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3 TAVÉRNA »TO NÉON« Herzlich willkommen im Paradies!
ОглавлениеVon der gemütlichsten Terrasse Tolós winkte uns, mit weit ausholenden Armbewegungen, plötzlich Stefan entgegen. Er trug Badehose und einen Strohhut. Entspannt saß er auf einem alten blauen Korbstuhl an einem wackeligen Tisch mit blau-weiß karierter Tischdecke im Schatten unter den sechs Bäumen, die die Terrasse zum Strand hin begrenzten. Über sechs kleine Stufen einer gut einen Meter hohen und ebenso breiten Treppe, die vom Strand mittig auf die Terrasse führte, erreichten auch wir das rettende schattige Plätzchen. Es war heiß, selbst hier unter den Bäumen, aber der angenehme Südwind der über das Meer auf die Bucht von Toló blies, kühlte unsere geschwitzte Haut und das Wiedersehen mit Stefan rundete den famosen Gesamteindruck ab. Nun kam auch Uschi, Stefans Frau, zu uns gelaufen und aus dem zehn Meter entfernten Meer stiegen noch rasch die Söhne Robin und Dennis. Mindestens genauso herzlich empfing uns auch Perikles, der freudig aus der Taverne sprintete. Wir sahen ihn zum ersten Mal und fühlten uns gleich wohl und vertraut in diesem Urlaubstraum rund und um die »Tavérna To Néon«.
»Herzlich Willkommen im Paradies!«, rief er uns entgegen, als er die drei Stufen vom Gastraum auf die Terrasse herab zu fliegen schien. Dann stand der Anfang 30-Jährige mit stattlicher Figur, mit blankem Oberkörper und hoher Stirn vor uns, drückte uns kräftig die Hände und fuhr mit einem schelmischen Grinsen über den Rand seiner getönten Brille hinweg fort: »Ich bin Perikles, der Sohn des Poseidon.«
Seit 1950 existiert die Εξοχεική Ταβέϱνα To Νέον (Exochikí Tavérna To Néon), die »Landgaststätte zum Neuen«, die Perikles’ Eltern direkt am Strand errichtet haben. Vater Aristides war Fischer und der fangfrische Fisch wurde täglich von seiner Frau Vagelió ausgenommen, gebraten und gegrillt. Während uns Stefan kühles, stilles Mineralwasser aus der Quelle des Kurortes Loutráki in der Nähe von Korinth brachte, stellte uns Perikles, der ›Sohn des Poseidon‹, seinen wahren Eltern vor. Auch Aristides besaß eine hohe Stirn, deren Ränder mit grauem Haar geschmückt waren. Er saß in einer besonnen, lässigen Art, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, an einem Tisch an der Hauswand und betrachtete in aller Seelenruhe das muntere Treiben auf seiner mit großen hellen Marmorfliesen plattierten Terrasse. Auf dem Tisch vor ihm lag eine modische Baseballkappe, die er zum Schutz vor der gleißenden Sonne trüge, würde er sich aus dem Schatten fortbewegen. Mir gefiel sein Lausbubengrinsen besonders. Es ist selten bei 70-Jährigen. Seine Frau Vagelió war im Vorraum der Küche damit beschäftigt, grüne Bohnen zu schnippeln. Sie begrüßte uns unendlich herzlich mit ihrer schrillen hochtönenden Stimme, die an eine angenehme Sirene erinnerte. Ein ungemein sympathisches Ehepaar, das wir umgehend in unsere Herzen schlossen.
»Ihr wollt jetzt sicher erstmal im Meer baden«, sagte Perikles zu uns und las uns förmlich unseren heimlichen Wunsch von den Lippen ab. »Kommt! Wir bringen schnell eure Taschen aufs Zimmer.« Rasch erklärte er uns, wie wir mit dem Wagen vom Hafen direkt zur Taverne fahren könnten. Und nur wenige Minuten später nahm er uns wieder an der kleinen schlechtbetonierten Straße mit dem so hübsch klingenden Namen Tsouderou-Straße in Empfang. Sie führte von der Hauptstraße, der Sekeri-Straße, hinab ans Meer und endete als »Sackgasse« auf dem Strand direkt neben der »Tavérna To Néon«. Die Tsouderou-Straße war jetzt im Sommer, um die Mittagszeit, hoffnungslos überfüllt und randvoll zugeparkt.
»Stell den Wagen erstmal hier ab!« Stefan, der unsere erneute Ankunft abermals von der Terrasse beobachtet hatte, deutete auf die Straßenmitte, wo bereits ein Jeep die Durchfahrt versperrte. »Ihr könnt euer Auto später noch wegparken.« Stefan wirkte tiefenentspannt. Und das, obwohl er den Nachbarn bereits gut kannte. Auch wir sollten ihn kurz darauf zu Gesicht bekommen. Doch zunächst ließ sich Perikles nicht davon abbringen, uns die Koffer aufs Zimmer zu tragen. Das kleine Doppelzimmer lag in der ersten Etage direkt über dem Gastraum der Taverne. Es war nun mit uns, unseren Taschen und dem Hausherrn gut gefüllt. Wir sahen zwei einfache Betten, zwei kleine Nachttischchen, einen alten Schrank und eine Glühbirne, die von der Decke baumelte. An der Wand hing ein kleiner Spiegel. Das war die spartanische Einrichtung. Die blaue Farbe der alten hölzernen, deckenhohen Balkontüren blätterte bereits an einigen Stellen ab, doch der Blick vom dahinterliegenden Balkon aus beeindruckte uns umgehend. Durch die schattenspendenden, belaubten Äste der Terrassenbäume hindurch, blickten wir auf die Bucht von Toló mit den vielen kleinen Fischerbooten und der Insel Rómvi mit ihren zwei symmetrischen, gleich hohen Hügeln. Die Kinder nannten das unbewohnte Eiland daher nur Buseninsel. Erst über 20 Jahre später hatte Herr Janni, der weise Dorflehrer, die Eingebung, dass es sich bei dem Namen Rómvi schlicht um einen Schreibfehler handeln musste. Denn nach seiner Theorie hatte die Insel ihren Namen sicher irgendwann aufgrund ihrer Form erhalten. Und zwar nicht die Form eines Busens, sondern die zweier Rauten. Und den Plural von Raute schreibe man schließlich mit »0ι«. Die Insel hätte statt Ρόμβη also Ρόμβοι heißen müssen. Abgeleitet von Rombus = Raute. Der Teil oberhalb der Wasserlinie gleiche unzweifelhaft zwei Rautenhälften. Derlei philosophisches Gedankengut war uns in der damaligen Sommerhitze einerlei. Die Insel hätte uns auch namenlos fasziniert, und wir wollten ihr nun entgegenschwimmen.
Perikles riss uns von diesem sagenhaften Anblick fort und zeigte uns noch schnell, wo wir auf dem Flur die zwei Toiletten und Duschen finden würden, dann verschwand er hastig. Seine Gäste riefen bereits nach ihm und seine Mutter Vagelió daraufhin am lautesten. »Perikliiiiii. Perikliiiiii!«, schrillte es durch die Taverne, über die Terrasse und durch halb Toló.
Die Temperatur in unserem frisch bezogenen Zimmer, schien inzwischen auf geschätzte 60 Grad angestiegen zu sein. Da half nur eins: Schnell raus aus den Klamotten, Badehosen an und ab ins Meer! Zwei Minuten später stiegen wir ins erfrischend kühle Nass der Badewanne vor der Tür. Stefan, der nun ebenfalls badete, sagte: »Das Meer hat 29 Grad Wassertemperatur. Herrlich, oder?« Paradiesisch. Poseidon, der Gott des Meeres, hatte es angenehm für uns hergerichtet.
»Jetzt im August baden sogar die Griechen im Meer. Vorher ist es den allermeisten zu kalt.« Das fröhliche Lachen planschender einheimischer und fremder Kinder war zu hören, am Himmel kreischten einzelne Möwen über den heimkehrenden Fischerbooten und in den Bäumen zirpten die Zikaden. Dieses Idyll wurde plötzlich durch ein plärrendes Hupen gestört. Ein verbeulter blauer Toyota Pick-up war die Tsouderou-Straße in Richtung Strand heruntergefahren und parkte nun direkt hinter meinem Escort. Ein wildes Gekeife drang durch das geöffnete Seitenfenster. Ein unzubändigendes Hupen brüllte über den Strand, über das Meer; vermutlich sogar bis hinüber in die Türkei. Und als das Tier hinterm Steuer ausstieg, ahnte ich nichts Gutes. Ein englisches Nummernschild und ein wuchtiger Lockenkopf als Fahrer, dessen Augen zu glühen schienen, ließen Schlimmes erwarten. Die Statur eines Preisboxers kombiniert mit dem wilden Blick eines britischen Hooligans nach einem verlorenen Heimspiel. Weglaufen, so schnell wie möglich den Ford umparken oder so tun als sei es nicht unser?
»Nicht so schnell«, sagte Stefan. »Das ist nur Jannis. Ihm gehört das Wassersportzentrum hier nebenan. Der kann ruhig mal etwas warten.« Dann ging er sanften Schrittes an Land und schlurfte gemächlich zu Jannis hinüber. Während der lockige Wassersportchef weiterhin seine Pranke durch das offene Fenster zum Dauerhupen auf das Lenkrad legte, sprach Stefan ihn an. Wir konnten leider nichts verstehen, blickten aber gespannt hinüber. Der kräftige Jannis stand, seinen Bierbauch der Sonne entgegengestreckt, da und hörte sich an, was Stefan zu sagen hatte. Auf seiner Knollennase glänzte eine hochmoderne Sonnenbrille mit orangefarbenen Gläsern, wie sie damals weltweit im Teleshop auf RTL und SAT1 angeboten wurde. Gar nicht mondän, stattdessen deutlich grimmig, blickte Jannis, nachdem Stefan zu Ende geredet hatte, zu uns herüber. Mit erhobenem Zeigefinger blaffte er Stefan noch einmal an, dann verschwand er in seiner typischen storchartig-kopfnickenden Gangart zu seinem »Watersportscenter Poseidon«. Es lag im übernächsten Haus neben der Taverne von Perikles und hatte ebenfalls eine Terrasse mit direktem Strandzugang. Dort herrschte reger Betrieb. Viele jugendliche Touristen, hauptsächlich Briten, tranken hier Bier und Cola und warteten darauf, dass die beliebten Plätze auf der Wasserbanane, auf den Ringos, den aufblasbaren Ringen, die hinter dem Motorboot rasend schnell übers Wasser gezogen werden, oder beim Paragliding frei werden würden. Jannis’ Wassersportgeschäft schien prächtig zu laufen. Ich hingegen war sicher, dass ich niemals bei diesem Griesgram ein Boot ausleihen oder Surfen lernen würde.
Als Stefan zu uns ins Meer zurückkehrte, waren wir gespannt wie Flitzebögen. Sein guter Rat: »Nehmt euch vor Jannis in Acht, er kann ganz schön aufbrausend sein. Ich hab ihm gesagt, dass ihr euren Wagen gleich wegfahren werdet.« Dann erfuhren wir noch, dass der Wassersport-Hai mit einer Engländerin verheiratet war, dass der Toyota Gerüchten zufolge in Großbritannien gestohlen worden sein sollte und dass Jannis die öffentliche Straße und den angrenzenden Strand offenbar als sein Eigentum betrachtete, auf dem er tun und lassen konnte, was er wollte. Hätte Stefan uns auch erzählt, dass er selbst einmal in eine handfeste Schlägerei mit Jannis verwickelt wurde, bei dem es ebenfalls um einen falsch geparkten Wagen – nämlich Stefans! – gegangen war, wäre ich sicher sofort zu meinem Escort gelaufen, um ihn umgehend umzuparken. So jedoch ließen wir uns zunächst von der Sonne trocknen, bevor ich die Autoschlüssel holte. Jannis hatte schon auf mich gewartet. Er grummelte etwas Unverständliches in meine Richtung, bevor er den Toyota gerade soweit zurücksetzte, dass ich den Ford ganz knapp aus der Gefahrenzone lenken konnte. Nur einen Augenblick später parkte der angeblich gestohlene britische Pick-up an der Stelle, wo eben noch der weitgereiste Escort stand. Was tut man nicht alles für eine gute Völkerverständigung
Nach einem weiteren Bad im Meer und nachdem sich die Aufregung der Ankunft gelegt hatte, war es Zeit für einen Mittagsschlaf. Gegen 17 Uhr wurde es ruhig auf der Terrasse der Taverne.
»Von etwa fünf bis sieben macht Vagelió die Taverne zu«, erklärte uns Stefan den Tagesablauf. »Später treffen wir uns dann wieder hier. Man macht am Abend einen Spaziergang durchs Dorf und nach 22 Uhr geht man gemütlich zum Essen.« Dann verschwand auch er zu seinem Nickerchen. Nach einer kühlen Dusche, um das Salzwasser abzuwaschen, wollten wir es ihm nachtun. Robin zeigte uns, wie wir richtig mit den Duschen umzugehen hatten. Denn regelmäßig verstopften die engen Abflussrohre der Gemeinschaftsduschen auf der ersten Etage der Taverne und das Wasser lief dann rasch über den Rand der Duschtasse, mäanderte über den Steinfußboden im Flur bis genau in unser Nebenzimmer, in dem Robin schlief. Mehr als einmal war Robin in diesen Ferien bereits aufgewacht und hatte seinen Fuß in eine Pfütze neben dem Bett gesetzt. Nun war also klar, wieso in der Dusche immer auch ein Pömpel stand.
Wo wir gerade mit Robin dabei waren, die sanitären Einrichtungen zu inspizieren, fragte ich ihn auch nach dem Sinn des runden, offenen Plastikkorbs neben der Toilette ohne Klobrille. Er sah uns verblüfft an. »Hat euch denn niemand gesagt, dass man in Griechenland das Klopapier nicht ins Klo werfen darf?« Erst jetzt entdeckten wir einen alten, vergilbten und bereits halb abgeblätterten Aufkleber an der nicht abschließbaren Toilettentür: »Μη ϱίχνετε χαϱτιά στη λεκάνη« (Mi richnete chartia sti lekani – Werfen Sie kein Papier in die Schüssel)
Der Grund waren die in Griechenland sehr viel dünneren Abwasserrohre. Aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass offenbar viele nach dem Klogang nicht daran dachten abzuziehen? Wie oft stand ich später in Café-, Tavernenoder Restauranttoiletten, die noch unangenehm gefüllt waren.
Gegen Abend deutscher Zeit und am Nachmittag aus hellenischer Sicht, trafen wir uns wieder auf der Terrasse der »Tavérna To Néon«. Alle Sommergäste schienen gerade erst aus ihren Betten gestiegen zu sein. Schwere Lider, aber wohlige Vorstellungen davon, dass der nun obligatorisch folgende Kaffee für rasche Straffung sorgen würde. Die Badehosen und -anzüge, die den gesamten Tag über die Standardkleidung in und rund um die Taverne waren – bei über 35 Grad Celsius isst es sich eben angenehmer in Schwimmkleidung – waren nun langen Hosen und luftigen Röcken und Kleidern gewichen. Die griechischen Urlauber ebenso wie die Einheimischen waren bereit für ihre »vólta«, den abendlichen Spaziergang durchs Dorf. Perikles, der selbsternannte Sohn des Poseidon, hingegen, hatte es sich mit einem griechischen Mokka an seinem Lieblingsplatz der Terrasse gemütlich gemacht und genoss die für ihn wenigen ruhigen Minuten des Tages. Er schien beinahe zu meditieren, so gebannt sah er auf sein Meer vor der Haustür. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch. Einen Augenblick schauten wir gemeinsam schweigend auf die seichten Wellenbewegungen. Ohne den Blick zu verändern, sagte Perikles leise zu mir: »Manchmal glaube ich wirklich, der Sohn des Poseidon zu sein. Woher sonst sollte ich diese Kraft haben, von früh morgens bis spät in die Nacht zu arbeiten?« Seine unbeschuhten Füße hatte er sockenlos auf einen zweiten Korbstuhl abgelegt. Sie sahen müde aus. Perikles hingegen hatte wieder dieses unbändige lebensbejahende Lächeln auf den schmalen Lippen. »Ωϱα για γαμάκι!« (Ora ja gamáki! – Zeit, sich um die schönen Mädchen zu kümmern!) sagte er und blickte mich mit seinem spitzbübischen Lächeln an. Eine Gruppe junger, scheinbar deutscher Frauen, spazierte gerade vor unseren Augen am Strand neben der Terrasse entlang. »Ποποπό!« (Popopó!), rief Perikles laut und verzückt diesen Ausdruck der griechischen Bewunderung aus. Er hatte die volle Aufmerksamkeit der jungen Touristinnen. »Blumen, Andreas. Alles voller Blumen!«, rief er weiter und grinste erst mich und dann abwechselnd die neugierig blickenden Mädchen an. »Jetzt ist es aber Zeit für euren Spaziergang durchs Dorf«, sagt er noch, dann schickte er uns alle los.
Die ersten knapp einhundert Meter von Perikles’ Taverne die Straße hinauf zur Hauptstraße, beeindruckten uns nachhaltig. Gegen 21 Uhr hatten die Temperaturen immer noch nicht nachgelassen, dafür aber der Wind. Die 35 Grad, die tagsüber in der kräftigen Brise am Meer noch gut erträglich waren, glichen jetzt bei Windstille einer Gluthölle. Mühsam quälten wir uns den kleinen, nur etwa 50 Meter langen Anstieg hinauf und kamen durchgeschwitzt auf der Sekeri-Straße an. Hier auf der Dorfstraße herrschte trotz der klimatischen Herausforderung ein reges Durcheinander. Souvenirgeschäfte, Pita-Grillbuden und Tavernen reihten sich aneinander und Touristenmassen wanderten von einem Ansichtskartenständer zum nächsten, erstanden hier und da Andenken oder kauften sich an den Ψησταϱίες (Psistaríes), den Grillimbisslokalen, Σουβλάκια με πιτά (Souvlákia me pita) – kleine Fleischspieße im Brot. Beobachtend flanierten wir über die Hauptstraße und stellten verwundert fest, dass es scheinbar in ganz Toló keine Gyrosspieße gab. War Gyros nicht so typisch für Griechenland wie die Erbsensuppe für Deutschland? Später erzählte man uns, dass der große Drehspieß wohl eher eine Erfindung der Auslandsgriechen gewesen sein musste. In Griechenland selber grillte man stattdessen traditionell Ziegen, Lämmer oder eben Souvlákia. Die kleinen Fleischspieße mit den marinierten Schweinefleischwürfeln fanden sich an jeder Ecke. Ein herrlicher Duft stieg auf, wenn der Grillwirt die oft mit fettigen Stücken versehenen Spießchen auf den Holzkohlengrill legte und das austretende Fett dampfend in die Glut tropfte. Knusprig braune Leckereien, die anschließend mit Salz und Oregano bestreut wurden. Dazu reichte man eine Scheibe gegrilltes Weißbrot. Köstlich! Die Griechen aßen ihre Souvlákia üblicherweise σκέτο (skéto), ohne alles, bei der Bestellung auch gerne Καλαμάκι (Kalamáki) genannt, was eigentlich die Bezeichnung für ›Strohhalm‹ ist. Die schlanken Spieße wanderten zügig vom Rost in die Hände der hungrigen Esser und wir bekamen bereits vom Zusehen und vom Duft des oreganogeschwängerten Rauchs über dem Holzkohlegrill Appetit. Da wir jedoch später alle gemeinsam bei Perikles essen wollten, gingen wir zügig an den Psistaríes vorbei und fanden, nachdem wir an ungezählten Souvenirshops entlang geschlendert waren, das Ziel unseres Spaziergangs. Die Nefeli-Bar!
Perikles hatte uns geraten, zu seinem Schwager zu gehen und Kaffee-Frappé zu trinken. Das »In-Getränk« der griechischen Jugend erfreute sich insbesondere im Sommer größter Beliebtheit. Eiskalter, aufgeschäumter Nescafé, wahlweise mit Milch oder ohne, mit viel, wenig oder mittelmäßig viel Zucker, aber immer stark und mit Eiswürfeln. Wir betraten die kleine Terrasse der Nefeli-Bar, die eigentlich eher ein Teilstück des Bürgersteigs war, den es in Toló aber nicht gab. Die Sekeri-Straße grenzte direkt an die etwas erhöhte Terrasse, die gerade einmal zwei Meter breit war, und auf der nur zehn kleine, runde Tischchen Platz fanden. Die junge Kellnerin hatte dennoch alle Hände voll zu tun, die zahlreichen Gäste zu bewirten. Durch die weit geöffnete Tür sahen wir ins Innere der Nefeli-Bar. Michalis, der Mann von Perikles Schwester Irini, saß mit dem Rücken zur Theke auf einem Barhocker und fläzte sich mit weit ausgebreiteten Armen lässig an den geschwungenen Tresen. Als er uns sah, kam er wieselflink zu uns herausgeeilt, begrüßte uns herzlichst und deutete auf einen Tisch neben der Tür auf dem bis gerade eben noch ein Grieche gesessen hatte. »Καθήστε εδώ!« (kathíste edó! – Setzt euch hierhin!) Dann fragte er uns in gebrochenem Englisch, was wir trinken wollten, und mit Mühe bestellten wir unseren Frappé. »Métrio me gála«, hatte uns Robin erklärt, sollten wir sagen. Mittelsüß mit Milch. Es funktionierte. Michalis verstand und verschwand wieder im Café. Durchs Fenster sahen wir, wie er hinter der Theke in einem kleinen Küchenraum mit Gläsern hantierte. Dann brummte und summte die Frappiera, der spezielle Standmixer, und wenig später brachte uns ein anderer Mann zwei herrlich aussehende Eiskaffees an den Tisch. Michalis stellte uns den Kellner als seinen Bruder Ioannis vor. Die zwei betrieben gemeinsam das alteingesessene Café an einer der besten Lagen auf der Hauptstraße von Toló. Hier saßen wir nun mit den Rücken zur Hauswand unter den schattenspendenden jungen Bäumen der Terrasse, deren Äste bis ans Gebäude heranragten. Die seltsame Aufstellung der Stühle war uns bereits aufgefallen, als wir die Nefeli-Bar erreichten. Alle Stühle waren so um die runden Tischchen aufgestellt, dass jeder Gast mit dem Gesicht zur Straße saß. Das gleiche Bild gegenüber in der Nafsika-Bar, und auch in allen anderen Cafés und Bars der Stadt. Die Aufstellung hatte etwas Theatralisches. Die Sekeri-Straße wurde so zur Bühne. Die Kaffeehausbesucher waren das Auditorium, die nicht nur der Musik aus den Außenlautsprechern der Bars und Cafés lauschten, sondern auch die vorbeiflanierende Menschenmenge und vor allen Dingen die Touristinnen bewunderten. Elegant gekleidete griechische Damen wurden respektvoll bestaunt und genossen ihrerseits ganz offensichtlich die ihnen zu Teil werdende Aufmerksamkeit, während manchen sexy gestylten Touristinnen in knappen Röckchen die ungenierten Blicke sichtlich unangenehm waren. Sitzen, Beobachten und Diskutieren schien eine Art Volkssport der älteren Männer zu sein, die griechische Jugend hingegen flirtete aktiver. Ganz offen sprachen sie auf der Straße junge Touristinnen an, pfiffen ihnen von ihren Mopeds aus hinterher oder luden sie gar zu einer Spritztour mit dem Motorrad ein. Das hatte Perikles also mit »kamáki« gemeint: Mädchen aufgabeln! Autoschlangen quälten sich im Schritttempo durch die Dorfstraße, Einheimische hielten hier und da ein Schwätzchen auf der Kreuzung und jugendliche Moped-Artisten drehten helmlos ihre Runden – manchmal nur auf dem Hinterrad oder mit quietschenden Reifen – um die hübschesten Mädchen herum und ließen ihre aufgemotzten Karren aufheulen. Riesige, laute Auspuffrohre an kleinen Mofas und brüllend laute – für den Straßenverkehr sicher nicht zugelassene – nachgerüstete Hupen waren der Renner. Der Lärm und die Abgase schienen niemanden zu stören. Es war ein munteres, ein fröhlich-jahrmarkthaftes Treiben auf der überfüllten Hauptstraße von Toló. Eine beeindruckend stimmungsvolle und gleichzeitig entspannte Atmosphäre. Wir saßen an unserem Tisch, saugten schlückchenweise Frappé durch die Strohhalme und genossen den Sommer, obwohl wir angesichts der Temperaturen inzwischen nicht nur unter den Armen schwitzten.
Nach einer guten Stunde im »Theater Odos Sekeri« traten wir den Heimweg an. Wir verabschiedeten uns für heute von Michalis und er wünschte uns einen guten Appetit. Er würde vielleicht später auch noch runter ans Meer zur Taverne kommen, um einen Happen zu essen. Es war inzwischen nach 22 Uhr. Der Souvláki-Duft auf den Straßen hatte uns hungrig, der Frappé wach gemacht. In Richtung Dorfende waren nicht mehr ganz so viele Menschen auf den Straßen unterwegs und dennoch fanden wir bei Perikles zunächst keinen freien Platz. In der Küche herrschte ein hektisches Treiben, an den Tischen wurde lautstark diskutiert und fröhlich gefeixt, während Perikles umhereilend einen Tisch nach dem anderen mit Wein und Essen bediente. Irgendwie brachte er es nebenbei fertig, zwei zusätzliche Tische aus der Taverne zu zaubern, die er für uns in den letzten freien Winkel der Terrasse stellte. Wir waren nun zu acht. Thomas, ebenfalls ein ehemaliger Schüler Stefans, verbrachte mit seiner Freundin auch seinen Urlaub in Toló und so hatten wir eine schöne παϱέα (paréa – eine Gesellschaft) zusammen. Wir fühlten uns fast griechisch in dieser so typisch hellenischen Essensrunde, die nun hungrig darauf wartete, dass Perikles kommen und die Bestellung aufnehmen würde. Stefan erklärte uns unterdessen das allabendliche Ritual:
»Die Griechen bestellen erstmal viele kleine Vorspeisen von denen dann alle gemeinsam probieren. So machen wir es auch.« Plötzlich erschien Perikles wie aus dem Nichts mit zwei Halbliter-Glaskaraffen und acht winzigen Gläschen. »Στην υγεία σας!« (– Stin ijá sas!), rief er uns noch zu und flitzte bereits zum nächsten Tisch.
»Das hieß so viel wie Prost«, sagte Robin und Stefan ergänzte: »Wörtlich übersetzt heißt es ›Auf eure Gesundheit‘.« Dann erklärte er uns, dass es sich bei der hellgelben Flüssigkeit in den Karaffen um Retsína, einen griechischen Landwein handele, der mit Harz versetzt wurde.
»Er ist gewöhnungsbedürftig, aber wenn man sich erst daran gewöhnt hat, geht es«, ergänzte Uschi.
»Perikles bekommt ihn direkt von einem befreundeten Winzer aus Neméa. Das ist eine der wichtigsten griechischen Weinregionen. Ihr seid daran vorbeigefahren, als ihr von Korinth Richtung Argos gefahren seid«, sagte Stefan, und goss uns allen etwas in die kleinen Gläschen, die wie winzige, nach unten leicht verengt zulaufende dorische Säulen aussahen. Durch ihre acht Kanneluren lagen die Säulchen extrem griffig in der Hand. Vor meinem geistigen Auge erschien der Parthenon und als ich den Duft des Weines roch, sah ich Diogenes in seinem Weinfass vor mir.
»Perikles hat ein großes altes Holzfass in der Taverne. Der Retsína kommt direkt aus dem Fass«, sagte Stefan noch, dann prosteten wir uns zu. Kurz darauf prustete ich. Fast hätte ich mich an dem abscheulichen Zeug verschluckt, und an Finnes verzerrtem Gesicht erkannte ich, dass es ihm genauso ergangen war.
»Ich sag doch, der Retsína ist gewöhnungsbedürftig«, sagte Uschi und lachte. Um es vorweg zu nehmen: Einige Tage später schmeckte der geharzte Wein dann auch Finne und mir.
Perikles setzte sich an eine Ecke unseres Tisches. Er hatte einen kleinen weißen Block und einen blauen Kugelschreiber dabei. »Τι θα φάτε?« (ti tha fáte?), fragte er in die Runde. Was wollt ihr essen? Und dann zählte er auf, was seine Mutter heute gekocht hatte. Stefan übersetzte für uns. Eine Speisekarte gab es nicht. Man bestellte das, was es eben gab und auch ein Rundgang durch die Küche, um die Köpfe in die Töpfe zu stecken, sei völlig normal. An diesem Abend gab es Hühnchen in Tomatensoße, gefüllte Tomaten, Briam – ein Gemüseauflauf, Oktopus gekocht, gefüllte und überbackene Auberginen – so genannte Schühchen (παπουτσάκια – paputsákia), und Mousaká, der allseits bekannte Hackfleisch-Auberginenauflauf. »Außerdem gibt es manche Sachen, die es immer gibt, die frisch zubereitet werden«, sagte Stefan. »Patátes – frische handgeschnittene Pommes, Salate, Feta, gegrillte Koteletts und Souvláki-Spieße, Tzatzíki, Hackfleischbällchen, Kalamari und natürlich fangfrischen Fisch.« Mein ehemaliger Lehrer sah unsere überforderten Gesichter und bestellte daraufhin für uns alle gemeinsam, wie es sich in einer guten Paréa gehört. Wenig später brachte Perikles einen kleinen Teller nach dem anderen zu uns an den Tisch. Zwei Portionen Patátes, frittierte ganze Tintenfischchen, ein großer Bauernsalat, eine Portion Briám, ein Tellerchen Oliven, Tzatzíki, gefüllte Tomaten, Oktopus und dazu einen Korb mit einem halben angeschnittenen frischen Weißbrot mit Sesamkörnern. Der Duft der Speisen, der traumhafte Ausblick auf die im Mondlicht erstrahlende Bucht von Toló und die Atmosphäre auf der Terrasse waren berauschend. Zwischen den vielen kleinen Tellern, die Perikles zu uns brachte, hatte er immer wieder Gelegenheit, an den anderen Tischen mit den jungen weiblichen Gästen zu flirten oder mit älteren Damen zu kokettieren.
An diesem Abend probierte ich zum ersten Mal in meinem Leben Oktopus. Der Anblick des ganzen Beines mit seinen zahlreichen Saugnäpfen daran, war aufregend. Als ich den ersten Happen zum Mund führte, kostete es mich eine gewisse Überwindung, doch als ich in das zarte, feste Fleisch biss, war ich urplötzlich zu einem begeisterten Oktopus-Esser geworden. Es schmeckte traumhaft. Stefan bestellte noch das eine oder andere halbe Kilo Wein – Wein wird in Griechenland nach Kilo geordert – und wir genossen jeden Happen und unsere langen Gespräche über das Land der Hellenen. Und auch darüber, wie es eigentlich Stefan nach Toló verschlagen hatte: Als er 17 Jahre alt war, verbrachte er zusammen mit seiner Mutter einen Sommerurlaub in Griechenland. Mit dem Auto fuhren sie viel umher, besuchten archäologische Stätten und auch ein Besuch im Theater von Epidaurus sollte natürlich nicht fehlen. An einem Wochenende wollten sie sich eine Theateraufführung dort ansehen. Zu dieser Zeit musste man die Eintrittskarten für die Abendveranstaltungen bereits am Mittag lösen, was Stefan und seine Mutter dann auch taten. Nach dem Erwerb der Tickets verblieben ihnen noch reichlich Stunden Zeit bis zur Aufführung und so beschlossen sie, irgendwo im Meer zu baden. Von Toló hatte ihnen einmal irgendjemand erzählt, und da es nicht weit war, fuhren sie in den damals kleinen Fischerort. Sie landeten direkt in der Taverne von Aristidis Niotis. Sie badeten vor der Terrasse im Meer, aßen anschließend lecker zu Mittag und als sie sich noch salzig vom Bad im Meer wieder in die Kleidung zwängen wollten, bot ihnen Aristidis spontan an, die Duschen über der Taverne zu benutzen, die eigentlich für die Übernachtungsgäste da waren. Wenn Aristides jemanden sympathisch fand, dann erlaubte er ihm oder ihr fast alles und seine Gastfreundschaft kannte keine Grenzen. Aber auch das genaue Gegenteil konnte der Fall sein. Wenn ihm nämlich jemand gar nicht gefiel, dann konnte es sogar vorkommen, dass derjenige nicht einmal etwas zu essen bekam. Wenn dann in der Küche die Töpfe voll waren und der Grillduft nach außen drang, sagte Aristides einfach in stoischer Ruhe: »Tut mir leid, aber es ist alles für morgen vorbestellt.«
Wir waren heilfroh, dass Aristides auch uns scheinbar gut leiden konnte. Weit nach Mitternacht fielen wir todmüde und wohlig-satt in unsere Betten.