareike war Hansen ein wenig froh.

Er hatte nun einen triftigen Grund, sich nicht mehr mit dem Fall Laura beschäftigen zu müssen.

Der Unfallchirurg betrachtete die Röntgenaufnahme und gab Entwarnung. Es sei ein glatter Bruch, der gut verheilen werde. Ein paar Wochen Gips und alles sei in Ordnung.

Mareike war mit der Entdramatisierung des Geschehens nicht einverstanden. Die Aussicht auf eine Lieblingspizza und einen Disney-Film besserte ihre Laune kaum. Aber Harry hatte eine Idee. Er fuhr zur nächsten Revierwache und überredete den Beamten am Tresen, Mareike einen Stempel der Dienststelle auf den Gips zu drücken.

»Das ist sowas wie eine Tapferkeitsmedaille«, erklärte er dem Kind. Mit einer strahlenden Heldin auf dem Rücksitz fuhren Nadja und Harry heim.

Nach dem Abendbrot verabschiedete Hansen sich von seiner Lebensgefährtin und der Heldin mit Gips, um zu seinem Büro nach Hammerbrook zu fahren. Er wollte die kargen Ergebnisse seiner Recherchen in einem Bericht zusammenfassen und die Fotos dazu auf eine CD brennen. Wenn Laura sich bei ihm meldete, würde er ihr das Material übergeben und ihr erklären, dass er an dem Fall leider nicht weiterarbeiten könnte, weil … Die Ausrede musste er noch finden.

Der Bericht wurde trotz aller Ausschmückungen, die Hansen einbaute, nur zwei Seiten lang. Die Arbeit eines Stümpers.

Lag es daran, dass er von vornherein kein Interesse an dem Auftrag gehabt hatte? Ohne Lauras merkwürdige Aura hätte er ihn nicht angenommen.

Oder wurde er doch berufsmüde? Stundenlang im Auto sitzen, frieren und darauf warten, dass etwas passierte. Er konnte sich angenehmere Tätigkeiten vorstellen, um den Tag zu füllen.

Er ging zum Kühlschrank, holte sich ein Flensburger und öffnete den Bügelverschluss. Das Plopp fiel leiser als gewöhnlich aus, aber Hansen bemerkte es nicht. Seine Gedanken kreisten um die eigene Zukunft. Er setzte sich an den Schreibtisch, zündete eine Zigarette an und nahm einen großen Schluck aus der Flasche.

Während er rauchte und trank, las er den eigenen Bericht noch einmal. Auf der ersten Seite fand er zwei Tippfehler.

Auf der zweiten Seite verschwammen die Buchstaben. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und beugte sich vor, um näher an den Monitor zu kommen. Brauchte er eine stärkere Lesebrille? Die Zeichen blieben undeutlich. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Jetzt schlingerten die Zeilen wie sanfte Meereswellen. Der Monitor schwankte. Der Boden unter seinen Füßen bewegte sich. Eine kleine Kreislaufschwäche?

Hansen schob die Tastatur beiseite, legte die verschränkten Unterarme auf den Schreibtisch und bettete seinen Kopf darauf. Das Büro drehte sich um ihn herum. Er schloss die Augen. Einen Augenblick nur, dann würde es ihm besser gehen. Gedankenabriss.

Das dumpfe Pochen in seinem Kopf mischte sich mit unverständlichen Worten. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Bleischwere Lider stemmten sich gegen die Willenskraft. Endlich schaffte er es. Kein Licht im Büro, der schwache Schein einer Straßenlaterne sorgte jedoch dafür, dass Hansen wenigstens die Umrisse der Büroeinrichtung erkennen konnte. Die Stimme wurde lauter. Jetzt verstand er das Rufen.

»Polizei! Öffnen Sie sofort die Tür, Herr Hansen.«

Seine Zunge klebte am Gaumen, widerspenstig wie die Augenlider. Der Mund war staubtrocken.

»Moment«, krächzte Hansen. Seine Finger fanden den Schalter der Schreibtischlampe. Er stützte sich an der Tischkante ab, erhob sich aus dem Stuhl, umrundete mit unsicheren Schritten den Tisch und stolperte über einen Gegenstand auf dem Boden. Er kippte vornüber, machte einen Ausfallschritt, um sich abzufangen, strauchelte und knallte mit der Hüfte gegen den Küchentresen. Er blickte auf den Teppich und sah die Ursache für sein Stolpern. Ein schlichter, schwarzer, halbhoher Winterstiefel stand am Schreibtisch, mit der Schuhspitze zur Zimmerdecke zeigend. Ein zweiter Stiefel befand sich in gleicher Stellung daneben. In den Stiefeln steckten die Füße eines Mannes, der auf dem Rücken quer vor Hansens Schreibtisch lag. Der Mann trug Jeans. Unter der geöffneten blauen Winterjacke sah Hansen einen bunten Strickpulli. Ein Messer steckte bis zum Schaft in der linken Brusthälfte des Mannes. Rund um das Messer war der Pulli dunkelrot. Leblose Augen starrten die Neonleuchte an der Decke an.

Die zwei Polizisten vor der Tür hatten inzwischen die Geduld verloren und einfach mal die Klinke gedrückt. Mit den Händen an den Waffen betraten sie das Büro, sahen den Leichnam, zogen ihre Pistolen und richteten sie auf Hansen.

»Keine Bewegung, Hände hinter den Kopf und hinknien«, schrie der ältere der beiden.

Beinahe hätte Hansen in seinem schlaftrunkenen Zustand gefragt, wie das denn gehen solle, die Hände hinter den Kopf zu nehmen und sich hinzuknien, ohne sich zu bewegen.

Doch er tat das einzig Richtige und gehorchte kommentarlos.

Die Polizisten forderten Verstärkung und den Kriminaldauerdienst an. Innerhalb weniger Minuten trafen zwei Oberkommissare des KDD ein, begutachteten die Lage und verständigten die Mordbereitschaft.

Hansen saß auf dem Flur vor dem Büro auf einem Klappstuhl, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt. Den Stuhl hatte der Kriminaltechniker Mathias Grunwald aus seinem Dienstwagen geholt. Den hatte er immer dabei, man wusste ja nie, an welchen Orten man arbeiten musste. So hatte Grunwald überall eine Sitzgelegenheit. Mit dumpfem Blick betrachtete Hansen den Linoleumboden des Flurs. In seinem Kopf brummte ein defekter Lautsprecher. Seine Denkfähigkeit tendierte gegen Null. Er bat um Wasser. Eine Polizistin gab ihm zu trinken.

Im Büro der Detektei Hansen führte ein Team der Abteilung LKA 3 die ersten Maßnahmen zur Spurensicherung und Dokumentation der Auffindesituation durch.

Ein Gesicht tauchte vor Hansen auf, mächtiger Schnauzbart mit gezwirbelten Enden.

»Harry?«, fragte der Mund unter dem Bart.

Hansen blinzelte verwundert.

»Bernd? Was machst du denn hier?«

Kriminalhauptkommissar Bernd Marquardt lachte kurz, dann musterte er kritisch Hansens Augen.

»Ich glaube, du bist nicht ganz bei dir, Harry. Hast du Drogen genommen?«

»Ich nehme keine Drogen! Es pocht in meinem Kopf, mir ist schwindelig und übel.«

»Du wirkst aber so. Also, mein Lieber, ich bin da, weil ich vor acht Monaten deinen Job beim LKA 41 übernahm und mit meinem Team heute Nacht Bereitschaft habe. Vera und Thomas müssten auch gleich eintreffen. Bist du in der Lage, mir zu erzählen, was hier passiert ist?«

»Ich weiß nicht, im Moment erinnere ich mich an gar nichts.«

KHK Marquardt wandte sich an einen Kollegen des KDD.

»Wir brauchen einen Arzt, der den Mann untersucht. Und nehmen Sie ihm die Handschellen ab.«

»Sind Sie sicher? Kennen Sie den Verdächtigen?«

Marquardt streckte die muskulöse Brust vor.

»Mannomann, seit wann sind Sie denn bei der Truppe? Der Verdächtige heißt Harald Hansen, hat über dreißig Jahre Dienst für das LKA hinter sich und mehr Mörder überführt als Sie Zähne im Mund haben! Nun machen Sie schon, auf meine Verantwortung.«

Der Oberkommissar schloss die Handschellen auf und murmelte: »Kein Grund, so laut zu werden.«

»Stimmt, Entschuldigung«, antwortete Marquardt.

Eine schlanke Blondine mit Pferdeschwanz tippte ihm auf die Schulter.

»Ich kann den Mann kurz untersuchen.« Sie streckte die Hand zur Begrüßung aus. »Lena Krüger, ich bin die Neue in der Rechtsmedizin.«

»Sehr erfreut. KHK Marquardt, LKA 41. Dann machen Sie mal. Bitte zapfen Sie ihm auch Blut ab.«

»Mache ich. Die Leiche kann ja warten.«

Marquardt zog sich einen Schutzanzug an und betrat das Büro. Eine Minute später tauchte er wieder auf, Grunwald hatte ihn hinausgescheucht.

Eine kräftig gebaute Frau mit dunkelroten Haaren näherte sich, Kommissarin Vera Becker, dicht gefolgt von Thomas Bernstein. Der hagere, zweiunddreißigjährige Oberkommissar mit rotblondem Haar überragte sie um einen Kopf. Beide starrten erstaunt auf den in sich zusammen gesunkenen Harald Hansen.

Becker fand zuerst die Sprache wieder. »Harry! Was machst du denn hier?«

Bernstein schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Detektei Hansen! Ich habe überhaupt nicht an dich gedacht, als ich die Adresse bekam. Warum hast du uns nichts davon gesagt?«

Hansen zuckte mit den Schultern. »Weil ich erst abwarten wollte, wie es läuft.«

Lena Krüger drängte Becker zurück. »Darf ich mal? Ich muss meine Arbeit machen. Sie können später plauschen.«

Krüger schaute Hansen in die Augen und legte ihm eine Blutdruckmanschette an. Becker holte Luft, doch Marquardt legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Unterarm.

»Wird allmählich voll hier. Wir stehen der Spusi im Weg. Kommt mal mit.«

Marquardt führte die Kommissare seines Teams ein Stück den Flur entlang, beschrieb kurz den Tatort und verteilte die Aufgaben.

»Vera, du kümmerst dich um Harry. Er hat Blut an Händen und Sweat-shirt, er muss erkennungsdienstlich behandelt und vielleicht im Krankenhaus untersucht werden.«

»Du glaubst doch nicht etwa, dass Harry diesen Mann erstochen hat?«, fragte Bernstein.

Marquardt schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Aber wenn wir hier bei der Beweisaufnahme schlampen, kriegen wir mächtigen Ärger und Harry helfen wir damit sicher nicht. Thomas, du sprichst mit den Kollegen, die als Erste vor Ort waren. Ich will wissen, warum die hier angerückt sind und welche Situation sie vorfanden. Ich kümmere mich um den Tatort und warte, was die Rechtsmedizinerin zu sagen hat. Vera, versuche bitte, Harry zu befragen, sofern sein geistiger Zustand es erlaubt.«

»Was soll das denn heißen?«, fragte Becker entrüstet.

Die Rechtsmedizinerin kam hinzu. »Ihr Kollege hat recht. Der Mann steht ziemlich neben sich. Unsteter Blick, vergrößerte Pupillen, der Blutdruck ist im Keller und der Puls unregelmäßig. Ich empfehle, ihn ins Krankenhaus bringen zu lassen.«

Marquardt nickte. »Machen wir. Vera?«

»Geht klar.«

Becker kümmerte sich um den Krankentransport, Bernstein ging zu den Kollegen, um sie zu befragen.

Der komplett in weiße Schutzkleidung gehüllte Grunwald lehnte mit dem Rücken am Rahmen der Bürotür und schwenkte den linken Arm.

»Ihr könnt jetzt rein, aber nur zwei Leute bitte.«

Lena Krüger und Bernd Marquardt folgten der Einladung.

Krüger kniete sich neben die Leiche.

»Könnten Sie mal nachsehen, ob der Mann Papiere bei sich hat?«, fragte Marquardt, während er Gummihandschuhe anzog.

Krüger suchte in den Innentaschen der wattierten Jacke und wurde fündig. Sie reichte ihm eine Brieftasche.

Der Personalausweis war auf den Namen Stefan Konradi ausgestellt. Konradi, 43 Jahre alt, war im Stadtteil Wilhelmsburg gemeldet. Marquardt verglich das Ausweisfoto mit dem Gesicht des Toten. Es passte, obwohl der Tote mit unrasiertem Kinn und zotteligem Haar ungepflegter als der Mann auf dem Foto aussah. Die Brieftasche enthielt außerdem drei Zehneuroscheine, einen Führerschein, eine EC-Karte, diverse Quittungen und den Presseausweis eines Journalistenverbandes.

Im Krankenwagen griff Becker nach Hansens Hand.

»Mensch, Harry. Kann ich dir ein paar Fragen stellen? Was ist passiert, heute Nacht in deinem Büro?«

Hansen sprach wie ein Betrunkener. »Wenn ich das wüsste, Vera.«

»Erzähle mir, an was du dich erinnerst.«

»Ich war im Büro, allein. Ich schrieb einen Bericht für eine Klientin, brauchte eine Stunde für zwei Seiten. Blöder Auftrag.«

»Wie spät war es da?«

»Oh, warte mal. Nach dem Abendbrot bin ich zuhause losgefahren, so um halb acht kam ich im Büro an. Dann muss es etwa halb neun gewesen sein. Wie spät ist es jetzt?«

»2:30 Uhr.«

»Was? Dann … dann fehlen mir sechs Stunden!«

Becker streichelte Hansens Hand.

»Nicht aufregen. Wir werden das klären. Der Bericht war also fertig. Und dann?«

»Ich bin zum Kühlschrank und habe mir ein Bier aufgemacht.

Ich glaube, ich saß wieder vor dem Monitor. Was danach passierte, weiß ich nicht. Ist alles weg.«

»Wann kam der Mann in dein Büro, der jetzt tot vor deinem Schreibtisch liegt?«

»Keine Ahnung. Irgendwie wurde ich plötzlich müde. Bin wohl am Schreibtisch eingeschlafen. Das Klopfen und Rufen der Kollegen von der Streife hat mich geweckt. Ich stand auf, mir war ganz schwummerig. Ich tastete mich am Schreibtisch entlang und stolperte über die Leiche. Im nächsten Moment standen die zwei in Uniform vor mir und zogen ihre Waffen.«

»Kannst du dich an andere Personen im Raum erinnern?«

»Da war niemand.«

Becker kratzte sich nachdenklich eine Augenbraue.

»Harry, Tatsache ist, in deinem Büro liegt ein Toter. Falls da wirklich niemand sonst war, bleibt nur ein möglicher Täter übrig. Und das bist du!«

»Mensch, Vera, ich würde ja gern was anderes sagen. Aber ich habe keine Ahnung, was passiert ist, während ich schlief. Da kann doch jeder reingekommen sein. Warum sollte ich den Typen umgebracht haben? Ich weiß nicht mal, wer das ist.«

»Okay, Harry. Wir brechen die Befragung ab. Bestimmt kommt deine Erinnerung bald zurück. Dann sehen wir weiter.«

Hauptkommissar Marquardt inspizierte Hansens Schreibtisch. Frau Krüger untersuchte den Leichnam. Schließlich erhob sie sich und trat an den Schreibtisch. Marquardt saß gebückt auf dem Bürosessel und durchsuchte die unterste Schublade.

Sie räusperte sich. Er schaute zu ihr hoch, sekundenlanger Blickaustausch. Er richtete sich auf.

»Sie haben meine volle Aufmerksamkeit.«

»So soll es sein«, sagte sie grinsend. »Also, über die Todesursache müssen wir nicht lange rätseln, … wobei …, rein theoretisch wäre es möglich, dass der Mann an einer Vergiftung oder einem Herzinfarkt starb, bevor das Messer in seine Brust gestoßen wurde.«

Ihr Grinsen wurde breiter. Genüsslich zitierte sie einen der meistgesagten Sätze in Fernsehkrimis: »Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Ha, jetzt ist er raus, der Satz, auf den ich mich schon während meines Medizinstudiums gefreut habe.«

»Ihr erster Mordfall?«, fragte Marquardt.

»Ja, sofern man einen Selbstmord nicht als Mord klassifiziert. Keine Bange, ich bin selbstbewusst genug, mir Hilfe von erfahrenen Kollegen zu suchen, falls ich mal unsicher sein sollte.«

»Ich wollte Ihre Qualifikation nicht anzweifeln«, versicherte Marquardt. »Es ist nur so: Der Fall hat Brisanz, weil dem Anschein nach ein ehemaliger Kollege von uns der Hauptverdächtige ist.«

»Verstehe. Kommen wir zu den Fakten. Es war ein einziger, kraftvoll ausgeführter Stich, mitten ins Herz, keine weiteren Verletzungen. Ungewöhnlich finde ich, wie der Täter das Messer gehalten hat, mit horizontal ausgerichteter Klinge, nicht vertikal, wie man normalerweise ein Messer hält. Ach ja, die Tatwaffe stammt offenbar aus dem Messerblock da hinten.« Sie zeigte Richtung Küchentresen.

Marquardt guckte sich die Brust des Opfers an. »Ein Stich in das Herz und trotzdem so wenig Blut?«

»Das ist normal, sofern der Mann nach dem Stich in die Rückenlage fiel und so liegen blieb. Das in der Wunde steckende Messer verschloss die Austrittsöffnung, die Blutung erfolgte nach innen und die Schwerkraft ließ das Blut nach unten fließen.«

»Das leuchtet mir ein. Können Sie den Todeszeitpunkt einigermaßen genau bestimmen?«

»Der Fortschritt der Leichenstarre und vor allem die Körperkerntemperatur ergeben ein PMI von vier, maximal fünf Stunden.«

Lena Krüger warf Marquardt einen frechen Blick zu. »Sie wissen, was ein PMI ist?«

Er lachte. »Ich habe zwar regelmäßig Probleme, das Fachchinesisch der Rechtsmediziner zu verstehen, aber das Postmortem-Intervall kenne ich. Man könnte auch Leichenliegezeit dazu sagen. Der Tod trat also zwischen 22 und 23 Uhr ein?«

»Korrekt. Ich kann Ihre Kenntnisse der Fachterminologie gerne mal auffrischen, wenn Sie das möchten.«

Hauptkommissar Marquardt spürte, wie sein Blut in die Wangen floss. So ein forsches Angebot hatte er lange nicht bekommen. Er war Mitte vierzig, alleinstehend und vor sieben Monaten von Kiel nach Hamburg umgezogen. Seine sozialen Kontakte beschränkten sich seither fast ausschließlich auf das nahe berufliche Umfeld. Er fragte sich, ob er wirklich in das Beuteschema der deutlich jüngeren Frau passte oder die ausgesandten Signale gründlich missverstand.

»Schauen wir mal«, antwortete er unverbindlich. »Kann ich davon ausgehen, dass Fundort gleich Tatort ist?«

Krüger zögerte. »Eigentlich ja. Mit hundertprozentiger Sicherheit kann ich die Frage aber nicht beantworten, denn die massiven Einblutungen machen eine Interpretation der Totenflecken sehr schwierig.«

»Vielen Dank. Vielleicht sehen wir uns ja bei der Obduktion.«

»Würde mich freuen, Herr Hauptkommissar.«

Marquardt rief Becker an.

»Wie geht es Harry?«

»Die Ärzte geben Entwarnung, nichts Bedrohliches. Sie wollen ihn aber noch ein paar Stunden zur Beobachtung hier behalten. Er hat wahrscheinlich eine ordentliche Portion GHB oder eine ähnliche Substanz intus. Kennen wir auch als Liquid-Ecstasy oder schlicht K. O. -Tropfen. Voraussichtlich gegen Mittag darf er das Krankenhaus verlassen. Wie gehen wir nun vor? Soll ich bei ihm bleiben? Müssen wir Kollegen zur Bewachung anfordern?«

Marquardt kratzte sich den Kopf. Sollte er streng nach Vorschrift vorgehen oder einen Rüffel seines Vorgesetzten riskieren? Er entschied sich gegen die Vorschrift.

»Harry ist in seinem Zustand nicht vernehmungsfähig. Wir können also im Moment nur abwarten. Fluchtgefahr sehe ich auch nicht. Sag ihm, dass wir ihn morgen Mittag aus dem Krankenhaus abholen. Fahr nach Hause und schlaf eine Runde. Wir treffen uns um 9 Uhr im Büro.«

»Gut. Hat jemand Nadja Bescheid gesagt? Harry fragte nach ihr.«

»Thomas macht sich gleich auf den Weg zu ihr. Er wird sie zu Harry bringen.«

»Na dann. Gute Restnacht.«

»Gleichfalls, Vera.«

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