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ОглавлениеMit dem Arsch zur Wand!
Oder:
Wie aus Beutejägern Torjäger wurden
Männer. Männer, die mit anderen Männern in Ekstase geraten. Männer, die andere Männer frenetisch umarmen. Männer, die andere Männer küssen. Männer, die regelrecht übereinander herfallen. Männer, die mit anderen Männern tanzen. Männer, die mit anderen Männern jubeln. Männer, die mit anderen Männern weinen. Männer, die mit anderen Männern leiden. Und Männer, die mit anderen Männern duschen… Männer, die mit anderen Männern begehren. Aber Männer, die andere Männer begehren? – Fehlanzeige!
»Solange ich Präsident bin, wird kein Homosexueller in der Nationalmannschaft spielen«, äußert sich im Herbst 2010 der Chef des kroatischen Fußballbundes Vlatko Markovic. Erst wenige Wochen zuvor wurde der französische Amateur-Fußballer Yoann Lemaire von seinem Club FC Chooz ausgeschlossen, weil man seine Homosexualität nicht akzeptierte. Und auf die Frage einer Journalistin, die das Gerücht eines Tête-a-tête mit einem Teamkollegen ansprach, antwortet Barcelonas Stürmer Zlatan Ibrahimovic: »Besuch mich mal zuhause, und zwar mit deiner Schwester. Dann zeige ich dir, ob ich schwul bin oder nicht!«
Okay, das ist das hinterweltlerische Kroatien. Das chauvinistisch-homophobe Frankreich. Und das katholisch-konservative Spanien. Aber wir hier in Deutschland, wir sind da ganz anders. Schließlich sind doch wir es, die einen Schwulen zum Außenminister gemacht haben! Unsere Gesellschaft ist da doch weitaus liberaler, wir sind da schon viel weiter, oder? Nun, mitnichten. Zugegeben, wir haben einen schwulen Außenminister. Und einen Berliner Bürgermeister, der sich zu seiner Homosexualität bekennt. Doch im Fußball? – Fehlanzeige.
Nach wir vor ist Homosexualität in der Gedankenwelt des Fußballs ein Tabu. Schließlich gilt Fußball als Männersport und wird nicht selten als Kampfsport beschrieben. »Fußball ist für Männer, für harte Männer, und die beißen sich durch. So wird der Sport dargestellt und wahrgenommen«, erklärt der Wissenschaftler Gunter Pilz vom Institut für Sportwissenschaft der Leibniz-Universität Hannover. Pilz ist zugleich Vorsitzender der DFB-Arbeitsgruppe »Für Toleranz und Anerkennung – Gegen Rassismus und Diskriminierung«. Wohl werde auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene ein Liberalisierungsprozess greifbar, meint Pilz, »doch im Fußball selbst ist Homosexualität längst keine Normalität.« Denn Fußball ist ein mit vermeintlich männlichen Attributen stark besetzter Sport. Machotypen sind an der Tagesordnung. »Und Homosexualität stellt eben die fußballerische Identität zutiefst in Frage.«
Einerseits. Doch andererseits ist der Sport wie gemacht für Schwule. Das Fußballfeld – ein Mekka der Homosexualität. Könnte man meinen. Denn nur in wenig anderen Sportarten gibt es derart enge Körperkontakte wie im Fußball. Zudem wird der Fußballkult durchzogen von Gesten, Ritualen und Verhaltensmustern, die homoerotische Assoziationen wecken. Frenetisch jubelnde Männer, die sich in den Armen liegen, übereinander herfallen, sich küssen, nachdem sie das Runde im Eckigen versenkt haben. Wenn dann auch noch der portugiesische Superstar Cristiano Ronaldo im Siegestaumel sich das Trikot vom Leib reißt und seinen gestählten Oberkörper im Rausch des Erfolgs stolz den Massen präsentiert, dann schlagen sie höher, die Frauenherzen. Und ganz ehrlich: die Männerherzen auch. Zumindest einige. Und wer soll’s ihnen verdenken?
Aber Erotik hat ihre Grenzen. Vor allem im Fußball. Große Emotionen zwar, aber keine Erotik. Die hat hier nämlich nichts verloren. Fehlanzeige. So erhielt Nationalstürmer Mario Gomez im Oktober 2010 eine Gelbe Karte, als er sein Bayern-Trikot im Torjubel abstreifte. Gomez schoss den FC Bayern mit drei Treffern zum 3:0-Sieg gegen Hannover und feierte das 2:0 so, wie Gott ihn schuf – mit freiem Oberkörper. Obwohl der sich zweifelsohne sehen lassen kann, gemeint ist der makellose Oberkörper, muss dem Schiedsrichter irgendetwas daran nicht gefallen haben. Als er die Offenbrüstigkeit des Bayern-Stürmers bestrafte, lag Referee Marco Fritz allerdings ganz auf der Linie des Regelwerkes des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) zum Torjubel.
Dort heißt es nämlich unter dem Stichwort »Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen«: »Zwar ist es einem Spieler erlaubt, seiner Freude nach einem Treffer Ausdruck zu verleihen, doch darf der Torjubel nicht übertrieben werden. Die FIFA gestattet Torjubel in angemessenem Rahmen. Zu unterbinden sind jedoch ›choreografierte‹ Jubelszenen, wenn dadurch zu viel Zeit verloren geht. Die Schiedsrichter sind angewiesen, in solchen Fällen einzuschreiten. Ein Spieler wird verwarnt, wenn er: nach Meinung des Schiedsrichters mit provozierenden, höhnischen oder aufhetzenden Gesten jubelt; an einem Zaun hochklettert, um einen Treffer zu feiern; sein Hemd über seinen Kopf auszieht oder es ganz oder teilweise über seinen Kopf stülpt; Kopf oder Gesicht mit einer Maske oder ähnlichem bedeckt. Das Verlassen des Spielfeldes beim Torjubel ist an sich noch kein verwarnungswürdiges Vergehen, doch sind die Spieler gehalten, so rasch wie möglich auf das Feld zurückzukehren. Von den Schiedsrichtern wird erwartet, dass sie in solchen Situationen präventiv auf die Spieler einwirken und bei der Beurteilung des Torjubels gesunden Menschenverstand walten lassen.«
Gesunder Menschenverstand also. Jedoch steht selbst der Trikottausch nach dem Spiel – eigentlich eine versöhnliche Geste der sportlichen Fairness, ein Signal gegenseitiger Achtung nach einer hitzigen Fußballschlacht, ein Zeichen des Respekts vor der Leistung des anderen – bei einigen Verbänden unter Strafandrohung. So berichtet etwa die »Berliner Zeitung« im Juni 1998 über ein strenges Reglement des Weltfußballverbandes FIFA gegen den Trikottausch, mit Verweis auf das Schamgefühl der Frauen in der arabischen Welt. Damit’s den Araberinnen nicht zu warm wird unter ihrer Burka, wenn 22 Athleten mit nacktem Oberkörper vor einem Millionenpublikum posieren? Logisch, dass die kosmopolitischen Frauenversteher der FIFA all die verschleierten Feministinnen, die in der arabischen Welt für gesellschaftliche Progression sorgen, ja nicht vor den Kopf beziehungsweise den Schleier stoßen wollen.
Möglicherweise haben derartige Reglements weitere Gründe: »Überlegen Sie sich mal, wie schwul das aussieht«, wird ein führender FIFA-Funktionär in diesem Zusammenhang zitiert. Der Verhaltensforscher Desmond Morris, zugleich ehemals Direktor von Oxford United, beschreibt in seinem Buch »The Soccer Tribe« aus der Perspektive des englischen Fußballverbandes ein ähnliches Verbot im Jahr 1980 – damals sei demnach wohl das uneinheitliche Bild, das die Mannschaft nach dem Trikottausch abgebe, auf Ablehnung gestoßen.
Kampfszenen auf dem Fußballplatz: Beim Revierderby zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund werden »ganze Männer« gefordert.
Kein Hauch von Erotik
Kurios auch das Vorgehen der FIFA in Bezug auf die Spielbekleidung der kamerunischen Nationalmannschaft im Jahr 2004. Der Ausrüster Puma hatte einen modischen Einteiler entworfen, der Trikot und Hose integriert, körperbetont und eng anliegend. »Ein echter Vorteil, in diesen Trikots zu spielen. Der Gegner findet einfach keinen Griff mehr«, so der Kameruner Bill Tchato damals über die Praktikabilität des Kleidungsstücks. Praktikabel also und noch dazu eine modische Innovation. Doch wohl zu praktikabel und zu innovativ für die FIFA: Es entbrannte ein heftiger juristischer Streit zwischen dem Weltfußballverband, dem Ausrüster Puma und dem kamerunischen Verband um die Sportbekleidung. Den Kamerunern wurde eine Geldstrafe von rund 130.000 Euro aufgebrummt und zunächst ein Abzug von sechs Punkten in der Weltmeisterschafts-Qualifikation ausgesprochen. Schließlich hat die Spielbekleidung aus Trikot, Hose und Strümpfen, also drei Teilen, zu bestehen, so die störrische Argumentation der FIFA. Und da passen modische Einteiler eben nicht ins Bild. Sorry, Fehlanzeige. Schade eigentlich…
Offensichtlich zeichnet sich der Fußball durch eine gewisse Resistenz aus. Eine Resistenz gegenüber trendiger Innovation, modischer Ästhetik und auch nur dem Hauch von Erotik. Und das, obwohl der Sport geprägt ist von Körperlichkeit. Oder gerade deswegen? »Es ist legitim für Männer im Fußball, sich zu berühren. Es ist legitim, sich zu küssen, sich körperlich sehr nahe zu sein. In jedem anderen sozialen Kontext in unserer Gesellschaft wäre das problematisch und würde unter einem Homosexualitätsverdacht stehen. Im Fußball ist das nicht so«, sagt die Sportsoziologin Marion Müller in einem MDR-Beitrag im Juni 2010. Denn die intensive männlich-körperliche Begegnung funktioniert eben nur in einer Sphäre, die selbstverständlich frei ist von sexuellen Begehrlichkeiten und erotischen Fantasien. Männer, die andere Männer begehren? – Richtig: Fehlanzeige.
»Anders als beim Volleyball ist Fußball körperlich, lebt vom Kampf, ist der Ball umstritten – und gelingt ein Tor, fallen dem Torschützen seine Mannschaftskameraden um den Hals, als begännen sie eine Orgie. Fußball lebt von der insgeheimen Verneinung mannmännlichen Begehrens – weshalb in den Umkleidekabinen dröhnend-ängstlich gescherzt wird, man könne, würde man einen Mannschaftskameraden als schwul erkennen, sich ja nicht mehr nach der Seife bücken«, schreibt Jan Feddersen im August 2006 in der »taz«.
Ähnlich argumentiert die Sportwissenschaftlerin Tanja Walther-Ahrens. Die ehemalige Bundesliga-Fußballerin ist zugleich Aktivistin der European Gay and Lesbian Sport Federation (EGLSF). Sie sagt: »Jeglicher Körperkontakt im Fußball, sei es zwischen den Spielern oder bei den Fans, wird als nicht sexuell wahrgenommen. Umarmungen, Anspringen und Herzen gehören zur Fußballkultur. Ein schwuler Spieler würde das unschuldige Umarmen, Aufspringen und Auf-dem-Rasen-Herumtollen in Frage stellen. Homosexuelle bringen nach Meinung vieler Erotik und Begehren ins Spiel. Darüber hinaus besteht bei den Teamkollegen Angst vor Ansteckung durch das gemeinsame Duschen oder bei Zweikämpfen.« Torwart-Urgestein Frank Rost bringt das dann so auf den Punkt: »Ich dusche immer mit dem Arsch zur Wand.«
Der Journalist Aljoscha Pause machte durch seine Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität im Fußball auf sich aufmerksam. Seine DSF-Dokumentation »Tabubruch – Der neue Weg von Homosexualität im Fußball« wurde 2010 mit dem renommierten Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Er fasst seine Eindrücke so zusammen: »Selbst in der euphorischen Situation des Jubels, wenn sich die Kicker innig umarmen, darf nichts zärtlich wirken. Sowieso findet man homosexuelle Sportler gerade nicht unter den sanften, sondern unter denen, die besonders hart in den Zweikampf einsteigen.«
Schließlich ist der Torjubel eigentlich auch kein Ausdruck von Zärtlichkeit im sexuellen Sinne. Im Gegenteil: Hier geht es um die kumpelhafte Demonstration eines männlichen Kollektivs, eines Männerbundes – weit entfernt von jeglicher Erotik. »Wenn die Spieler dann ihr Trikot ausziehen – damit streifen sie auch ein Stück weit ihre Vereinsidentität ab – dann machen sie sich tatsächlich wieder als Person bemerkbar. Aber Fußball ist nun mal keine Individualsportart, sondern ein Mannschaftssport. Und das fordern in den Momenten des Torjubels auch die Mannschaftskollegen ganz klar ein«, erklärt die Sportsoziologin Müller. Wenn Fußballer nach einander greifen, dann geht es eben um die Identität der Mannschaft im Moment des Erfolgs. Es geht darum, den Erfolg des einzelnen Torschützen in die kollektive Leistung der Mannschaft einzuordnen. »Eigentlich ist nicht der andere das Objekt der Zärtlichkeit oder Freude, sondern es geht um etwas anderes. Insofern wird auch der Verdacht, dass es um Intimität geht, eigentlich zerstört«, meint Müller.
Die heterosexuelle Ordnung als ein Wesensmerkmal des Fußballs, das zugleich Grundlage ist für Homophobie und Sexismus? Ja, sagt die Ethnologin Almut Sülzle. Sexismus beschreibt sie als einen Kern des männerbündischen Fußballsports. »Die Männlichkeit des Fußballs funktioniert über die Abgrenzung zu Frauen und Schwulen, die in Sexismus und Schwulenfeindlichkeit mündet.« Vor diesem Hintergrund wird selbst der britische Fußballstar David Beckham, der auch mal mit lackierten Fußnägeln auftritt und offen über eine Vorliebe für das Tragen von Damenunterwäsche spricht, keineswegs als homosexuell wahrgenommen. Höchstens metrosexuell. Ein bisschen anders vielleicht. Metrosexuell eben. Was auch immer das heißen mag. Aber auf jeden Fall nicht schwul! Denn Beckham ist ein Fußballer, und ein guter dazu! Männer, die Männer begehren? Im Fußball? – Fehlanzeige.
»Schwulenfeindlichkeit und Sexismus werden häufig als Teil der kulturellen Logik des Fußballspiels verstanden«, meint Walther-Ahrens. Entsprechend gelten sexistische oder homophobe Verhaltensweisen beispielsweise in der Auseinandersetzung mit dem gegnerischen Team als Provokation, Beleidigung oder Erniedrigung. Schließlich können Schwule nicht schießen, rennen und schubsen, sie machen höchstens ein bisschen Gymnastik, Eiskunstlauf oder Turnen. Derartige Rollenbilder von Männlichkeit, Weiblichkeit und Homosexualität sind tief verhaftet in der Wahrnehmung entsprechender Sportarten und im Bewusstsein ihrer Akteure. Daher prangert Walther-Ahrens das Verschweigen und die Unsichtbarkeit von Homosexualität im Fußball an: »Damit bleibt Homosexualität im Verborgenen, selbst wenn es schwule Athleten gibt. Diskriminiert wird vorrangig durch das Nichtwahrnehmen von Homosexualität.«
Ein bisschen erinnert das an eine Richtlinie des US-Militärs. Darin erklärt sich der Status von Homosexuellen in den Streitkräften durch das scheinheilige Schlagwort »Don’t ask, don’t tell« (»Frage nichts, sage nichts«). Demnach ist es den Soldaten verboten, gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Öffentlichkeit zu führen und während ihrer Dienstzeit ihre sexuelle Orientierung preiszugeben. An den zahlreichen Diskussionen um das Gesetz manifestieren sich die Positionen konservativer Hardliner (»Schwule und Lesben schwächen unser Militär«) und die liberaler Demokraten, die allen Amerikanern Zugang zur Verteidigung des eigenen Landes ermöglichen wollen. Heute gilt der Ausspruch »Don’t ask, don’t tell« als Code für Menschen, die sich öffentlich nicht über ihre sexuelle Orientierung äußern und somit auch ihr persönliches Umfeld nicht anlügen wollen. Sie schweigen einfach.
Fußball als »Pseudo-Jagd«
Doch was zeichnet es eigentlich aus, dieses Prädikat Männersport? Was macht ihn so verdammt männlich, diesen Fußball? Was ist das Wesen des Fußballs? Der Verhaltensforscher Morris ist ebendiesem Wesen des Sports auf der Spur. Er fragt nach dem Innersten, was ihn zusammenhält, den Rasenkick. In seinem Buch »Das Spiel. Faszination und Ritual des Fußballs« (»The Soccer Tribe«) aus dem Jahr 1981 blickt er mit durchaus wissenschaftlicher Brille auf den Sport und seine Akteure. Er betrachtet den Fußballkosmos wie einen Volksstamm und beschreibt entsprechend dessen Stammesrituale, dessen Stammeshelden, dessen Stammesälteste, dessen Stammesanhänger und dessen Stammessprache. Dabei erklärt Morris auch zentrale Rollenbilder und versucht deren Ursprünge in einem kulturhistorischen Zusammenhang zu begründen. Sowohl die weltweite Attraktivität des Fußballspiels als auch seine stark männlich dominierte Wahrnehmung führt Morris auf die Funktion des Fußballs als »Pseudo-Jagd« zurück.
Morris geht davon aus, dass sich geschlechtsspezifische Rollenbilder in der vorgeschichtlichen Zeit herausgebildet haben. »Das Menschentier ist eine Spezies für sich«, schreibt er in seiner launigen Abhandlung. »Da die Weibchen des Stammes stark von ihren Mutterpflichten in Anspruch genommen waren, kam es zur Arbeitsteilung, bei der den jungen ausgewachsenen Männchen die Hauptrolle bei der Jagd zufiel.« Die Ursache für den Übergang von Beutejägern zu Torjägern und die Entwicklung des modernen Sports sieht Morris im gesellschaftlichen Wandel an der Schwelle zur Neuzeit. Die Jagd, deren Erfüllung durch landwirtschaftliche und später industrielle Tätigkeiten hinfällig geworden sei, finde ihre Entsprechung nun eben in sportlichen Ereignissen, in der Pseudo-Jagd – im Fußball. »Die Herausforderung der Jagd, die Aufregung taktischer Manöver, das Wagnis, die Gefahr und der große Höhepunkt des Tötens« – all die damit verbundenen Verhaltensmuster haben ihren Niederschlag im Fußball.
Den Erfolg des Fußballs – im Vergleich zu anderen Sportarten – führt Morris darauf zurück, dass der Fußball dem vorgeschichtlichen Jagdritual am ehesten entspreche. »Ein Sportereignis ist für die Zuschauer umso befriedigender, je mehr Jagdelemente zur Schau gestellt werden« – und der Fußball vereine eben die Rolle des mit taktischer Raffinesse angreifenden Jägers mit der Rolle der sich geschickt und wendig verteidigenden Beute. Dazu erhöhe ein kriegerisches Element die Spannung eines Fußballspiels: »Obwohl die Spielfolge und das ganze Ritual auf eine Pseudo-Beute abzielen, also auf der Analogie zur Jagd beruhen, wird das Endergebnis nach kriegerischen Maßstäben beurteilt.« Es gilt, einen Gegner zu schlagen, zu vertreiben, zu zerstören. Beide Kategorien, die der Pseudo-Jagd sowie das kriegerische Element, seien maßgeblich für die Erregung der Zuschauer. Im Vergleich zu anderen Sportarten biete der Fußball hier ein »Optimum an Geschwindigkeit und ein Optimum an Überraschungsmomenten«, verweist Morris auf das Tempo einer durchschnittlichen Partie, gemessen an den Ballkontakten. »Die Werte eines durchschnittlichen Fußballspiels sind geradezu ideal dafür, Aufmerksamkeit zu erregen und zu fesseln.«
In diesem Geist beschreibt Morris den Stadionbesuch als eine männlich dominierte Stammesversammlung, bei der traditionell maskuline Attribute ritualisiert zum Ausdruck kommen. »Für die Traditionalisten in der Fußballgemeinde ist die Stammesversammlung eine gemeinsame symbolische Prüfung und kein Familienausflug zur bloßen Unterhaltung. Sie bietet heroischen Jäger-Kriegern Gelegenheit, Mut und Tapferkeit zu beweisen.« Eine stark reglementierte, konservative Sphäre mit strengen Hierarchien und autoritären Strukturen, in der die Traditionalisten stets eine Aufweichung ihres Rituals befürchten. »Die Hauptrolle der Stammesältesten besteht darin, die uralten Traditionen gegen Fortschritt und Expansionsbestrebungen zu verteidigen, deren Durchsetzung ihre Aufgabe im Geschäftsleben wäre. Die einzige Veränderung, die sie anstreben, ist eine erhöhte Torquote.«
Fußball als Jagd: Verhaltensforscher Desmond Morris, hier 1981 im Gespräch mit dem damaligen Bundestrainer Helmut Schön.
So ist der Fußball geprägt durch traditionell-konservative Rollenbilder von Mann und Frau, meint Morris. Dies gilt insbesondere für die Athleten, die Stammeshelden. Denn für Individualität gibt es im Gruppenzwang des Mannschaftslebens wenig Raum, es gilt eine gewisse Uniformität. Für Anderssein ist kein Platz. Schließlich erfahren die jungen Spieler ihre Sozialisation bereits im Fußballkosmos: »Die breite Mehrheit der Stammeshelden war von frühester Jugend an tief in die Welt des Fußballs verstrickt, und Erfolg in dieser Welt war der ewige Traum und die Phantasievorstellung der Jugend. Um Erfolg zu haben, dürfen die Jungen von Beginn ihres Lebens an nur eines im Sinn haben, und da bleibt wenig Zeit, sich um Bücher zu kümmern. Wo immer sich der aufstrebende Held auch befindet, im Geiste rennt er insgeheim stets mit einem Ball vor den Füßen über den Rasen. Das ist das Holz, aus dem zukünftige Stammeshelden geschnitzt sind.«
Helden kennen keine Schwächen
Dabei erkennt Morris in der Rolle des Stammeshelden einen grundsätzlichen Konflikt: »Um Erfolg zu haben, muss er andere ausstechen und überflügeln, gleichzeitig kann er aber nur dann erfolgreich sein, wenn er sich kooperativ in die Mannschaft einfügt. Einerseits muss er auf aggressive Art und Weise selbstbezogen sein und sich in den Mittelpunkt stellen; andererseits muss er zurückhaltend und hilfreich sein. Zum großen Teil erklärt dieser fundamentale Widerspruch die Persönlichkeit des modernen Fußballspielers.« Im Wettbewerb mit anderen Teams muss sich der Sportler mit seiner Mannschaft kontinuierlich behaupten, doch auch innerhalb der eigenen Mannschaft ist er einem ständigen Kampf um den Stammplatz ausgesetzt – obgleich sich die Truppe nach außen hin als Einheit präsentieren soll. »Das Bild von ›Elf Freunde müsst ihr sein‹ ist eine idealisierte Vorstellung einer Fußballmannschaft und im Liga-Alltag fern der Realität«, sagt auch Pilz. Fußballer sind Einzelkämpfer, obwohl sie im Kollektiv einer Mannschaft auftreten.
Diese angespannte Wettbewerbssituation erfordert also Persönlichkeiten, die stabil, diszipliniert, zäh, gewissenhaft, selbstbeherrscht, selbstsicher und egozentrisch, fast schon narzisstisch und selbstsüchtig sind. Dazu kommt die Teamfähigkeit als zusätzliche Stärke, wenn Erfolge errungen werden sollen. Morris: »Sobald er auf dem Rasen ist, muss des Spielers Persönlichkeit mit den zehn anderen Persönlichkeiten verschmelzen, um eine Mannschaft in ein Superwesen zu verwandeln – ein 22-beiniges Monster mit einem einzigen Ego.« Der Spieler muss eine »unvermeidliche, egozentrische Selbstsüchtigkeit mit einem selbstlosen Mannschaftsgeist verbinden«.
Ein Spannungsfeld, mit dem sich gerade in jüngerer Zeit – nach dem Selbstmord von Nationaltorhüter Robert Enke im Herbst 2009 – auch Psychologen intensiver als zuvor beschäftigen. Ein Spannungsfeld, das in einer leistungsorientierten Sphäre die Drucksituation, in der sich der Spitzenfußballer befindet, zusätzlich verstärkt. Diesem Druck hielt Enke seinerzeit nicht stand; er litt an Depressionen, die ihn letztlich in den Freitod trieben. Sein Leid hielt er selbst in seinem näheren Umfeld geheim. Umso schockierter war die Öffentlichkeit, waren Verein, Mitspieler und Verbände, als sie von der Nachricht seines Todes erfuhren.
Schließlich machen es gerade im Fußball überzogene männliche Rollenklischees und Anforderungen wie »Härte zeigen« oder »Zähne zusammenbeißen« für Leistungssportler schwierig, sich zu psychischen Problemen zu bekennen. Denn es ist sportimmanent, dass Schwäche auf dem Platz hart bestraft wird – durch einen gnadenlosen Gegentreffer, den Pfiff des Schiedsrichters oder das Buhen tausender Fans. Entsprechend hat sich der Fußballer auch neben dem Platz den Leistungsprinzipien und normativen Regeln der Sportart unterzuordnen. Schwäche zu zeigen ist nicht erlaubt. Und dazu gehört das Bekenntnis beispielsweise zur Depression.
»Leistungssportler müssen in der Lage sein, Außergewöhnliches zu leisten«, argumentieren die Psychologen Jürgen Hoyer und Jens Kleinert in der Ausgabe 3/2010 des »Psychotherapeutenjournals«. Hierzu zählen eben nicht nur exzellentes Können in der jeweiligen Sportart, sondern ebenso erhebliche psychologische Kompetenzen wie Diszipliniertheit, Zielorientierung, Motivation sowie schnelle körperliche und psychische Regeneration im Wettkampfbetrieb. Denn: »Mentale Stärke gewinnt.« In diesem Kontext wird wohl sportlicher Erfolg nicht selten mit hohem Selbstvertrauen assoziiert. Und Gegenteiliges wird als Schwäche, als Unzulänglichkeit, als Erfolglosigkeit stigmatisiert.
»Psychische Störungen sind in diesen Berufsgruppen, aufgrund der besonderen Kompetenzen, die sie voraussetzen, tendenziell eher seltener«, meinen Hoyer und Kleinert. »Die Gefahr, dass diese Störungen nicht erkannt werden, wenn sie in Einzelfällen trotzdem gegeben sind, ist aber genau deswegen höher.« Beispiel: Robert Enke. Oder der Nationalspieler Sebastian Deisler, der während seiner Karriere beim FC Bayern München ebenfalls an Depressionen litt. Nach einer vorübergehenden Karrierepause zog sich Deisler letztendlich aus dem aktiven Profigeschäft zurück, mit Verweis auf eine Knieverletzung.
Beide Fälle, sowohl der Selbstmord von Enke als auch das Bekanntwerden von Deislers Depression, riefen in der Öffentlichkeit heftige Reaktionen und in den Medien dicke Schlagzeilen hervor. Denn hier war etwas geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen, bislang nicht geschehen konnte: Spitzensportler, nationale Ikonen, Symbole von Leistungskraft und Stärke lassen plötzlich eine persönliche Schwäche erkennen. Schließlich gilt gerade der Leistungssport als modernes Heldentum. »Seelische Probleme passen da nicht ins Bild. Als wären die Leistungssportler vor psychischen Störungen gefeit«, erklären Hoyer und Kleinert. Doch hinter den verehrten Sportidolen verbergen sich eben keine göttlichen Ikonen, sondern reale Menschen mit realen Sorgen, realen Befürchtungen und realen Ängsten.
Aus praktischer Sicht fordern Hoyer und Kleinert also einen aktiveren und professionelleren Umgang mit dem Thema »Leistungsdruck im Spitzensport« seitens der Trainer, der Vereine, der Verbände sowie der handelnden Akteure. »Lösungen für dieses Problem lägen in einer größeren Akzeptanz wissenschaftlich bewährter diagnostischer und psychotherapeutischer Methoden und in einer engeren interdisziplinären Kooperation.« Ein hoher Anspruch. Doch wie soll das gehen? Gerade in einem Bereich, den etwa Morris als besonders beratungsresistent beschreibt? In der Trainingsmethoden von Generation zu Generation überliefert werden? In der die Manager, Trainer und Übungsleiter in der Regel selbst dem Fußballkosmos und seiner Sozialisation entstammen? In der innovative wissenschaftliche Ansätze eher als missliebige Eingriffe von außen bewertet werden, als dass ihr befruchtendes Potenzial verstanden wird? In der selbst ein modischer Einteiler, so praktikabel er auch sein mag, für juristische Auseinandersetzungen und internationale Zerwürfnisse sorgt – nur, weil er neu ist und nicht ins gängige Raster passt? Jedenfalls scheint der Lösungsansatz von Hoyer und Kleinert ziemlich optimistisch formuliert…
Im Brennpunkt der Emotionen
Aus einer klein wenig anderen, aber durchaus aufschlussreichen Perspektive beschreibt der Philosoph Wolfgang Neuser das Spannungsfeld, in dem sich der Leistungssportler bewegt. Der Sportler sei Vermittler zwischen Emotionalität und Rationalität, ist Neusers These. Diese doppelte Ausrichtung sei ein charakteristisches Element für die Drucksituation eines Fußballers und zeige, wie sehr der erfolgreiche Spitzensportler in klaren Rollenbildern verhaftet sei. Neuser ist Professor an der Technischen Universität Kaiserslautern und Mitgründer des dortigen Instituts für angewandte Sportwissenschaft.
»Menschen sind beides – rational und emotional«, schickt Neuser voraus. In der modernen Gesellschaft allerdings ist ein hochgradig organisiertes und geplantes Arbeitsleben erkennbar, Rationalität und Effizienz sind also die dominanten Werte. Emotionalität dagegen wird verdrängt, insbesondere in den Freizeitbereich, und beansprucht, dort eben ausgelebt zu werden. Anders formuliert: Die Nachfrage an Rationalität in der modernen Gesellschaft ist gedeckt, es besteht jedoch ein Bedarf an Emotionalität. Dieser Bedarf ist längst erkannt und wird marktwirtschaftlich umgesetzt, etwa in Werbe- und Marketingstrategien.
Sei es die familiäre Geborgenheit, die das Fahrgefühl eines Autos vermittelt, sei es die unbändige Freiheit, die in einem Erfrischungsgetränk steckt oder sei es die große Abenteuerlust, die den Rauch einer Zigarette ausmacht. Längst werden Emotionen verkauft und konsumiert. Nicht zuletzt sind es Musik, Filme oder eben Events, die emotionale Erlebnisse vermitteln und das Publikum in ihren Bann ziehen. Events auch in Fußballstadien. Neuser: »Fußball spricht die Emotionalität der Menschen an.« So schreibt Morris über die Siegerfeierlichkeiten in der Fußballarena: »Überall kommt es zu Ausbrüchen ungezügelter Leidenschaft, so als ob die Symbolik des Spiels verborgene Quellen des Gemeinschaftsgefühls im Menschen aufdecke. Im Brennpunkt dieser Emotion stehen die Spieler.«
Die Spieler also im Brennpunkt der Emotion. Einerseits übt der Spieler einen rational gesteuerten Job aus, muss logische Entscheidungen treffen, muss Verträge mit Vereinen oder Sponsoren abschließen und im Spiel selbst hochkonzentriert zur Sache gehen. Anderseits muss er jedoch Emotionen ausleben und präsentieren. Beispiel Formel 1: Im Rennwagen darf sich Sebastian Vettel keinen Fehler erlauben, keine Schwäche zeigen, muss äußerst rational agieren. Wenn er aber aus dem Auto aussteigt, dann muss er emotional ausdrücken, dass es ihm wert ist, gewonnen zu haben, dann muss er jubelnd gestikulieren. Nur so können sich seine Anhänger in den Erfolg einordnen, werden Teil des Jubels und können Emotionen erleben. Der Sportler lernt also im Laufe seiner Karriere, die Darstellung von Emotionen zu steuern und seine eigenen Emotionen zu präsentieren. Gelehrt wird ihn dies durch die Rückkopplung des Publikums. Denn diese Resonanz wiederum bedingt sein subjektives Empfinden des Erfolgs.
Ähnliches gilt für den Fußballer. Neuser: »Wenn die Fußballer keine wohlanalysierbare, rationale Strategie im Spiel erkennbar werden lassen, dann werden die Zuschauer sauer und pfeifen. Dann zeigen sie den Spielern negative Emotionen, weil sie den Eindruck haben, die Spieler machen ihren Job nicht richtig. Ebenso wären die Zuschauer unzufrieden, wenn die Spieler nur rationale Spielzüge machen würden, ohne dass es Auflösungen in emotionalen Ausdrücken geben würde.« Die Darbietung der Sportler muss also rationalen und emotionalen Erwartungen der Zuschauer entsprechen, um durch deren Jubel belohnt zu werden. Tut sie das nicht, folgen missgünstige Reaktionen der Zuschauer.
Die Spieler finden sich dadurch stetig – mit ungewissem Ausgang – in Situationen, in denen sie mit ihrem Spiel emotionale Spannungen aufbauen. Erst, wenn es aus der Dynamik des Spiels zum Abbruch kommt, zum Einwurf, zum Freistoß, zum Elfmeter, zum Torerfolg oder zum finalen Abpfiff, erst dann führt es zu einer Lösung der emotionalen Spannung, die vorher kontinuierlich aufgebaut wurde. Der Fußballer ist also ständig rationalen und emotionalen Erwartungen ausgesetzt mit dem Druck, diese erfüllen zu müssen. Damit sind die externen Erwartungshaltungen an den Spieler hoch und bieten ihm nur wenig Raum für die Entfaltung individueller Interessen, persönlicher Bedürfnisse und Neigungen.
»Es ist kein Platz für Schwäche in einem Team, das derart erfolgreich ist«, bringt John Amaechi die Perspektive eines Athleten auf den Punkt, nachdem er einen Spielbericht des FC Bayern München im »Aktuellen Sportstudio« verfolgte. Amaechi spielte selbst in der amerikanischen Profi-Basketball-Liga NBA. Im Anschluss an seine Profikarriere bekannte sich Amaechi zu seiner Homosexualität. Gemeinsam mit dem deutschen Fußballer Andreas Biermann, der unter Depressionen litt, sprach Amaechi im November 2010 im »Aktuellen Sportstudio« des ZDF zu Tabuthemen im Spitzensport, zu Homosexualität und deren Verbergen sowie zu Leistungsdruck und versteckter Depression.
»Es liegt in unserer Kultur, dass Männer stark zu sein haben und nicht über Gefühle sprechen«, versucht Amaechi eine Erklärung der Mechanismen in der Wahrnehmung des Leistungssports, in dem Männlichkeit dominiert. Bereits der deutsche Pop-Sänger Herbert Grönemeyer besingt 1984 das Wesen des männlichen Geschlechts wie folgt: »Männer haben Muskeln, Männer sind furchtbar stark.« Aber Grönemeyer weiß gleichzeitig auch: »Männer weinen heimlich / Männer brauchen viel Zärtlichkeit / Männer sind so verletzlich.« Das Bild äußerer männlicher Stärke und wenn überhaupt innerer, verborgener Verletzlichkeit – dieses Bild ist wohl nach wie vor prägend für die Vorstellung des modernen Mannes.
Und dieses Bild scheint sich mit Homosexualität nicht in Einklang bringen zu lassen. »Die Tatsache, dass man homosexuell ist, und anzunehmen, dass man deswegen schwächer sei, ist altmodisch«, verweist Amaechi auf seine persönlichen Erfolge in der wohl stärksten Basketball-Liga der Welt. »Schwul zu sein ist das Gegenteil von dem, was sich die Menschen unter einem Sportler vorstellen, obwohl die sexuelle Orientierung keinen Einfluss auf die sportliche Leistung hat.«