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3.2.3 Anthropologische Entwürfe von Erziehung

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Bilder von Erziehung

So wie der Erziehungsbegriff über einen metaphorischen Kern verfügt, sind die mit ihm verbundenen Vorstellungen gleichfalls in Bildern verdichtet. Metaphern und Bilder illustrieren das Verhältnis, das der Mensch zu seiner Welt hat. Sie transportieren Bedeutungsschichten sowie Sinnzusammenhänge, die tief mit den Auffassungen von Mensch und Welt verwoben sind, gleichzeitig sortieren sie vorreflexiv, was erzieherisch in den Blick geraten soll. Im Vorhinein werden erzieherische Praxen durch grundlegend normative Annahmen und durch „implizite Anthropologeme“ (BILSTEIN 2008, S. 51) legitimiert.

Menschenbilder

Nehmen wir als Beispiel Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): Er begreift den Menschen als von Natur aus gut, erst die Gesellschaft und Zivilisation verderben ihn (vgl. Kap. 4). Ganz anders ist dagegen das Bild des Menschen von Heinrich Pestalozzi (1746–1827):

„Der Mensch […] ist von Natur, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, träg’, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam und ohne Grenzen gierig und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm, verschlagen, heimtückisch, mißtrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig und grausam. Das ist der Mensch, wie er von Natur, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, werden muß; er raubet, wie er ißt, und mordet, wie er schläft.“ (PESTALOZZI 1787/31981 S. 237f.)

Johann Gottfried Herder (1744–1803) wiederum verweist in seinen „Ideen“ nicht auf die Triebnatur des Menschen, sondern auf die Hoheit der menschlichen Bestimmung, die in „den großen Gaben Vernunft und Freiheit“ (HERDER, 1784/21887, S. 146) zum Ausdruck kommt. Für Herder ist der Mensch „der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängen an ihm: er kann forschen, er soll wählen“ (HERDER 1784/21887, S. 146). Vernunft, Freiheit und Humanität sind hier die bestimmenden Größen.

Fiktionen vom Menschen

Bis heute lassen sich Bilder und Ansichten vom Menschen fortschreiben. Wie aber kommt es zu diesen heterogenen Bildern? Sie entstehen im Kontext anthropologischer Fiktionen vom Menschen, von der Gesellschaft, der Welt und Kultur und sind an historische Vorstellungen – zumeist an die alltägliche Erfahrungswelt – gebunden. Diese Bilder finden ihren Brennpunkt in den Metaphern von Erziehung, die sich oft schlichtweg mit dem Alltagsverständnis einer Zeit und deren soziokulturellen Normen decken. Dabei bleibt die Erfahrung von Erziehung selbst (vgl. Kafkas „Brief an den Vater“) unthematisiert, denn diese Metaphern gehen vor allem von der Perspektive des Erziehers aus. Das Gelingen der Erziehung steht nach rechter Befolgung außer Frage. Die Bilder verändern also je nach Standort der Betrachtung ihr Gesicht.

Erziehungsvorstellungen

Wenden wir uns nunmehr sieben solcher metaphorischen Erziehungslogiken zu, mit dem analytisch-kritischen Ziel die Aufmerksamkeit auf normative Erziehungsvorstellungen in der Gestalt von „Vorbildern“ zu lenken.

Metapher des Wachsenlassens

Wachsenlassen: Der Erzieher als Gärtner

Die Metapher des Wachsenlassens suggeriert zunächst ein gänzlich freies Entfalten ohne erzieherische Einflussnahme. Tatsächlich aber ist Erziehung zu keiner Zeit als bloßes Wachsenlassen verstanden worden, immer gibt es subtile Formen der indirekten Einwirkung, die als effektive erzieherische Machtpraktiken wirken, nämlich die Suggestion freier Entscheidung und ungestörter Entwicklung in Form pädagogischer Führung. Das Bild des Wachsenlassens stammt aus dem Bereich der Natur. So wie die Natur müssen der Mensch und seine Seele bearbeitet werden (cultura animi), damit die an sich „guten Anlagen“ ihrer Vervollkommnung zugeführt werden können. Im Samenkorn selbst ist seine Vollendung – seine natürliche Entwicklung und Reife – bereits als Gesetz angelegt. Um dieses Wachstum zu fördern, bedarf es des erzieherischen Eingriffs in die menschliche Natur. Der Erzieher erweist sich als Gärtner, der sich um den „Zögling“, auch mit Blick auf die zu erwartenden Früchte, sorgt. Teile dieser Sorge sind dann die üblichen Gartenarbeiten: das Zurechtschneiden, Bewässern, Unkraut jäten, das Aussondern schlechter Pflanzen, damit die gesunden und kräftigen sich entwickeln können, der Schutz vor Witterung und Ungezieferbefall sowie das Aufrichten, das Erziehen.

„Wer sich nicht zu dem Glauben aufschwingen kann, daß in jedem Menschen ein guter Kern steckt, aus dem sich das Gute von selbst entwickelt, wenn wir nur Hemmungen und Schädlinge fernzuhalten wissen, der sollte sich nicht mit Erziehung und Unterricht befassen.“ (OTTO 1929, S. 3)

Erziehung geht hier also von einer natürlichen Anlage und Entwicklung des Menschen aus, in die allerdings eingegriffen werden muss, um die Natur zu „verbessern“, so der unterschwellige Zuchtgedanke, der diesem Erziehungsbegriff innewohnt. Aus der Perspektive der „Zöglinge“ können diese „Gärtnerarbeiten“ unterschiedliche Formen annehmen, die bis hin zum Strafen zum Wohle der Kultivierung reichen. Gegenwärtig erhält der Anspruch des züchterischen Eingriffs in die menschliche Natur zur „Verbesserung“ des Menschen u.a. durch die Genforschung eine pädagogische Brisanz (vgl. MEYER-DRAWE 2001).

Führungsmetaphorik

Führen: Der Erzieher als „Hirte“

Neben dem Bild des Wachsenlassens ist auch das des Führens von großer pädagogischer Bedeutung. Bereits in der griechischen Antike führt der paidagogos die Knaben schützend zur Schule. Theodor Litt (1880–1962) hat mit seiner Schrift „Führen oder Wachsenlassen“ auf die Relevanz, Komplementarität und Spannung dieser Metapher hingewiesen.

Führen und Begleiten

Die Metapher des Führens und Begleitens gehört in das weite Feld der „Hirtenlogik“. Den rechten Weg findet der Zögling mit Hilfe seines Begleiters, der im biblischen Hirten ein Vorbild hat. Wer auf die „schiefe“ Bahn gerät, muss wieder auf den rechten Lebensweg gebracht werden, so die Vorstellung. Die zu Erziehenden haben sich zu ihrem eigenen Wohle der Führung des „Hirten“ unterzuordnen. Das Führen wird durch die Schutzfunktion für die Zeit der Unmündigkeit und Hilflosigkeit legitimiert. Die Metapher des Führens zeigt darin auch eine Nähe zur Vorstellung des Erziehers als „Anwalt des Kindes“. Aus Sicht des „Geführten“ wirkt ein solches Erziehungsverhältnis ausschließlich hierarchisch: Der Führer allein kennt den Weg und das Ziel, der Zögling hat ihm mitunter auch blind und gegen seinen Willen zu folgen.

Prägen und Füllen: Der Erzieher als Belehrender

Wenn von der geistigen Entwicklung eines Kindes gesprochen wird, werden gern Bilder der Schöpfung, Zeugung, des Füllens und des Prägens verwendet. Der Zögling wird dann mit einem leeren Blatt (tabula rasa), einem nicht gefüllten Gefäß oder einer zu beschreibenden Wachstafel verglichen. Der Edukandus wird normiert („prägen“), einer Ordnung einverleibt („beschreiben/beschriften“) oder indoktriniert („anfüllen“) und stellt als Erziehungsobjekt lediglich das Material dar; Form und Inhalt liefern das erzieherische Tun, die moralische Belehrung und der Unterricht.

Prägemetapher

Entwicklungspsychologisch wird diese Erziehungsform auf „Prägephasen“ zurückgeführt, also darauf, dass Heranwachsende in bestimmten „Zeitfenstern“ für erzieherische Praktiken und Lerngegenstände empfänglich und aufgeschlossen sind. Zurzeit wird die Prägemetapher erneut unter dem Gesichtspunkt neuronaler Verknüpfungen aufgegriffen.

Schöpfungsmetapher

Schöpfung und Zeugung: Der Erzieher als Schöpfer

Diese Metapher, die sich oft implizit und unreflektiert in vielen Erziehungsvorstellungen findet, ist sehr vielschichtig und bis heute wirkmächtig. Sie reicht bis hin zu konstruktivistisch-autopoietischen Konzeptionen, in denen das Kind zum Schöpfer seiner selbst wird. Die Schöpfungsmetaphorik ist verwandt mit Fiktionen, die den Neuen Menschen und eine neue Welt zum Gegenstand haben. Das Kind steht im Kontext von Schöpfung und Zeugung für das Neue und ist Signum einer heilsversprechenden, besseren, ökonomischen oder gattungsgeschichtlichen Zukunft. Die Verbindung des Schöpfungsgedankens mit dem der Züchtung findet sich zum Anfang des 20. Jahrhunderts bei der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key (1849–1926). In ihrem epochemachenden Werk „Das Jahrhundert des Kindes“ (1902/1992) bringt sie den intendierten Eingriff in die menschliche Natur mit dem Anspruch der Schöpfung eines „Neuen Menschen“ zum Ausdruck.

„Man findet schon den menschlichen Willen entscheidend bei der Züchtung neuer und höherer Arten in der Tier- und Pflanzenwelt. In Bezug auf unser eigenes Geschlecht, auf die Erhöhung des Menschentypus, die Veredelung der menschlichen Rassen herrscht hingegen noch der Zufall in schöner oder hässlicher Gestalt.“ (KEY 71905, S. 5)

In einer anderen Schöpfungsmetaphorik wird der Erzieher als Architekt und Baumeister gesehen, der die Pläne Gottes zu lesen und umzusetzen vermag. Der Architekt als intellectus practicus oder deus minor entwirft pädagogische Räume und schafft nach dem Vorbild Gottes das „Werk“, nämlich ein gut erzogenes sittliches Kind.

Lichtmetaphorik

Licht und Erweckung: Der Erzieher als Aufklärer

Die Erziehung positioniert sich häufig in Dualismen. So entspringt ein großes metaphorisches Feld aus der Licht- oder Erweckungsmetaphorik, wobei die Erweckungskonnotation bis hin zur religiösen Erleuchtung reichen kann. Der Zögling – ehemals im Dunkeln – wird „erleuchtet“. Insbesondere der Gedanke der Aufklärung ist der Lichtmetaphorik geschuldet, die seit Platon die Vorstellung von Erkenntnis und Wahrheit versinnbildlicht. Bei Johann Amos Comenius (1592–1670) steht das Licht für göttliche Wahrheit und Erkenntnis. Als Geschöpf Gottes trägt der Mensch die Möglichkeit dieser Erkenntnis von Natur aus in sich. Der Erzieher hat nun die Aufgabe, das Licht zu entzünden.

„Lampe, Docht, Öl, Feuerzeug und alles Zubehör stehen bereit: verstünde er nur, Funken zu schlagen und aufzufangen und den Docht zu entzünden, so würde er sogleich der wunderbaren Schätze der göttlichen Weisheit in sich selbst wie in der großen Welt (in der alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet ist), gewahr werden. Welch ein herrlicher Anblick! Da ihm nun aber dies innere Licht nicht angezündet wird, sondern außen die Lampen fremder Ansichten herumgetragen werden, kann es nicht anders ausgehen als bisher: wie ein Gefangener sitzt er in einem finsteren Kerker, an dem Fackeln vorübergetragen werden; die Strahlen dringen durch Ritzen herein, das volle Licht aber kann nicht einfallen.“ (COMENIUS 1657/71992, S. 34)

Aus der Perspektive des Zöglings hat die Lichtmetaphorik den Charakter des Erkennens. Dabei kann die Hinwendung zur „richtigen“ Wahrheit mitunter indoktrinäre Formen annehmen.

Disziplinierungsmetaphorik

Zähmen und Disziplinieren: Der Erzieher als Disziplinierender

Eine anthropologisch wirkmächtige Metaphorik ist die der Zähmung und Disziplinierung. Sie fokussiert den Menschen in seiner Abgrenzung zum Tier. Das „Animalische“ im Menschen muss „bezähmt“, die Natur, die der Mensch von Grunde auf ist, muss beherrscht und „gebrochen“ werden. Nur so kann er seiner selbst gerecht werden.

„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ (KANT 1803/1983, S. 699)

Kulturtechniken

Die Kultivierung der menschlichen Natur erfolgt über Manieren, gesellschaftliche Umgangsformen, sozial-behavioristische Anpassungsstrategien sowie Kulturtechniken, wobei es darauf ankommt, Begierden und Triebe zu steuern und zu beherrschen. Der Körper wird zum Medium der Disziplinierung. Vorrangig ist in dieser Metapher der Gehorsam gegenüber Normen, Regeln und Gesetzen sowie das „Funktionieren“ als gesellschaftliches Glied. Die Zähmung der sogenannten Wildheit ist ein Schritt zur Kultivierung und zum Gebrauch der Vernunft.

„Disziplinieren heißt suchen zu verhüten, daß die Tierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen sowohl, als gesellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit.“ (Ebd., S. 706)

Nach Kant wird die Disziplinierung ausschließlich im Dienste eines späterhin vernünftigen Gebrauchs der Freiheit legitimiert, in gängigen der Praxis aber zielt der Gedanke der Disziplinierung oft auf das Brechen des Eigenwillens des Zöglings ab.

Spielmetaphorik

Spiel und Regeln: Der Erzieher als „Schiedsrichter“

Im Zuge der Veränderung des Disziplinierungsgedankens wird Erziehung gegenwärtig als ein Befolgen von Regeln begriffen. Erziehung ist ein Spiel, dessen Anweisungen in Erziehungscamps oder bei der „Super-Nanny“ vorgeführt werden. In diesem Spiel werden gesellschaftliche Grenzen abgesteckt, innerhalb derer Spielzüge und Strategien möglich sind, sofern die vereinbarten Regeln nicht verletzt werden. Die freiheitliche Entscheidung des Zöglings wird in diesem Spiel erst durch (Selbst-)Kontrolle und das Einhalten von Regeln möglich. Der Erziehende fungiert dabei als eine Art Schiedsrichter, scheinbar neutral, unbestechlich und unparteiisch. So wird der Individualität und der Entwicklung Spielraum gegeben, der aber erst durch die Kontrolle des Einhaltens von Regeln durch den Erzieher als Schiedsrichter gewährleistet ist. Diese Art von Metaphorik entspricht einer Kontrollgesellschaftsform (vgl. DELEUZE 1993). Nicht der Erziehende ist das Erziehungssubjekt, sondern die aufgestellten Regeln. Mit anderen Worten: Die Regeln sind das Subjekt des Erziehens.

Erziehung als Kontrolle

Die vorgestellten Metaphoriken sind Suchfährten für normativ-implizite und unbefragte Leitbilder der Erziehung. Verändert, kompensiert oder kaschiert tauchen diese Metaphern in nahezu jeder Vorstellung von Erziehung auf. Erst aus der Perspektive der Zöglinge wird die asymmetrische Machtstruktur der Erziehungspraktiken offensichtlich, die in diesen Metaphern verborgen liegt.

Grundbegriffe der Pädagogik

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