Читать книгу Die Zweite Welt - Andreas Egger - Страница 9
Brands Weg Kapitel 6
ОглавлениеDer Weg war bekannt, das Ziel klar. Es hatte keinen Sinn, sich Illusionen zu machen und Brand tat dies auch nicht. Es würde zum Kampf kommen, so oder anders. Aber wie genau? Das war der Punkt, um den sich seine Gedanken drehten. Würden sie vor einer Brückenwache stehen, wenn sie Naars Auge erreicht hatten? Oder würden sie in den Sümpfen auf Widerstand stoßen? Waren die Oger wirklich so intelligent? Würden sie den Weg nach Naars Zweifel bewusst abschneiden, um zu verhindern, dass Informationen nach Süden getragen wurden? Man konnte es nicht abschätzen. Sollte die Brücke jedoch bewacht werden, wussten sie wenigstens woran sie waren.
Dies war der eine Teil seiner Gedanken. Der andere betraf seine kleine Armee. Es war alles ungewohnt. Er, Brand, sollte führen. Ohne Garantor fehlte ihm etwas und er versuchte einzuschätzen, welche Vor- und Nachteile verschiedene Strategien bergen mochten. Wenn er sich selbst dazuzählte, verfügte er über vier Bogenschützen. Beachtlich. Dazu noch zwölf Krieger. Diese jedoch konnte er nicht führen. Das bereitete ihm Sorgen. Seine Aufmerksamkeit galt seinem Bogen und den Bögen seiner Männer. Er fürchtete, er würde nicht die Zeit haben, die Schwerter zu befehligen. Wem also sollte er die Befehlsgewalt erteilen? Die großen Strategen und Kämpfer waren mit dem Zwerg gegangen. Der Meister des schnellen Kampfes, Mauran Falkenflug, wobei „schnell“ in doppeltem Sinne zutraf: auf Geist und Körper. Er wäre ein guter Anführer gewesen. Ebenso Cebrid. Sein Zweihänder spaltete Schädel, während er die Situation im Auge behielt und wichtige Entscheidungen treffen konnte. Auf Brube und Zrak traf das nicht zu. Aber wenigstens konnten die laut brüllen und waren unglaublich starke Kämpfer. Zur Not könnten die beiden zusammen die Welt aus den Angeln heben. Brand schmunzelte bei dieser, zugegebenermaßen, leicht übertriebenen Vorstellung. Dann war da noch Thef. Der letzte der fünf Männer, die bei Garantor geblieben waren. Das Verbleiben von eben diesem verwunderte Brand. Schien der schmächtige Mensch doch nicht wirklich loyal zu sein, als hätte er nur sein eigenes Wohlergehen im Kopf. Trotzdem hätte der alte Waldläufer ihn gerne um sich gewusst. Sein Körper ließ ihn unscheinbar wirken, doch tötete er schnell, präzise und mit klarem Geist. Oft wurde er einfach zu wenig ernst genommen. Genau das war es. Er wurde nicht als gleichwertiger Gegner eingestuft, sondern als geringe Gefahr. Spätestens wenn er den nachtschwarzen Mantel auseinanderschlug, mochten seine Gegner ihre Meinung revidieren. Na ja, mit einem Wurfdolch in der Luftröhre dachte man anders.
Auf all diese kampfstarken Männer musste Brand verzichten. So wie auf den Rat und das strategische Verständnis Garantors selbst. Noch nicht mal der Händler war mit ihnen gekommen. Er zog es vor, wieder zu seiner Familie zu gehen und zu hoffen, von den Ogern übersehen zu werden. Das war ein weiterer Minuspunkt, wenn man es genauer betrachtete. Zwar würde der Handelswagen das Vorankommen empfindlich bremsen, aber in Kampfsituationen war er von großem Nutzen. Schon allein der Bogenschützen wegen. Auf ihm konnten sie über den Köpfen der Verbündeten hinweg feuern und hatten alles im Blickfeld. Dadurch würde beinahe jeder Pfeil treffen und vor allem wichtigere Ziele erreichen. Nahkampfkrieger in Bedrängnis könnten leichter unterstützt werden und Brand hätte einen möglichen Kampf so gut im Auge, dass er selbst die nötigen Befehle geben könnte.
Dies waren seine wesentlichsten Gedanken. Er dachte nach, beobachtete seine Männer und schritt aus. So vergingen die Tage, unter Nieselregen und feuchten Nächten.
Erst wenige Tagesmärsche vor Naars Auge, hatte sich Brand für einen unter den Kriegern entschieden. Dimite. Er schien am geeignetsten. Ihm würde er die Befehlsgewalt übertragen. Dimite hatte das Alter dazu und die Kampferfahrung. Das redete Brand sich wenigstens ein. Insgeheim wusste er, dass niemand unter den seinen war, der sich wirklich für diese Aufgabe eignete. Möglicherweise hatte ihn nur der Bart unter dem derben Gesicht des Söldners bewogen, sich auf ihn festzulegen. Irgendwie erinnerte er ihn an Garantor. Wieder schmunzelte Brand, was nun wirklich nicht seine Art war. Das Schicksal des gebeutelten Waldläufers würde sich erfüllen. Das machte ihn irgendwie ruhig und ausgeglichen. Leicht, gelöst, ja unkompliziert schien ihm alles. Er ging davon aus, bald zu sterben und es stellte kein Problem dar. Er hatte genug Tote gezählt, seinen eigenen noch dazu ... was machte es für einen Unterschied? Auf der einen Seite zu allem entschlossen, auf der anderen gleichgültig, sogar todesmutig. So hielten die Extreme der Gedanken seinen Geist im Gleichgewicht, ließen ihn logisch und unbeschwert denken und handeln.
Wenige Tage später hatten sie den nördlichsten Ausläufer der Schluchten um Naars Auge erreicht. Schnell und problemlos waren sie vorangekommen und befanden sich nun hier, an der Stelle wo sich alles entscheiden würde.
Mit behändem Schritt und leiser Sohle war Brand vorausgeeilt, um die Brücke und deren Umfeld zu erkunden. Den halben Tag verbrachte er im sicheren Schutz eines halb verdorrten Feigenstrauchs. Der würde den Winter sicher nicht überleben, dachte Brand bei sich. Mehr gab es nicht zu bemerken. Nichts tat sich. Weder auf, noch im Umfeld der wuchtigen Brücke. Dennoch beschloss er, die Nacht in sicherem Abstand zu verbringen. Weithin scheinende Lagerfeuer würden klaren Aufschluss über Position und Zahl von möglichen Verteidigern bringen. Mit dieser Entscheidung kehrte er zurück und bald nach ihm eine dunkle, kalte, mondlose Nacht. Es gab keine Feuer zu sehen. Nichts was Gefahr verhieß. Brand war erleichtert. Die Oger mochten wohl anders sein, schlauer als vor einiger Zeit. Aber anscheinend waren sie noch nicht wirklich klug. Einen Teil der Krieger, oder gar die Hälfte derer, die Salzheim überrannt hatten, hätte man in den Sümpfen stationieren können, als Garant dafür, dass Naars Zweifel ebenso überrascht und unvorbereitet angetroffen würde, wie die Nordstadt der Menschen. Es hätte keinen Unterschied gemacht, so überlegen war ihre Kampfstärke. Fünfundzwanzigtausend Oger gegen eine spärlich befestigte Stadt. Einige Tausendschaften hätten genügt, die Verluste wären nur wenig höher gewesen.
Mit dem ersten Morgenlicht überquerten sie die Brücke nach Süden. Dies war der einzig mögliche Weg, der es erlaubte, noch vor der feindlichen Armee die Hauptstadt zu erreichen. Sie kamen gut voran. Der einsetzende Winter machte den Untergrund härter. Dadurch sank man kaum ein und auch von Mücken und schwüler Hitze blieben sie verschont. Behutsam und möglichst lautlos schritten sie aus. Kein Wort wurde gewechselt. Dazu war ein jeder von ihnen zu vorsichtig. Dimite ging mit gewölbter Brust und selbstsicherer Miene voraus. Trotz der Umstände fühlte er sich geehrt und gedachte, die ihm auferlegte Rolle zu erfüllen. Nach kurzem Marsch, ein gutes Stück von der zweiten Brücke entfernt, brach Kalad in ein Sumpfloch ein. Es war so klein und unscheinbar, dass er es einfach übersehen hatte. „Ein Seil!“, brüllte Dimite. „Schnell, Ypek, beeil dich!“
Die Situation war nicht wirklich gefährlich. Schnell war der junge Söldner befreit. Schlammüberzogen und keuchend, aber unversehrt, stand er wieder auf festem Untergrund. Das war der Punkt, an dem Brand seine Entscheidung bedauerte. Es gab keine Rechtfertigung für diese übertrieben laute Stimme, dieses selbstgerechte Gehabe. Mit zufriedener Miene klopfte Dimite dem Geretteten auf die Schulter und befahl den Weitermarsch. Brand war beunruhigt, eilte an Dimites Seite und schollt ihn: „Mach nicht so einen Krach, wenn’s nicht sein muss! Beherrsch dich.“
Schon schien der Krieger beleidigt und fühlte sich zu Unrecht gemaßregelt. Doch die Worte des Waldläufers wogen schwerer, als er selbst geahnt hatte. Ein lautes Grunzen war zu vernehmen und bald darauf war ein unförmiges Gesicht zu erkennen. Ein gutes Stück vor ihnen und ein wenig rechts, blickte ein halbwüchsiger Oger in ihre Richtung. Zwischen kahlen, moosbewachsenen Bäumen stand er, hinter ihm nur tiefes Dickicht. „Er hat uns gesehen ...“ Brands Worte hallten nach. Sie verhießen einen bitteren Kampf. Geknurre, raschelnde Sträucher und Baumäste zeugten von weiteren Bestien. Sie sammelten sich.
Mit hängenden Schultern erkannte Dimite seine Dummheit. Er wand sich unsicher um und suchte den Augenkontakt zu seinen Kameraden. Keiner sah ihn an. Alle Gesichter waren nach vorn gerichtet. Schwerter wurden gezogen und Pfeile kontrolliert. Es war einerlei, dachte Dimite. ‚Noch sind wir nicht tot.‘ Die Zeit mahnte zu handeln. „Wir teilen uns auf“, befahl er. „Sechs Mann auf die eine Seite, der Rest bleibt bei mir, die Bogenschützen dazwischen.“
Brand beobachtete, wie sich die zwei Nahkampfgruppen zu beiden Seiten seiner Bogenschützen aufstellten. Das war gut. Dadurch war ein freies Schussfeld gewährleistet - wenigstens bis alles außer Kontrolle geraten mochte.
So standen sie da. Mit grimmiger Miene und gezogenen Waffen, sechzehn an der Zahl. Ihnen gegenüber zeigten sich weitere aufgeschwemmte, zum Teil verunstaltete Fratzen, die eine größer die andere kleiner. Alle mit Hass und Mordlust in den Augen. Es war eine kleine Sippe. Die wirklichen Kämpfer unter ihnen schienen zu fehlen. Sie mochten wohl nach Salzheim gezogen sein. Die meisten waren weiblichen Geschlechts und was noch wichtiger war: nur wenige unter ihnen waren ausgewachsen. Einige waren Kinder, kaum so groß wie ein Mensch. Einer der Halbwüchsigen brüllte laut, Speichel triefte ihm aus dem Maul und er zeigte seine faulen Zähne. Dann stürmte er los. Drei weitere folgten, während sich andere erst aus den Büschen kämpften. „Es sind nicht viele“, stellte Ypek trocken fest. „Die schaffen wir!“ Dimite nickte und sagte: „Haltet eure Positionen, Brand muss genug Luft haben. Lasst keinen durch.“ Immer näher kamen die ersten Angreifer. Die Bogenschützen hatten gute Sicht und die erste Salve lag gespannt in den Sehnen. „Moment noch, auf mein Zeichen. Den größeren linken! Alle auf das Herz!“
Ein kurzer Moment verstrich. „Schießt!!“, befahl Brand. Surrend fanden die Geschosse ihr Ziel, schlugen eines nach dem anderen in die massige Brust ein. Als letzter schoss Brand selbst. Nicht aber auf das von ihm bestimmte Ziel, sondern auf den ungeschützten Hals. Der war zwar schwerer zu treffen, garantierte aber den sicheren Tod, da kein Knochen den Pfeil abprallen lassen konnte. Sein Geschick und seine Erfahrung erlaubten es, solche Treffer zu landen. Ein leises Gurgeln war zu hören. Der getroffene Oger fiel auf die Knie, rang um Luft und versuchte, sich von den Pfeilen zu befreien. Ergebnislos. Weitere junge Oger kamen ins Sichtfeld. Der größte von ihnen riss wütend einen kleinen Baum aus dem feuchten Erdreich. Einer seiner Äste hatte ihn wuchtig ins Gesicht geschlagen, als er an ihm vorbeilaufen wollte. Nun spürte er die Wut des Riesen.
Die verbliebenen drei der ersten Welle waren unbewaffnet und nur von Wut getrieben. Nun trafen sie auf die Verteidiger. „Angriff!“, brüllte Dimite laut und selbstbewusst. Schnelle Stiche und wuchtige Hiebe prasselten auf die ungeschützten Oger nieder. Sie hatten keine Chance. Einer fiel durch einen heftigen Schwinger Dimites, ein anderer lag unter Kalads Schwert. Den dritten hatte Brand schwer getroffen. Wieder in den Hals, noch ehe seine Bogenschützen neu aufgelegt hatten. Sein Ende war besiegelt. Er griff sich keuchend an die wulstige Gurgel und drei Schwerter durchbohrten zur gleichen Zeit seine Brust. Sie ließen ihn sterben, noch ehe er auf dem morastigen Untergrund mit dumpfem Platschen aufschlug.
„Alle ein Stück zurück“, brüllte Dimite. Sofort bewegten sich alle rückwärts und stellten sicher, nicht von den breiten Leichen vor ihnen im Kampf behindert zu werden. Mittlerweile war die gesamte Sippe im Blickfeld. Aufgesplittert und unkoordiniert preschten sie vor. An vorderster Front weitere, halb ausgewachsene Oger. Nur einer von ihnen hatte eine Keule, alle anderen waren unbewaffnet, zum Teil fast nackt. Weiter hinten folgten die Erwachsenen, ausschließlich weiblichen, Oger. Diese führten Waffen und hatten das ein oder andere Rüstungsteil an, oder waren in schwere Felle gehüllt. Die Jugendlichen waren ihnen aber weit voraus. Zwei fielen während sie voranstürmten, gefällt durch gezielte Pfeile. Ein weiterer kam schwer getroffen in den Kampf, warf sich gegen Dimite und starb. Die anderen starben im Kampf. So wurde die ungeschützte Schar der Halbwüchsigen aufgerieben. Schnell und ohne Verluste. Und das, noch ehe die Ausgewachsenen sie einholen und unterstützen konnten. Wieder hatte sich die Gruppe der Menschen geschlossen zurückgezogen; immer noch fest in der von Dimite befohlenen Anordnung. Es funktionierte gut. Brand war zufrieden mit Dimite und sich. Der Übermut des Kriegers war verflogen und er hatte die Männer gut in der Hand.
Der wirkliche Kampf stand aber noch bevor. Brüllend und blind vor Wut, stürmten die verbliebenen fünf auf sie zu. Alles weibliche Oger, aber offensichtlich Krieger. Gerüstet und bewaffnet. Eine von ihnen schwang sogar einen prunkvollen Zweihänder, lediglich mit einer Hand geführt. Sie wirbelte ihn in weiten Kreisen umher, während sie auf die Truppe zustürmte. Sofort erkannte Brand, dass dies der gefährlichste Gegner war. Den wuchtigen Hieben und der große Reichweite der Waffe wäre schwer beizukommen. Auf sein Zeichen flogen die Pfeile, trafen schwer, töteten aber nicht. Ungebremst krachte sie in die linke Gruppe der Verteidiger. Schwer verwundet, aber todesverachtend fiel sie in die Klingen der verhassten Menschen. Sie starb, während sie Ypek mit einem einzigen Schlag den Schwertarm abtrennte und die halbe Brust aufriss. Zwei andere prallten gleichzeitig auf Dimites Männer. Verbissen erwehrten die sich ihrer Haut. „Kreist sie ein! Kalad, auf die andere Seite!“, brüllte Dimite, während er parierte und zustach. Sein Stich traf, ebenso wie der schwere Keulenhieb der sterbenden Ogerfrau. Zusammen gingen sie zu Boden. Möglicherweise hätte Dimite überlebt, wäre der massige Körper der Feindin nicht auf ihn gefallen. Ihr massiger Leib bedeckte den bewusstlosen Kämpfer zur Gänze und ließ ihm keine Chance. Bald darauf fiel Kalad, überrannt und danach durchbohrt, von einem rostigem Speer. Seine Mörderin überlebte nicht, ebenso wenig wie Ypek. Er blutete aus, während er noch auf die Stelle sah, wo Augenblicke vorher sein Arm gewesen war und überlegte, wie er die rote Flut stoppen könnte. Seine Augen wurden glasig. Er fiel um und regte sich nicht mehr. Brand und die seinen feuerten so schnell sie konnten. Rhythmisch surrten und trafen die Pfeile der unangetasteten Bogenschützen.
Es dauerte nicht lange und alles war ruhig. Abgesehen vom schweren Atem der Überlebenden und den letzten stockenden Atemzügen der Sterbenden. Kurz standen sie da. Brand überblickte die Situation, den Bogen immer noch gespannt, obwohl kein Ziel mehr zu erkennen war. Dann erlöste er die Sehne seines Bogens von ihrer Last, ließ den Pfeil langsam aus und führte ihn mit geübter Bewegung in den Köcher auf seinem Rücken. Nach einem Blick auf die Gefallenen in ihren Reihen, drehte er sich nach Süden und lief los.
„Wir haben keine Zeit! Beeilt euch! Lasst sie liegen wie sie sind!“, rief er.
Kaum hatte er diese Worte im Laufen gesprochen, hielt er ein. Er blieb ruckartig stehen. „Zu spät ...“, sagte er. Dann noch einmal. „Zu spät ...“ Kurz darauf fügte er noch hinzu: „Naar möge uns beistehen!“ Seine Worte lagen mit bleierner Schwere in der Luft.