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Anpfiff.

»Dieser Weg wird kein leichter sein«

Fußball. Männersport. Unzerstörbare Bastion echter Kerle. Sie prahlen in der Kabine mit ihrer Potenz und brüsten sich mit den zahlreichen Weibern, die sie mal wieder flachgelegt haben. Das Testosteron schwappt über. Sie polieren dem Gegner das Schienbein und fressen Gras, auf das sie vorher gerotzt haben, weil das so ungemein männlich wirkt. Und von den Rängen, wo das bildungsferne Milieu den Gladiatorenkämpfen beiwohnt, wird der gegnerische Torwart beim Abstoß mal gepflegt als »Arschloch, Wichser, Hurensohn« begrüßt, ohne dass sich darüber auch nur im Entferntesten irgendjemand aufregt. Fußball. Männersport. Machowelt. Die letzte Domäne harter Jungs. Hier ist kein Platz für zartbesaitete Weicheier, Warmduscher und Fummeltrinen. Homosexuelle? Schwuchteln? Hinterlader? Schwule Säue? Gibt es nicht. Kann es nicht geben. Weil es sie nicht geben darf.

Der Fußball eine Spielwiese für Proleten? Oder hat vielleicht doch der renommierte Journalist Alexander Osang recht, der in einem Beitrag für den »Spiegel« von den neuen deutschen Männern gesprochen hat, die das Land bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika mit etwas Schönem, Leichtem, gar Tänzerischem vertreten haben? Und der die Nationalmannschaft als weltoffene, tolerante und integrative Gemeinschaft rühmt, die mit einer neuen Art des Fußballs die Menschheit – knallharte Fans gleichermaßen wie die Bildungselite – verzaubert. Alles nur eine romantische Verklärung?

Rund tausend Fußballprofis stehen aktuell bei den 36 Erst- und Zweitligaclubs in Deutschland unter Vertrag. Wenn man davon ausgeht, dass zwischen fünf und zehn Prozent aller Deutschen homosexuell sind, muss es – zumindest statistisch gesehen – mindestens 50 schwule Fußballprofis geben. Seit Jahren wird deshalb außerhalb des von Medien überwachten Männerbundes eifrig spekuliert, um wen es sich dabei handeln könnte. Vor allem in schwulen Chatforen kennt jeder mindestens einen Profi, den er oder ein Bekannter irgendwann einmal in irgendeiner Schwulen-Disko oder -Sauna gesehen haben will und der deshalb ganz sicher auch schwul sein muss.

Dass es schwule Fußballer gibt, ist unstrittig, allein im Kader und Umfeld der Nationalmannschaft sind mindestens zwei Homosexuelle »aktenkundig«. Dabei könnte man auf den verstaubten Dorfplätzen der Republik den Eindruck gewinnen, dass der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, der einst sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, noch immer fest im deutschen Rechtssystem verankert ist. Denn speziell der Fußball und seine Ordnungsbehörden tun sich nach wie vor schwer mit dem Thema.

Beispiel gefällig? Nach einem hitzigen Wortgefecht wurde im August 2007 der Dortmunder Torwart Roman Weidenfeller vom DFB-Sportgericht mit einer Sperre von drei Spielen und einer Strafe von 10.000 Euro belegt. Er soll laut Presseberichten im Derby gegen Schalke den gegnerischen Stürmer Gerald Asamoah als »schwules Schwein«, alternativ auch »Schwabbelschwein«, beleidigt haben. Ursprünglich wurde Weidenfeller vorgeworfen, die Worte »schwarzes Schwein« benutzt zu haben – so die Darstellung des betroffenen Asamoah. In diesem Fall wäre eine Verurteilung wegen rassistischer Äußerung erfolgt, Anklage erhoben und eine deutliche längere Sperre – im Gespräch waren sechs Wochen – ausgesprochen worden. Auch der BVB hätte dann wohl einen Punktabzug hinnehmen müssen. Gerecht? Wohl kaum! Es blieb in der Öffentlichkeit der Eindruck, als sei eine homophobe Äußerung weit weniger strafwürdig als eine rassistische.

Fußball war und ist ein Hort archaischer Männlichkeit, in seiner mentalen Entwicklung irgendwo zwischen Mondlandung und Mauerfall stehengeblieben, die Ansichten teils vorsintflutlich und die vermeintliche Toleranz gegenüber Schwulen so fragwürdig wie das kokainbehaftete Haupthaar von Fußballtrainer Christoph Daum, der Homosexualität gerne auch mal mit Pädophilie in Verbindung bringt. Eine Parallel-Gesellschaft, in der im Sommer 2009 der Millionen-Euro-Transfer eines brasilianischen Fußballers in die Bundesliga auch an den Gerüchten über dessen angebliche Homosexualität scheiterte (wie der Grimme-prämierte Journalist Aljoscha Pause in einer TV-Dokumentation berichtet). Und wo es als hochrangiger Funktionär eines nationalen Fußballverbandes möglich ist, unbehelligt in die Welt hinauszuposaunen und erst neun Monate später mit einer Geldstrafe von lächerlichen 10.000 Euro von der UEFA belangt zu werden: »Solange ich Präsident bin, wird kein Homosexueller in der kroatischen Nationalmannschaft spielen.« Da klingt es fast schon liebevoll, wenn Schalkes früherer Manager Rudi Assauer jedem Schwulen im Fußball rät, sich einen anderen Job zu suchen.

Trotz der im Sommer 2010 im »Spiegel« erfolgten vollmundigen Ankündigung von Michael Becker, Berater von Ex-Nationalelf-Kapitän Michael Ballack, dass schon bald jemand die »Schwulencombo« – gemeint war die deutsche Fußball-Nationalmannschaft – hochgehen lassen könne, zählen die Namen der homosexuellen Fußballprofis in Deutschland nach wie vor zu den bestgehüteten Geheimnissen. Hier eine Andeutung, dort ein Gerücht. Das war’s. Auch im Amateurfußball ist die Situation nicht viel besser. Kaum jemand wagt sich wirklich aus der Deckung, zu groß ist die Angst vor Ausgrenzung. Dabei jagen rund drei Millionen aktive Fußballer in Deutschland regelmäßig dem runden Leder hinterher. Heterosexuelle, Bisexuelle und Homosexuelle. Auf ein prominentes Coming-out (abgeleitet vom englischen Begriff »coming out of the closet«, wörtlich: »aus dem Kleiderschrank herauskommen«) wartet die Fußballgemeinde jedoch bislang vergebens. Übrigens: Becker wollte trotz mehrerer Telefonanfragen die »Spiegel«-Zitate nicht weiter kommentieren.

Immer wieder betonen wohlmeinende Fans, dass sich im Fußball niemand outen muss, weil sich schließlich auch niemand öffentlich zu seiner Heterosexualität bekennt. Aber genau solche Aussagen dokumentieren die weit verbreitete Scheinheiligkeit einer Gesellschaft, die einen sensiblen Umgang mit dem Thema nur sehr mühsam erlernt. Natürlich betont niemand ausdrücklich, dass er heterosexuell ist. Das wird im Fußball nämlich schlicht und einfach vorausgesetzt. Außerhalb jeglicher Diskussion. Die Frage muss also erlaubt sein, wieso sich dann kein Homosexueller outet, wenn die sexuelle Orientierung angeblich keine Rolle spielt und es niemanden zu interessieren hat, wer mit wem sein Bett teilt, weil das schließlich reine Privatsache sei. Auch dahinter steckt Methode.

Denn Totschweigen und Verdrängen gehören zum Business: Schwule im Fußball sind allein schon deshalb äußerst seltene Exemplare, weil die meisten durch die Art und Struktur des Fußballs selektiert und ausgesiebt werden. Sie halten dem Druck und der befürchteten Diskriminierung einfach nicht stand. Schwule sind nicht systemkompatibel – und die Abneigung gegenüber anderen sexuellen Orientierungen sortiert sie von vornherein aus. Gut möglich, dass dem wirklich so ist – und dadurch die Zahl der Homosexuellen im verklemmten Fußball tatsächlich geringer ist als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Eben weil einige an der Doppelbelastung verzweifeln, einerseits sportliche Höchstleistungen zu erbringen und andererseits ihre Homosexualität verheimlichen zu müssen. Früher oder später kehren sie daher dem Sport deprimiert den Rücken.

Die, die dabeibleiben, verstecken sich. Noch. Das Fußballmagazin »Rund« stellte 2006 einige von ihnen vor. Dass in der Geschichte keine Namen genannt wurden, erklärt sich, wenn man die Schicksale kennt: Einer ist verheiratet, ohne dass seine Frau etwas von seiner Homosexualität weiß – und sein Freund lebt in einer anderen Stadt. Ein anderer hält sich zum Schein eine gute Freundin, die in der Öffentlichkeit als Spielerfrau durchgeht. Nur aus dem Kleiderschrank traut sich dagegen (noch) niemand.

Von diesen Erfahrungen sprechen alle, die Kontakt zu schwulen Fußballern haben und hatten. Zum Beispiel der ehemalige holländische FIFA-Schiedsrichter John Blankenstein, der nie ein Geheimnis aus seiner Homosexualität gemacht hatte. In einem seiner letzten Interviews vor seinem Tod im August 2006 behauptet Blankenstein im Fußballmagazin »Rund«: »Ich kenne einige schwule Profis, sogar in der holländischen Nationalmannschaft.« In einem Interview mit der »Welt« bricht der ehemalige Präsident des FC St. Pauli, Corny Littmann, bereits 2006 öffentlich ein Tabu: »Es gibt Homosexuelle in allen Bundesligaclubs und nach meiner Kenntnis auch in der Nationalmannschaft.« Mittlerweile sei sogar ein Netzwerk entstanden: »Etliche kennen sich und wissen voneinander.«

Die »heile Welt« bröckelt, der Kosmos Männerfußball kann sich nicht länger von der gesellschaftlichen Entwicklung abkoppeln. So wie Nationalspieler mit Migrationshintergrund längst zur Normalität gehören, werden früher oder später auch Homosexuelle wie selbstverständlich in den deutschen Proficlubs ihrem Job nachgehen. Und irgendwie hat man das Gefühl, als habe der Sänger Xavier Naidoo mit der inoffiziellen WM-Hymne 2006 (»Dieser Weg«) bereits eine leise Vorahnung davon gehabt:

»Dieser Weg wird kein leichter sein.

Dieser Weg wird steinig und schwer.

Nicht mit vielen wirst du dir einig sein,

doch dieses Leben bietet so viel mehr.«

Gerüchte um die Nationalelf

Doch was meinte Ballack-Berater Becker wirklich, als er von der »Schwulencombo« Nationalmannschaft sprach? Ein Versprecher? Haltloses Geschwätz? Oder doch Kalkül? Sollte hier etwa der Eindruck vermittelt werden: »Hört, ich weiß etwas – und wenn ich will, lasse ich die Bombe einfach platzen«? Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) wollte sich anfangs nicht auf das Niveau Beckers begeben, forderte ihn aber trotzdem kurze Zeit später auf, seine Äußerungen zu konkretisieren. Bis heute haben weder Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff noch Bundestrainer Joachim Löw öffentlich ihr Team gegen Beckers Tiraden verteidigt, wabernde Gerüchte aus der Welt geräumt oder den Ballack-Berater juristisch belangt. Angesichts der medialen Diskussionen um Ballacks Zukunft in der Nationalelf waren die diversen Äußerungen oder Auslassungen möglicherweise auch taktisch bedingt. Löw hat sich im Dezember 2010 nach langem Hin und Her öffentlich zu seinem Nationalmannschaftskapitän Ballack bekannt. In einem Interview mit der »Welt am Sonntag« stellt er klar: »Er ist Kapitän, wenn er wieder dabei ist.« Vermutlich aber wusste Löw bereits zu diesem Zeitpunkt, dass er Ballack – außer vielleicht zu dessen Abschiedsspiel – nie mehr berufen wird. Die endgültige Bestätigung dafür reichte der Nationaltrainer im Juni 2011 dann auch offiziell nach.

Während sein Chef, DFB-Präsident Theo Zwanziger, mit gutem Beispiel vorangeht, für Offenheit und Toleranz wirbt, hüllt sich der Nationaltrainer bei einer Interviewanfrage zum Thema »Homosexualität im deutschen Fußball« nach einer intensiven und mehrwöchigen Abstimmungsphase mit Nationalelf-Pressesprecher Harald Stenger lieber in Schweigen und eröffnet damit vielfältige Interpretationsspielräume. Die Chance, deutlich und ausführlich Stellung zu beziehen, hat er ebenso vertan, wie sich schützend gegen die Beckers dieser Welt vor seine Mannschaft zu stellen. Da verwundert es auch kaum, dass Interviewan-fragen an mehrere Nationalspieler unbeantwortet bleiben. Unsicherheit? Pein? Angst? Fest steht: Es wird gemauert und geblockt, als habe Italiens Abwehr der 1970er dem altehrwürdigen Catenaccio zur Renaissance verholfen. Die Nationalmannschaft als geschlossene Gesellschaft. Ein Männerbund. Vielleicht sogar Familie?

Genau so nämlich formuliert es Bierhoff Ende März 2011 in einem Interview mit »Bild«. Fünf Tage nach Ausstrahlung des »Tatort«-Krimis »Mord in der ersten Liga« beklagt der Nationalelf-Manager, dass die Prominenz der Nationalelf missbraucht werde, um irgendein Thema zu entwickeln oder einen Scherz zu machen. »Das sehe ich immer auch als einen Angriff auf meine Familie – die Familie der Nationalmannschaft.« Hintergrund war eine Szene, in der Bundesliga-Profi Ben Nennbrock (gespielt von Luk Pfaff) gegenüber Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) munter drauflos plappert: »Wissen Sie, die halbe Nationalmannschaft ist angeblich schwul, einschließlich Trainerstab. Das ist doch schon so eine Art Volkssport, das zu verbreiten.«

Da es sich bei Löws Elf bekanntermaßen um ein Nationalheiligtum handelt, war – entgegen jeder PR-Logik und der Tatsache, dass Zwanziger ursprünglich mit seiner Idee selbst überhaupt erst den Anstoß zu diesem »Tatort« gab – mit einer gewissen Empörung fast zu rechnen. Unabhängig davon, dass es diesen »Volkssport« seit einigen Jahren tatsächlich gibt. Aber anstatt den »Tatort« als das anzusehen, was er eigentlich ist, nämlich eine fiktive und frei erfundene Kriminalgeschichte mit teils abstrusen Dialogen, sah sich Bierhoff – wie schon im Fall Becker – zu einer Übersprunghandlung animiert. Die Freude an der Arbeit werde der Nationalelf genommen, »wenn wir uns gegen haltlose Gerüchte wehren müssen«. Bierhoff bierernst weiter: »Wir werden jetzt grundsätzlich bei der Nationalelf überlegen, wie wir mit solchen Dingen umgehen. Dass wir nicht wehrlos sind gegen Gerüchte und falsche Unterstellungen aller Art.«

Es ist kaum nachzuvollziehen, wieso Bierhoff in diesem Fall derart dünnhäutig reagiert, während die im »Tatort« ebenfalls thematisierte Hooligan-Problematik von ihm einfach ignoriert wird. Die Wortwahl des Managers offenbart zudem einen wenig intelligenten Umgang mit dem Thema. Wer von Angriffen, Gerüchten und falschen Unterstellungen spricht, suggeriert, dass er Homosexualität nach wie vor als etwas Anrüchiges, etwas Verbotenes ansieht. Wer zudem mit dem auch bei der italienischen Mafia gern verwendeten Begriff »Familie« hausieren geht, muss sich nicht wundern, wenn ihm von der Community – nicht ganz frei von Sarkasmus – vorgehalten wird, dass zu einer ordentlichen Familie, bitteschön, auch Schwestern gehören. Die wichtigste Aussage kam dem Teammanager leider nicht in den Sinn: Dass es für ihn nämlich kein Problem wäre, wenn es in der Nationalmannschaft tatsächlich homosexuelle Spieler gäbe. Eine verpasste Chance. Wieder einmal.


Mario Gomez trikotlos – doch ein nackter Oberkörper macht noch keinen Homosexuellen.

Kollege Löw will ihm da natürlich nicht nachstehen. In einem Interview mit der »Welt« Ende April 2011 ließ er die implizierte Unterstellung, schwul zu sein sei ein Makel, einfach unkommentiert. Das groteske Frage-Antwort-Spiel mit Dagmar von Taube, Reporterin beim Springer-Verlag, gipfelt im Versuch, Gerüchte über Löws Privatleben ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Frage: »Wie auch immer, ich sag’s jetzt einfach mal: Sie selbst, Herr Löw, wurden auch schon mal auf die homosexuelle Hälfte gedrängt, weil Sie sich gut anziehen. Was sagen Sie dazu?« Antwort Löw: »Ich habe das auch schon gehört. Was soll ich dazu sagen? Es ist wie mit dem Toupet. Auch das stimmt nicht. Fragen Sie gern meine Frau.« Machen wir gerne, bei nächster Gelegenheit.

Niemand erwartet von schwulen Profis ernsthaft, dass sie sich »aufopfern« und ein Outing riskieren. Aber ist es wirklich zu viel verlangt, dass prominente Fußballer und Funktionäre mit klaren Worten das Thema Homosexualität im Fußball endlich aus der Schmuddelecke heraus holen? Werden hochbezahlte und von Nachwuchskickern angehimmelte Profis ihrer Vorbildfunktion überhaupt gerecht, wenn sie nicht einmal den Mut haben, sich öffentlich gegen alltägliche Diskriminierungen auszusprechen? Es scheint, als ob sich der Fußballzirkus immer noch mit Händen und Füßen gegen ein Thema wehrt, das dort offenbar nicht hingehört.

Wieso ausgerechnet der Profi-Fußball?

Wieso sich ausgerechnet im Profi-Fußball, anders als in der Kultur, im Showgeschäft oder in der Politik, Männer so schwer mit ihrem Outing tun, liegt auf der Hand: Kein Profi wollte bislang – neben der Angst vor Anfeindungen und wirtschaftlichen Nachteilen – eine gewachsene, anachronistische Männerwelt zum Einsturz bringen. Noch. Denn das feindselige Klima in der Gesellschaft gegenüber Schwulen ist längst einer dem Fußball manchmal noch fremden Toleranz gewichen. Immerhin sind laut einer Emnid-Umfrage für das Nachrichtenmagazin »Focus« im September 2010 bereits 63 Prozent der Deutschen der Auffassung, ein öffentliches Outing im Fußball schade nicht, in England brachte eine Umfrage mit der gleichen Fragestellung im Jahr 2000 sogar den beachtlichen Wert von 93 Prozent. Bereits 2004 hat Nationalspieler Arne Friedrich vermutet: »Es gibt immer mehr Menschen, die schwul sind. Ganz sicher auch Spieler der Fußball-Bundesliga.« Und sein Nationalmannschaftskollege Philipp Lahm unternimmt erst gar nicht den Versuch, die Statistik wegzudiskutieren: »Allein von der prozentualen Verteilung im ganzen Land muss es auch schwule Profi-Fußballer geben.«

Ein Outing im Profifußball hätte eine fast schon historische Dimension. Tausende junge, homosexuelle Sportler warten sehnsüchtig darauf, dass sich eines ihrer Idole zum Schwulsein bekennt. Es würde wohl vieles erleichtern. »Es wäre nicht nur ein Durchbruch für den Fußball, sondern für die gesamte Gesellschaft«, glaubt Zwanziger. Doch ist der Fußball, wie wir ihn heute kennen, schon bereit für diesen Schritt? Ist das Klima wirklich schon so tolerant? Kann der Sport die Vorurteile gegenüber Homophobie sprengen? Oder muss nicht zuerst der Mob auf den Fantribünen »umerzogen« werden? Ist Dummheit überhaupt kalkulierbar? Für den amerikanischen Sportsoziologen Eric Anderson ist ein Outing längst überfällig. Zwar sei Sport allgemein konservativer als die Gesellschaft selbst. Doch von einem Bollwerk der Homophobie könne beileibe nicht mehr die Rede sein. »Dass Athleten so große Angst davor haben, sich zu outen, ist in unserer Welt einfach irrational.« Das jahrelange Versteckspiel sei für einen schwulen Athleten viel schlimmer. Am stärksten würde die Leistung darunter leiden. »Die ständigen Lügen machen einen psychisch fertig und kosten viel Energie, die dann auf dem Spielfeld fehlt.«

Dies war genau der Grund für Marcus Urban, der vor dem Sprung in den Zweitliga-Kader von Rot-Weiß Erfurt seine Karriere beendete: sich der psychischen Belastung nicht mehr aussetzen zu wollen. Eine Erfahrung, die auch Schiedsrichter Blankenstein aus vielen Gesprächen kennt: »Sie müssen sich konzentrieren, den harten Kerl raushängen zu lassen. Diese Spieler sind nicht sie selbst. Sie verdrängen ihre Gefühle und verhalten sich wie Machos. Nachts suchen sie aber doch nach ihrer sexuellen Befriedigung.« In einem anderen Punkt sind sich Urban und Blankenstein ebenfalls einig: Wer einen schwulen Fußballer erkennen will, sollte sich die Statistik der Gelben und Roten Karten zu Gemüte führen. Gerade weil sie Angst vor Entdeckung haben, tarnen sie sich mit einer bewusst aggressiven Spielweise. Oder wie es Andreas Stiene, Organisator der Sportveranstaltung »Come-Together-Cup« in Köln, ausdrückt: »Die übelsten Treter waren die, die ich nach dem Spiel in der Schwulen-Disko getroffen habe.«

»Also ging ich diese Straße lang

und die Straße führte zu mir.

Das Lied, das du am letzten Abend sangst,

spielte nun in mir.

Noch ein paar Schritte und dann war ich da

mit dem Schlüssel zu dieser Tür.«


»Dieser Weg wird kein leichter sein« – Naidoo sang die Hymne zur WM 2006.

Das Klima ändert sich

In der über hundertjährigen Geschichte des deutschen Fußballs gab es noch keinen bekennenden schwulen Erstligaspieler, zumindest keinen, der sich zu Lebzeiten erklärt hätte. Heinz Bonn, der Anfang der 1970er Jahre beim Hamburger SV spielte, wurde 1991 angeblich von einem Stricher ermordet – geoutet im Tod. Auch international haben sich bislang nur wenige Profis geoutet: Im Jahr 1990 offenbarte sich der Engländer Justin Fashanu von Nottingham Forrest, der daraufhin nicht nur aus dem Team geworfen, sondern auch von der eigenen Familie verstoßen wurde. Nachdem acht Jahre später Missbrauchsvorwürfe gegen Fashanu erhoben wurden, erhängte er sich unter mysteriösen Umständen.

Der frühere brasilianische Nationalspieler Marcos Vampeta, der auch bei Inter Mailand aktiv war, outete sich ebenso wie sein Landsmann Túlio Maravilha (kurzzeitig auch beim FC Sion in der Schweiz am Ball) Anfang der 1990er. Auch in Frankreich bekannte sich ein prominenter Kicker zu seiner Homosexualität – freilich erst rund 20 Jahre nach seiner aktiven Karriere: Der frühere Nationalspieler Olivier Rouyer (AS Nancy, Racing Strasbourg, Olympique Lyon) arbeitet seit vielen Jahren erfolgreich als Moderator für das französische Bezahl-Fernsehen.

Im März 2011 überraschte der schwedische Nachwuchsprofi und frühere U17-Nationalspieler Anton Hysén vom BK Häcken die Öffentlichkeit mit einem Outing im Fußball-Magazin »Offside«: »Ich bin Fußballer – und ich bin schwul. Wenn ich meine Leistung bringe, spielt es doch überhaupt keine Rolle, ob ich auf Frauen oder Männer stehe«, sagt Hysén, dessen Vater Glenn einst ein gefeierter Star beim FC Liverpool war und zu den bekanntesten Fußballern Schwedens zählt. Zweifel bleiben trotz der überwiegend positiven Resonanz auf sein Outing: »Es könnte ja sein, dass ein Club Interesse an mir zeigt – und dann hört der Trainer, dass ich schwul bin, und dann ändern sie vielleicht plötzlich ihre Meinung.« Anton Hysén bedauert, dass er der bislang einzige Profi Schwedens ist, der zu seiner Homosexualität steht. Fast schon beschwörend fragt er deshalb: »Wo zum Teufel sind die anderen?«

Ganz einfach: Im millionenschweren Profifußball werden diese Neigungen tunlichst unter der Decke gehalten. Fußballprofis gehen Scheinehen ein und hoffen, sich zumindest bis zum Karriereende unbeobachtet durchmogeln zu können. Dabei hat Fußball-Legende Pelé in einem Interview mit dem brasilianischen »Playboy« vor vielen Jahren schon einen völlig unverkrampften Umgang mit dem Thema bewiesen: »Als ich 14 oder 15 war, hatte ich eine Reihe homosexueller Beziehungen. Außerdem hatte ich meine erste sexuelle Erfahrung mit einem Homosexuellen.« Die körperliche Nähe zu einem Mann wurde im Juni 2011 auch Diego Forlan unterstellt. Der Nationalspieler Uruguays in Diensten von Atletico Madrid, bei der WM 2010 zum besten Spieler des Turniers gewählt, trennte sich wenige Wochen vor der geplanten Hochzeit von seiner Partnerin Zaira Nara. Der Grund für das Beziehungsende mit dem argentinischen Model soll laut übereinstimmenden Medienberichten in Südamerika nicht eine andere Frau, sondern ein Mann gewesen sein. Forlan selbst kommentierte die Angelegenheit völlig unaufgeregt: »Ich habe sie verlassen, weil ich sie nicht mehr liebe.«

Eine Gratwanderung unternimmt seit Jahren auch der englische Fußballstar David Beckham – ohne negative Folgen. Er hat sich selbst als metrosexuell bezeichnet und zugegeben, dass er sich gerne mal die Fußnägel lackiert und die Unterwäsche seiner Frau trägt. Vor 20 Jahren noch wäre mit diesem öffentlichen Bekenntnis wahrscheinlich seine Karriere beendet gewesen, heute sagt Beckham im »people«-Magazin: »Eine schwule Ikone zu sein ist eine große Ehre für mich. Ich bin mir meiner weiblichen Seite sehr bewusst und habe auch kein Problem damit.« Ohnehin versprüht der Fußball auf viele auch einen Hauch von Homoerotik. Oder wie es Renate Rampf vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) etwas philosophisch ausdrückt: »Sie jubeln gemeinsam, umarmen sich, sie trauern und sie weinen zusammen. Es sieht aus wie Liebe. Aber es ist keine Liebe. Es ist Fußball.«

»Es war nur ein kleiner Augenblick.

Einen Moment war ich nicht da.

Danach ging ich einen kleinen Schritt

und dann wurde es mir klar.«

Auch wenn es die Assauers und Daums im deutschen Fußball immer noch gibt – die Mehrheit hat längst erkannt, dass der Leistungssport mit all seiner sozialen Verantwortung nicht die Augen vor der Realität verschließen kann. Löw zieht Parallelen: »Was heute in der Politik möglich ist, war vor 20 Jahren doch auch noch nicht denkbar«, so der Bundestrainer in einem Interview mit der Zeitschrift »Brigitte«. Löw sieht die Funktionäre in der Pflicht, den Umgang mit Homosexuellen im Fußball zu verändern. »Jetzt sind wir Trainer, die Manager, die Vereine, eben alle, die in der Verantwortung stehen, dahingehend gefordert, dass wir die Menschen im Stadion und vor dem Fernseher sensibilisieren. Dass jemand, der sich zu etwas bekennt, sei das nun eine Krankheit oder eine Lebensform, respektvoll behandelt wird.«

Doch daran glauben längst nicht alle. In einem »Bunte«-Interview im Mai 2011 warnte Bayern-Kapitän Lahm seine Berufskollegen eindringlich vor einem Outing: »Für denjenigen, der es tut, würde es sehr schwer werden. Ein offen schwuler Fußballer würde Schmährufen ausgesetzt sein.« Einige Mitspieler Lahms äußerten sich bei dieser Frage unaufgeregter. So riet Nationalspieler Gomez, ebenfalls per »Bunte«-Interview, im November 2010 dazu, sich zu outen. Homosexualität sei längst kein Tabuthema mehr – und wer sich zu seiner Neigung bekenne, könnte endlich befreit aufspielen. Nationalmannschaftskollege Neuer legte im Februar 2011 in der gleichen Zeitschrift nach: »Ja, wer schwul ist, sollte sich outen. Da fällt doch eine Last ab.« Dabei erwartet der Keeper auch im Stadion kaum negative Reaktionen: »Die Fans werden sich schnell daran gewöhnen. Wichtig ist die Leistung.« Bemerkenswert auch die Aussage von Stefan Kuntz, Europameister von 1996 und heute Vorstandsvorsitzender des 1. FC Kaiserslautern. Auf die Frage, welche Auswirkungen ein Outing auf den Fußball hätte, sagt Kuntz: »Es würde kurzfristig ein Boulevard-Aufschrei zu hören sein. Langfristig wird es ebenso keine gravierenden Veränderungen geben wie etwa in der Politik.«

Das sieht Klaus Smentek, Chefredakteur vom Fachmagazin »kicker«, ganz ähnlich: »Natürlich würden die Leute darüber reden. Generell glaube ich jedoch, dass das Informationsbedürfnis der Leser zu diesem Thema überschätzt wird. Was ist denn heute noch so ungewöhnlich an einem homosexuellen Menschen, sei er Politiker oder im Showgeschäft?« Peter Peters, Vorstandsmitglied des FC Schalke 04 und Vizepräsident der Deutschen Fußball-Liga (DFL), geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er Homosexualität speziell im Fußball als Problem so nicht erkennen kann. »Fußball ist immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft – und die hat sich zum Glück in den letzten Jahren weiterentwickelt.« Ob sich daran auch der Boulevard hält? In den 1990ern musste beispielsweise Jürgen Klinsmann immer wieder subtil gestreute Andeutungen in Deutschlands größter Tageszeitung über sich ergehen lassen. »Krönender« Höhepunkt war eine bösartige Satire während der WM 1998, als TV-Lästermaul Harald Schmidt den späteren Nationaltrainer kurzerhand als »Schwaben-Schwuchtel« titulierte. Einige Jahre später gestaltet sich der Umgang mit dem Thema – zumindest nach außen hin – doch weitaus sensibler.

»Manche treten dich.

Manche lieben dich.

Manche geben sich für dich auf.

Manche segnen dich.

Setz dein Segel nicht,

wenn der Wind das Meer aufbraust.«

Wird hier also eine Problematik beschrieben, die in Wirklichkeit längst von der gesellschaftlichen Entwicklung eingeholt wurde? Haben Toleranz und Offenheit Einzug in die Fußballarenen gehalten, ohne dass es jemand gemerkt hat? Denkbar ist es. Einerseits beobachten zwar Wissenschaftler wie der Gewaltforscher Gunter Pilz eine Zunahme homophober Äußerungen im Stadion, andererseits beschreibt der Soziologe und Fanforscher Dieter Bott in den letzten Jahren eine eher positive Veränderung in den Fankurven. Demnach würden Fußballanhänger durchaus mit homosexuellen Spielern zurechtkommen. Auch Anderson glaubt nicht daran, dass homosexuelle Spieler zum Beispiel Nachteile erleiden würden: »Heutzutage können es sich Firmen imagemäßig gar nicht mehr leisten, jemanden aufgrund seiner sexuellen Vorliebe fallen zu lassen.« Mehr noch: Ein homosexueller Star könnte zur Ikone werden – nicht nur in der schwulen Community.

Selbst das Risiko, von gegnerischen Fans verhöhnt oder beleidigt zu werden, ist überschaubar. Lediglich die Wortwahl bei den Anfeindungen würde sich nach einem Outing vorübergehend verändern. Mit Ausdrücken wie »Arschloch«, »Wichser« und »Hurensohn« müssen die gegnerischen Spieler ohnehin bereits leben, da fällt die »schwule Sau« nicht sonderlich ins Gewicht. Als Gegenreaktion darauf könnte sogar eine Solidarisierung der eigenen Fans mit dem schwulen Kicker erfolgen, weil sie es nicht zulassen, dass andere ihre Helden verunglimpfen.

Sind also alle Befürchtungen, die derzeit einem Outing angeblich noch im Wege stehen, pure Hysterie? Oder haben Outing-willige Spieler doch mit einem Spießrutenlauf zu rechnen, weil Toleranz und 21. Jahrhundert auf den Fantribünen noch nicht angekommen sind? Wo steht der deutsche Fußball wirklich? Wie bunt ist der Kosmos zwischen »Schwulencombo« und dem bis dato unterlassenen Dementi? Die Wahrheit liegt wie so oft – das Phrasenschwein grunzt bereits – irgendwo in der Mitte. Fest steht: »Das Thema ist immer da, es ist etwas, das sich klären will«, so Urban. Es geht wohl nur noch um das Wie.

»Dieser Weg wird kein leichter sein.

Dieser Weg ist steinig und schwer.

Nicht mit vielen wirst du dir einig sein,

doch dieses Leben bietet so viel mehr.«

Das Schweigen der Männer

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