Читать книгу Heimathafen Hellas - Edit Engelmann, Andreas Deffner - Страница 12
4 ATHEN – TOLÓ MIT KTEL & CO. Im Biotop der legendären Überlandbusse
ОглавлениеIm Herbst 1993, nur wenige Wochen nachdem wir von unserem ersten Griechenlandurlaub zurückgekehrt waren, verspürte ich eine grenzenlose Lust, auch im folgenden Jahr wieder nach Toló zu reisen. Als ich in die konkretere Ferienplanung einstieg, musste ich entsetzt feststellen, dass keiner meiner Freunde im September 1994 Zeit hatte, zu verreisen. Ich hingegen konnte nur genau in diesem Monat. Enttäuscht überlegte ich lange hin und her. Als 19-Jähriger verreist so mancher ungern allein. Für mich wäre es zudem das erste Mal gewesen. Doch da mich das Toló-Fieber bereits gepackt hatte, fragte ich Stefan, ob er Perikles anrufen und fragen könne, ob er für drei Wochen ein Zimmer für mich hätte. »Selbstverständlich«, war die Antwort, und so buchte ich mir einen Flug nach Athen. Noch nie zuvor war ich in der griechischen Hauptstadt gewesen, aber ich verließ mich wieder einmal auf Stefans Anreise-Tipps. Diesmal hatte mir mein ehemaliger Lehrer nicht einmal einen Zettel zugesteckt. In Gedanken ging ich mehrmals durch, was er mir geraten hatte: Ich sollte vom Flughafen den Bus in Richtung Stadtzentrum nehmen. Am Omónia-Platz würde irgendwo ein Bus zum Peloponnes-Busbahnhof abfahren, von wo ich dann mit dem Überlandbus der KTEL nach Náfplion fahren sollte. Von Náfplion, der ersten Hauptstadt Griechenlands, führe dann schließlich ein Bus nach Toló.
Das Ganze klang einfach und so merkte ich mir nur »Omónia«, die Nummer des Busses der von dort weiterfahren sollte und das Wort für Busbahnhof, »Stathmós Leoforíon«, zu dem mich die Linie 051 bringen würde. Der Rest wäre ein Klacks. Aber als ich am hoffnungslos überfüllten, alten Flughafen von Athen ankam, fragte ich mich, ob ich überhaupt jemals das Gebäude verlassen würde. Der seit 1938 in Betrieb befindliche staatliche Flughafen, der erst im Jahr 2001 durch einen neuen, deutlich größeren ersetzt wurde, war in die Jahre gekommen und nicht erst im Jahr 1994 viel zu klein. Erst nach über zwei Stunden hielt ich in einem chaotischen Durcheinander an den Gepäckausgabebändern meine Reisetasche in den Händen. Der Ausweg aus der Ankunftshalle war schon eine Tortur, aber als ich ins Freie trat, schlug der griechische Sommer erbarmungslos zu. Es war zwar September, aber das hinderte das Klima nicht daran, im Hochsommermodus zu verharren. Bereits am Vormittag zeigte das Thermometer knapp 40 Grad. Zwei Soldaten in kompletten Kampfanzügen und mit Maschinengewehren im Anschlag patrouillierten vor dem Flughafengebäude. Alleine ihr Anblick lies den Schweiß nicht nur aus meinen Stirnporen fließen. Schräg gegenüber auf dem Parkplatz stand ein kleines Panzerfahrzeug der Armee. Zugegeben, ich war etwas eingeschüchtert. Die Griechen legten offenbar großen Wert auf Sicherheit und fürchteten scheinbar selbst in der größten Sommerhitze stets einen türkischen Angriff. Mir erschien das etwas übertrieben und ich besann mich lieber auf das Wesentliche.
Nach kurzem Suchen fand ich eine Bushaltestelle und auf meine in Englisch an eine ältere Dame gerichtete Frage, ob der Bus nach Omónia fahren würde, drehten sich etwa fünfzehn Personen um, die mir alle zeitgleich und wild durcheinander gestikulierend bestätigten, dass ich auf dem richtigen Weg sei.
»Ne, ne, ne Omónia.«
Gut, dass ich mich sofort daran erinnerte, dass das griechische ναι (ne) ja bedeutet.
»Yes, this bus goes to the Syntagma-Square.« »To the city centre, of course!« Die unterschiedlichen Ortsangaben verwirrten mich zwar, dennoch stieg ich in den gut gefüllten Bus, dessen Ziel ja offenbar das Stadtzentrum sein musste. Es war heiß und stickig, Klimaanlagen hatten damals nur wenige Busse. Meiner jedenfalls nicht. Am Syntagma-Platz, neben dem Parlamentsgebäude, wurde das Gedränge im alten gelben Omnibus noch hektischer. Touristen stiegen ebenso ein und aus, wie zahlreiche Einheimische. Einige der am Flughafen mit mir eingestiegenen Griechen riefen mir nun wieder etwas zu. Ich müsse hier umsteigen, verstand ich. Und so wechselte ich kurzerhand von einem alten gelben Bus in einen anderen, der nur wenige Minuten später an derselben Haltestelle abfuhr. Bis Omónia waren es nur wenige Haltestellen, trotzdem dauerte es durch den Dauerstau im Athener Zentrum eine gefühlte Ewigkeit. Diesmal war es der freundliche Busfahrer, der mir kurz vor meinem Ziel Bescheid gab: »An der nächsten Haltestelle musst du raus. Schönen Tag und gute Reise!« So stand ich Stunden nach meiner Ankunft in Athen endlich am Omónia-Platz. Durchgeschwitzt, durstig und hungrig. An dem zentralen Platz des alten Athener Stadtzentrums wimmelte es nur so von Menschen jeden Alters und jeder erdenklichen Hautfarbe. Fliegende Händler boten Uhren feil, an kleinen Ständen wurden Sonnenbrillen, Ledergürtel, Fußballtrikots oder Sesamkringel verkauft und am Straßenrand des Kreisverkehrs reckten verzweifelt Fußgänger Hände in die Höhe, mit denen sie versuchten, eines der unzähligen, vorbeieilenden gelben Athener Taxis anzuhalten. In diesem Tumult landete ich mit meiner viel zu schweren Tasche. Angesichts der Temperaturen war die rollenlose Reisetasche verflucht schwer zu schleppen. Vermutlich war es ein Grieche, der die damals noch kaum verbreiteten rollbaren Trolley-Koffer erfunden hatte. Ich schwitzte, und nun begann die Suche nach dem Bus der Linie 051. Nachdem ich einmal um den gesamten Platz gelaufen war und an keiner der zahlreichen Haltestellen einen Hinweis auf die richtige Linie gefunden hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu fragen. Irgendwann gelang es mir einen älteren Herrn zu finden, der den Bus zum Busbahnhof kannte. Die Haltestelle sei aber nicht direkt am Omónia-Platz, erfuhr ich von ihm. »Sie müssen hier vorne die Hauptstraße hinab und dann an der dritten Straße nach links abbiegen.« Ich bedankte mich bei dem freundlichen Herrn, verfluchte mein Reisegepäck und schleppte mich weiter durch die Athener Hitze. Tatsächlich fand ich die Haltestelle, musste aber noch eine ganze Weile auf den nächsten Bus warten. An einem Períptero, einem der unzähligen Kioske am Straßenrand, kaufte ich mir eine Flasche Wasser, die ich in einem Schluck leerte. Als sich schließlich der Bus näherte, bekam ich Sorge, dass ich meine Weiterfahrt ohne meine verdammte Tasche antreten müsste. Denn im Inneren des alten blau-weißen MAN-Gefährts standen Menschen dicht aneinandergedrängt. Es gelang mir dann doch irgendwie einen Stehplatz für mich und meine Tasche zu ergattern, der genau unter einem Haltegriff einem schmalen Menschen knapp Platz bot. Instinktiv griff ich, als der Bus anfuhr, mit meiner schwitzigen Hand nach der porösen Plastikschlaufe. Etwa dreißig von ihnen mochte es in dem Bus geben. Die allermeisten waren frei und baumelten von einer Längsstange herab über den vielen Köpfen der Insassen. Als meine Hand in die Schlaufe glitschte, wurde mir bewusst, warum niemand außer mir und der uralten Frau neben mir sich daran festhalten wollte. Ein schlüpfrig-klebriges Gefühl, wie es nur Generationen getrockneter Schweißschichten auf uraltem, porösem Plastik verursachen können. Mit einem Schlag war meine völlig durchgeschwitzte Kleidung an meinem erschöpften Körper nur noch ein Nebenproblem. Wie angewurzelt stand ich nun stocksteif im Gedränge des Busses, blickte zuerst auf meine Hand, dann auf diejenige, die in der Nachbarschlaufe verkrallt war. Sie gehörte zu der etwa 80-jährigen Frau neben mir, die sich krampfhaft daran festhielt, obwohl ein Umfallen im Bus aufgrund der Menschenmenge schlichtweg unmöglich war. Ein unangenehmer Geruch drang in meine Nase. Alter Schweiß mit einer Nuance Knoblauch und einem Hauch alten Tabakqualms, der sich in selten gewaschener Kleidung sammelt. Mein Blick wanderte den altersfleckigen Arm der Alten hinab und in der freien Achselhöhle sah ich ein dichtes, altersgraues Haarbüschel. Mitten im Leben, ging es mir durch den Kopf, und gleichzeitig so kurz davor aus demselben zu treten. Während mir der Schweiß auf der Stirn stand und über den Rücken in die Unterhose tropfte, blieb die alte Frau neben mir völlig trocken. Keine einzige Schweißperle war zu sehen, obwohl sich der Geruch desselben im Bus beißend ausgebreitet hatte. Die Frau guckte nun gutmütig und gelassen zu mir. Sie lächelte und es sah so aus, als wollte sie sagen: »Ach mein Junge, es sind doch nur noch zwei Haltestellen. Halte durch!« Und in der Tat: Ich überlebte und am Busbahnhof fiel ich halb bewusstlos fast aufs Pflaster.
Mit letzter Kraft wankte ich ins klimatisierte, alte Gebäude der KTEL, der griechischen Überlandbusgesellschaft. In der Halle blickte ich auf gut und gerne zwanzig bis dreißig Ticketschalter. Über den kleinen Glaskabinen war jeweils ein Schild mit einem Stadtnamen angebracht. Mit den Überlandbussen, die seit den 50er-Jahren ganz Griechenland befahren und seit 1973 als Gemeinschaftsunternehmen KTEL firmieren, erreichte man fast jede Ecke des Landes. Dennoch war ich angesichts der vielen Ortsnamen beeindruckt. Ich hatte den Schalter mit der Überschrift »Náfplion« bereits beim Eintreten gesehen. Und ich war überrascht, dass scheinbar für jede Destination ein eigener Fahrkartenschalter vorgehalten wurde. Hinter den allermeisten langweilten sich augenscheinlich die Angestellten. Ich hingegen reihte mich in die Schlange derjenigen ein, die nach Náfplion oder Argos wollten. Stündlich fuhren die Busse ab. Als ich an der Reihe war, war noch eine gute halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Busses. Auf Englisch bestellte ich einen Fahrschein nach Náfplion und war erstens überrascht, wie preiswert das Ticket war und zweitens wie unproblematisch es mir gelungen war, es zu kaufen. Die Dame hinter dem Tresen druckte mir einen blau-weißen, länglichen Fahrschein aus, auf dem das Ziel, eine Sitzplatznummer und die Abfahrtszeit angegeben waren. Ich stutzte beim Anblick der aufgedruckten Abfahrtszeit. Schnell wendete ich mich wieder der Schalterdame zu.
»Ich wollte mit dem Bus fahren, der in einer halben Stunde abfährt«, sagte ich zu ihr. Sie nickte wissend und antwortete:
»Ja, ich weiß, aber der Bus ist schon voll. Der nächste kommt dann in eineinhalb Stunden.«
Ich muss ein wenig verstört geguckt haben, denn die nächsten Wartenden in der Reihe schauten mich mitleidig an. Von den Strapazen der bisherigen Anreise gezeichnet und von der Hoffnung auf einen baldigen Bus enttäuscht, räumte ich schweren Mutes den Platz am Fahrkartenschalter. Im hinteren Teil des Busbahnhofgebäudes gab es neben einigen Verkaufsständen auch ein Café in Wartehallenatmosphäre par excellence, ein echtes griechisches Kafeneíon eben. An den kleinen, runden Kaffeehaustischen saßen Reisende neben ihren vollgepackten Taschen, Koffern, Kisten und Sperrgütern. Der gesamte Raum war in ein qualmiges, blaugraues Licht getaucht. Hier schien jeder zu rauchen und der griechische Tabak der Marke Basmas für Zigaretten der Firmen Karelia und Co. vermochte einen besonders dichten Qualm zu erzeugen. Zwar war der Aufenthalt in dieser Räucherhöhle für einen Nichtraucher aufgrund des Brennens in der Lunge nicht ganz optimal, dennoch faszinierte mich das Ambiente und ich holte mir an der langen Selbstbedienungstheke eine Tirópita und einen Frappé. Ich hatte im Vorjahr diese Kombination aus mit Feta gefüllten Blätterteigtaschen und dem herrlich frischen Eiskaffee liebgewonnen. Ich setzte mich mit meinem kleinen Mittagessen an einen der letzten freien Tische und beobachtete die rauchgeschwängerte Szenerie, als sich ein etwa 50-jähriger Grieche an meinen Tisch gesellte. Er sah mir offenbar an, dass ich Ausländer war und sprach mich daher auf Englisch an: »Wohin geht denn die Reise? Wo kommst du her? Wie war das Wetter bei euch dort oben? Zahlen sie gute Löhne in Europa? Schmeckt der Frappé? Kennst du dich mit Gartenarbeit aus? Von welchem Fußballverein bist du Fan?« Ein Fragengewitter ging auf mich nieder. Der Grieche war scheinbar in Frage- und Erzähllaune. Er sei ungelernter Arbeiter, schaffe als Gärtner und Hausmeister in den noblen Athener Vororten und nun sei er auf dem Weg in sein Heimatdorf. Das alles und seine vermutlich fast vollständige Lebensgeschichte erfuhr ich, zwischen Tirópita und Frappé, innerhalb weniger Minuten, dann musste er los. Ich könne aber ruhig nochmal zur Toilette gehen, wenn ich müsse. Er würde dann auf meine Tasche aufpassen. Als misstrauischer Nordeuropäer würde man dieses Angebot aus Sicherheitsgründen natürlich ablehnen, ich fühlte mich jedoch dem Gärtner, meinem neuen griechischen Freund, in der Pflicht, der kurz zuvor ebenfalls im Keller bei den WCs gewesen war, während ich ein Auge auf sein Gepäck geworfen hatte. Im Übrigen konnte mir an diesem Tag eh nichts Schlimmes mehr passieren und Kostas war mir sympathisch. Ich eilte also zum Klo. In meinem Magen machte sich nun dennoch ein mulmiges Gefühl breit. Geld, Ausweis und Bustickets hatte ich zwar in der Hosentasche, aber was, wenn Kostas gar kein Gärtner, sondern ein fixer Taschendieb wäre? Ich beeilte mich, in dem schlecht gekachelten und nach altem Urin miefenden Raum fertig zu werden. Flink wusch ich mir noch die Hände – Seife gab es keine, Papierhandtücher oder ähnliches ebenfalls nicht – und wollte mit nassen Händen gerade wieder die Treppe hinauf sprinten, als mir eine dicke Klofrau fröhlich lächelnd einige Blätter abgewickeltes Toilettenpapier in die Hände drückte. Offenbar war dies der übliche Handtuchersatz, denn die gute Frau hatte an ihrem kleinen Tisch gleich mehrere Stapel des grauen Zellstoffes für die handfeuchten Gäste vorbereitet. Von der Freundlichkeit beeindruckt, kramte ich einen 100-Drachmen-Schein hervor, legte ihn der Frau auf ihr Tellerchen und hätte dabei fast vergessen, dass ich mein Reisegepäck nach wie vor einem Fremden anvertraute. Gehetzt erreichte ich wieder das Tischchen, an dem Kostas weiterhin in aller Seelenruhe an seinem griechischen Kaffee nippte. »Schön dich kennengelernt zu haben, aber ich muss mich jetzt leider verabschieden. Mein Bus fährt in drei Minuten ab«, sagte Kostas und verschwand. Mit ihm mein Misstrauen. Natürlich hatte er nichts gestohlen, natürlich nicht einmal daran gedacht.
Eine gute halbe Stunde vor der planmäßigen Abfahrt meines Busses machte ich mich auf, den richtigen Abfahrtsplatz zu finden. Es wimmelte nur so von Bussen, die Athen in alle Himmelsrichtungen verließen. Menschen und Taxis drängten umher. Ein uralter Greis mit einer großen Sackkarre bot sich gegen Bezahlung an, die schweren Koffer der Reisenden zu den Bussen zu transportieren. Ich verzichtete auf seine Dienste und kaufte mir stattdessen Wasser. Noch im Kafeneíon des Busbahnhofgebäudes hatte ich beobachtet, dass offenbar jeder griechische Busreisende mindestens eine 0,5 Liter Plastikflasche mit kaltem, stillem Mineralwasser kaufte, bevor er die Busreise antrat. Ich tat es ihnen gleich. Fast so zielsicher wie ein Einheimischer überquerte ich den großen, offenen Busabfahrtsplatz, der sich unter Wellblechdächern an das Busbahnhofgebäude anschloss. Am allerletzten Haltepunkt, direkt an der Ausfahrt, fand ich genau dort, wo Gärtner Kostas es mir erklärt hatte, das Schild mit dem Hinweis auf die Abfahrt nach Náfplion. Ein alter Mercedes-Benz Bus mit ansehnlichen Chromstoßstangen und -außenspiegeln stand bereits abfahrtbereit daneben. Ein grauhaariger, älterer Herr, tadellos gekleidet, mit Anzughose, weit offenem gestärkten Hemd und Goldkettchen, saß unter dem Haltestellenschild. Vor ihm stapelten sich schätzungsweise fünfzig kleine Pakete und Päckchen; alle gut verschnürt. Ich sah mich um und begriff, dass man hier auch sein Gepäck verschicken konnte, ohne dass man selbst mitfahren musste. Ein geschickter, halbvollständiger Kurierdienst. Der ältere Mann, der scheinbar die Aufgabe eines Paketaufsehers hatte, fragte mich urplötzlich, wohin ich wolle. Als ich ihm mein Ziel nannte, antwortete er: »Setz dich! Wir rufen, wenn es los geht.« Und so hockte ich mich neben ihn auf die schmale Holzbank. Leute kamen, brachten und holten Pakete. Ich bestaunte das muntere Treiben. Eine alte Frau trug hektisch einen kleinen Umschlag heran und redete auf den Paketwart ein. Griechisch, ich verstand kein Wort. Als die Alte sichtlich beruhigt von dannen zog, erklärte mir der Paketwärter, der meinen fragenden Blick gesehen hatte, in gebrochenem Englisch, dass die Tochter der Frau übers Wochenende ans Meer gefahren sei, aber den Schlüssel für das Wochenendhaus vergessen hätte. Er lächelte und sagte: »Jetzt bringt ihn eben die KTEL.« Sie waren stolz auf ihr beliebtes Busunternehmen.
Irgendwann erschien unser Busfahrer und setzte sich mürrischen Blickes hinter das Steuer. Goldene Kreuze baumelten vom Rückspiegel, auf den Ablageflächen standen kleine Miniaturaltare, Heiligenbildchen und Ikonen. Während ich noch, vor so viel Gläubigkeit überrascht, zum Fahrer blickte, erschien kurz darauf ein Gehilfe und öffnete die Kofferraumklappen auf beiden Seiten des Busses. Ein dritter Mann tauchte auf und rief laut: »Náfplio!« Die zahlreichen wartenden Passagiere brachten ihm ihre Taschen, die er eilig in der rechten Seite des Ladefachs verstaute. Ich reihte mich ein und als ich dran war, stockte plötzlich die Verladefreude des KTEL-Mannes. »Argos?«, fragte er mich irritiert. »Náfplio«, sagte ich. Daraufhin bedeutete er mir, dass ich meine Tasche auf der linken Seite einladen lassen müsste. Ordnung muss eben sein! Linksseitig des Busses erwartete mich und einige andere Touristen ein weiterer KTEL-Mann, der die Taschen nach Náfplion verstaute. Dann konnte es endlich losgehen. Beim Einstieg in den Reisebus forderte mich jetzt noch ein Fahrkartenkontrolleur auf, das Ticket vorzuzeigen. Er riss eine Hälfte ab, dann durfte ich im grün-beigefarbenen Gefährt mit den roten Plüschsitzen Platz nehmen. Inzwischen hatte ich natürlich vergessen, dass es zugewiesene Sitzplätze gab. Dies fiel erst auf, als sich der Bus bis fast auf den letzten Platz gefüllt hatte und eine große schwere Frau mit Plastiktüten in den Händen meinen Sitzplatz für sich beanspruchte. Die Frau, von einem langen Einkaufstag gezeichnet, wollte einfach nur noch sitzen und konnte es gar nicht verstehen, dass so ein Jungspund ihren Platz okkupierte. Eine gepflegte Konversation wollte so selbstverständlich nicht entstehen und so begann ein wuseliger Tumult. Denn natürlich war mein mir per Ticket zugewiesener Sitzplatz inzwischen ebenfalls anderweitig besetzt. Der darauf sitzende junge Mann wiederrum fand den seinigen ebenfalls belegt, genauso wie der dort Sitzende seinen und so weiter … Ein Tohuwabohu an dessen Ende scheinbar alle Insassen, bis auf die Frau mit den Tüten, auf einem anderen Polster saßen. Ein weiterer KTEL-Mitarbeiter stieg nun zu und gab das Signal zur Abfahrt: »Φύγε!« (Fíge! – Gehe!) Mit einigen Minuten Verspätung und noch offen stehender vorderer Einstiegstür fuhren wir, nachdem sich der Fahrer vor einem seiner Heiligenbilder dreimal bekreuzigt hatte, schließlich ab, und nach nur wenigen Minuten steckte der Bus auf der stadtauswärts führenden Straße in Richtung Korinth in einem hupenden und abgasgeschwängerten Stau. Es war heiß und stickig. Eine Klimaanlage hatte der alte Reisebus deutscher Bauart nicht. Dafür ließen sich die kleinen Schiebefenster öffnen und heißer Fahrt-, aber meistens staubedingter Standwind, sorgte für eine winzige Erfrischung. Als wir nach über dreistündiger Fahrt endlich im 120 Kilometer entfernten Argos ankamen, wurde mir klar, warum das Reisegepäck links und rechts getrennt im Bus untergebracht wurde. Die enge Straße vor dem Busbahnhof in Argos war gerade einmal breit genug, damit die Ladeluke an der rechten Seite zum Bürgersteig hin geöffnet werden konnte. Jetzt musste alles schnell gehen, denn der Gegenverkehr kam nicht am Bus vorbei. Gehetzt sprangen diejenigen, die ihr Reiseziel erreicht hatten, raus, dann ging es auch schon weiter. Kurz darauf erreichten wir Náfplion, die Endhaltestelle. Dort war der Bus nach Toló leicht zu finden, doch ich musste eine weitere halbe Stunde auf seine Abfahrt warten. Doch schließlich gelang mir auch das und am späten Nachmittag stieg ich auf der Sekeri-Straße gegenüber der alten Bäckerei aus. Ich war endlich wieder in Toló. Die letzten Meter die Straße hinab bis zur Taverne von Perikles waren nur noch ein Katzensprung und die Begrüßung dort euphorisch. An diesem Abend schlief ich früh und tief und fest.