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Kapitel 3 Am Postschalter

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Zweiteilige Frage: 1. Was glauben Sie, seit wann Menschen in den April geschickt werden, was ja nur ein vornehmerer Ausdruck für »verarscht werden« ist?

2. Was glauben Sie, wo dieses In-den-April-Schicken seinen Ursprung hat? Und wenn Sie doch wissen, dass ich meine Wurzeln in Persien habe, würde es Sie wundern, wenn ich Ihnen sagen würde, dass der Ursprung des In-den-April-Schickens in einem Vorort von Teheran liegt? Tut mir leid, damit kann ich auch nicht dienen. Iraner verarschen sich sicher auch mal im Jahr und lachen sich diebisch ins Fäustchen, aber dazu brauchen sie nicht den 1. April.

Das Ganze geht schon eine ganze Weile so, man weiß nicht genau, wie lange, aber die Redewendung »Jemanden in den April schicken« wurde schon Sechzehnhundertschießmichtot erstmals erwähnt in Deutschland. Über Mitteleuropa ist diese Tradition dann irgendwann nach Nordamerika gelangt und womöglich nun auch längst im Iran angekommen, genau weiß ich das gar nicht.

Was ich noch weiß, ist, dass ich einmal als Vierzehnjährige zu Hause ans Telefon ging und eine Frau am anderen Ende sagte, sie sei von der Deutschen Bundespost und dass sie wichtige Messungen durchführen müsse. Ich sagte, meine Eltern seien nicht zu Hause, und sie erwiderte, dass mache nichts, ich könne auch bei der Messung behilflich sein. O. K., sagte ich und die Frau am anderen Ende forderte mich auf, die Länge der Strippe zwischen unserem Telefon und der Dose in der Wand zu messen, und als sie meine Überforderung bemerkte, gab sie mir den Tipp, doch ein Lineal aus meiner Federtasche zu holen. Da ein schnurloses Telefon noch nicht in unserem Haushalt angekommen war, hatten wir eine lange Leitung, die, mit einem 15-cm-Lineal gemessen, einigen Stress in mir auslöste.

Eine lange Leitung hatte aber scheinbar auch ich, was mir bewusst wurde, als ich erschöpft »fünf Meter fünfzig« ins Telefon krächzte, als Antwort ein »April, April« hörte und meine Klassenkameradin Martha sich nicht mehr einkriegen wollte vor Lachen, dass ich tatsächlich mit einem Lineal die Strippenlänge unserer Telefonleitung gemessen hatte.

Besten Dank auch, Martha. Ich revanchierte mich übrigens im Folgejahr damit, dass ich im Auftrag des Tierparks Hagenbeck bei ihr anrief und ihr auftrug, bitte Fenster und Türen zu schließen und sich unter den Esstisch zu legen, da drei Leoparden ausgebrochen seien, die zuletzt im Vorgarten ihres Mehrfamilienhauses gesichtet worden seien.

Wer, glauben Sie, hat mehr gelitten? Ich, ein Jahr zuvor, oder sie? Eben!

Warum ich das erzähle? Weil am 1. April 1990 das Größte In-den-April-Geschicke meines Lebens geschah.

Wenn ich von meinem ersten Schalter erzähle, ernte ich bei meinen Zuhörern meist eine Mischung aus Gelächter und Mitleid. Selbst meine besten und langjährigsten Stammkunden denken nämlich, mein erster Schalter sei der im alten Charterterminal 1 des Hamburger Flughafens gewesen (und wenn ich ehrlich bin, denke ich, auch Sie werden mich in diesem Buch dabei erwischen, dass ich von eben diesem als meinem ersten Schalter spreche). Weit gefehlt. Aber vergessen Sie bitte nicht, wir sprechen von einer Zeit, in der ich durch den Erdkundeunterricht einigen Ländern ihre Hauptstädte zuordnen konnte, aber dass La Palma zu den Kanaren gehört oder Menorca eine Baleareninsel ist – nie gehört.

Der 1. April 1990 war mein erster Tag in der allerersten L’tur-Last-Minute-Filiale in der Freien und bislang gut ohne Last-Minute-Reisen auskommenden Hansestadt Hamburg. Es wäre untertrieben zu sagen, dass die ein oder andere Jungfrau eher zu einem Kinde gekommen wäre, als ich zu diesem Job, aber in erster Linie ist klar: Ich hatte selbst schuld. Wenige Wochen zuvor hatte ich noch bei diesem Kleinanzeigenblatt gearbeitet und entweder Kleinanzeigen an Menschen verkauft, die wahlweise Hamsterkäfige, norwegische Strickpullis oder Bootlegs von »The Cure« (»Verk. A Hard Rain’s A-Gonna Fall – The Cure. Live Konz. aus HH von 85. Grünes Vinyl, Top Qual. DM 35 VB«) oder sonst etwas anboten, oder Anzeigen an Großkunden, »JVC präsentiert den weltweit ersten VHS-C-Video-Camcorder!«, die ihre Produkte genauso, nur anders, an den Mann / die Frau bringen wollten. Online gab es damals noch nicht. Das Blatt wurde ausschließlich gedruckt verkauft. Daraus ergab sich der (verboten zu missbrauchende) Vorteil für mich, dass ich im Grunde auf alles Angebotene Erstzugriff hatte, bevor irgendein Leser die Chance bekam, den Strickpulli aus Norwegen zu ergattern. Mir gefiel einfach die hochwertige Anzeige. Vierfarbdruck (boah, müssen die Kohle haben!), Grundfarbe leuchtendes Pink, verziert mit Palmen und anderem Urlaubsgedöns. Ein leuchtend bunter Knaller unter all den vielen Fließtextanzeigen in Schwarz-Weiß. »Für unsere erste L’tur-Last-Minute-Filiale in Hamburg suchen wir …« – Maryam Komeyli!, führte ich den Satz in Gedanken zu Ende, »eine Filialleiterin.«

Wissen Sie, mir ging es nie um Titel. Aber Filialleiterin für eine Firma, die ultracoole pinkfarbene Anzeigen schalten kann, das sprach mich dann doch an. Dumm für all die Hamburgerinnen und Hamburger, dass, Tage bevor sie eine Chance hatten, sich auf die Anzeige zu bewerben, meine Bewerbung schon in Baden-Baden in der Personalabteilung vorlag. Sogar noch mehr: mir schon eine Einladung zu einem persönlichen Treffen.


Kennen Sie Baden-Baden? Als jemand, der den Iran gut und Hamburg inzwischen sehr gut und der ansonsten nur die Wegstrecke zwischen Hamburg und dem Iran kannte, war Baden-Baden für mich wie eine Erlebnisreise. Vergessen Sie die wirklich seltsamen Grenzkontrollen zwischen Bulgarien und der Türkei, wenn Sie sie mit einem Vorstellungsgespräch in Baden-Baden vergleichen! In Baden-Baden musste ich als junge Deutschperserin mit Goldgeschmeide an Ohren und Hals und schrillem Outfit, gepaart mit den Informationen, die ich in meiner Bewerbung über das Verkaufen von Anzeigen angegeben hatte, einfach Erfolg haben. Mein Chef beim Anzeigenblatt war sich damals schon sicher, dass ich Eskimos auch Kühlschränke und dem Papst Kondome andrehen könnte, bevor die wüssten, wie ihnen geschieht.

Und so kam es, wie es kommen sollte. Maryam wurde Filialleiterin der ersten L’tur-Last-Minute-Reisen-Filiale in Hamburg. Zum 1. April 1990. Und wenn Sie jetzt glauben, dass man damals schon wusste, wohin die (Last-Minute-)Reise ging, weit gefehlt. Die ersten Filialen sollten nicht etwa an Flughäfen eröffnen, sondern dort, wo man sich große Kundenströme versprach. Marketingspezialisten dachten an Filialen in Tankstellen und bei der Post! Ja, wirklich! Die allererste Filiale in Hamburg eröffnete also mitten in der Hamburger Innenstadt, beste Lage, im Postamt am Gänsemarkt. Bevor Sie jetzt als Nicht-Hamburger googeln: Gänsemarkt ist wirklich 1 A. Bevor Sie es jetzt als Hamburger googeln: Das Postamt gibt es längst nicht mehr, aber selbst wenn es es noch gäbe, stellen Sie sich bitte neben 20 Postschaltern, an denen die Kunden Schlange standen, keinen L’tur-Schalter vor, der die unzähligen in der Schlange Wartenden zuhauf mit Schnäppchenreisen versorgte.

Mein erster, am 1. April 1990 bezogener Schalter war dort untergebracht, wo die Postgroßkunden der Gegend sehr früh morgens ihre Großkundenpostsäcke abholen ließen. Unilever, damals noch einen Steinwurf entfernt, holte da die gesamte Firmenpost ab. Das Lufthansa-Hamburg-Büro holte dort ironischerweise seine Post ab. Werbeagenturen, Verlage – sie alle holten dort morgens ihre Post ab. Das Ganze geschah zwischen 6 und 9 Uhr morgens. Blöd nur: Wie von der Zentrale vorgegeben öffnete ich meinen Schalter um Punkt 9! Kundenverkehr gleich null. Und mein Büro war eh sonderbar: Es bestand aus einem Raum, der von der Schalterhalle getrennt war durch eine Jalousie, die sogar elektrisch auf- und zuging. Seltsamerweise waren die Seiten des Büros zur Halle hin offen, sodass die Jalousie vorn eigentlich gar keinen Sinn ergab. In der großen Halle gab es einen sehr großen Schalter gegenüber von mir. Genau dort holten die Großkunden ihre Post ab. An dem Schalter saß Guli, einer der nettesten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Wenn er um 9 Uhr seine Jalousie herunterfuhr, während meine hochratterte, guckte er zu mir hinüber und fragte: »Maryam, alles gut? Schon Kaffee gekocht?« Und machte Feierabend. Ich glaube, er verstand noch weniger als ich, was für ein Sinn dieses Verkaufsbüro für Reisen in dieser Großkundenschalterhalle hatte. Aber eine Tasse Kaffee hatte ich immer für ihn. Am liebsten würde ich sagen: für ihn und die vielen anderen, die zu mir strömten – aber die gab es schlichtweg nicht. Ab 9 Uhr war die Halle tot. Budget, Werbung zu schalten, gab es nicht. Das Einzige, was man mir zugestand, war ein Glaskasten im Treppenhaus des Postamtes, in den ich L’tur-Poster hängen durfte. Sexy, nicht wahr? Ich wusste, ich musste mir etwas einfallen lassen, um irgendwann einmal ein paar Reisen zu verkaufen.

Und so kamen mir zwei entscheidende Ideen: Diese große und ab 9 Uhr leere Halle lag im Hochparterre eines altehrwürdigen Hamburger Backsteinpalais. Der Hamburger wusste, dass da irgendwo die Post saß, aber das war es auch schon. Trotzdem tobte jenseits der Postwände das Leben der Hamburger Innenstadtbestlage. Also öffnete ich das Fenster, setzte mich aufs Fensterbrett und schrie junge Leute auf der Straße an, dass ich hier oben hinter den dicken Mauern unglaubliche Reiseschnäppchen anzubieten hätte. Idee zwei: Nachdem Guli mir versichert hatte, dass vor meiner täglichen Jalousienhochfahrt das Leben in dieser Halle tobe, da die Firmen zwischen 6 und 9 Uhr ihre Post abholten, kam ich eben schon um 6 – und da war wirklich was los. Als mir darüber hinaus bewusst wurde, dass Post ja nur abgeholt werden kann, wenn sie bereits am Schalter sortiert vorlag, öffnete ich schon um 4 Uhr, um als Kundschaft auch noch die Postkollegen zu gewinnen, die die Post erst zum Großkundenschalter schafften.

Einer meiner ersten Kunden war ein Student, der gegenüber bei der Hamburger Lufthansa-Filiale jobbte und für die Kollegen dort allmorgendlich die Post abholte. Aufgrund seines Jobs kam er an ungemein günstige Flugtarife heran. Zum vollkommenen Glück aber fehlten ihm ungemein günstige Hoteltarife. Ob ich da was machen könne, er dachte an Cala Rajada. »Klar!«, sagte ich etwas zu überschwänglich erfreut, ohne zu wissen, wo er denn überhaupt hinwollte. Ich hatte zwar schon einen Computer als Hilfe, aber vergessen Sie nicht: kein Internet. Googeln war nicht. Wikipedia gabs noch nicht! Mein Computer kannte Flughafenkürzel, aber Cala Rajada hatte keines. Machen wir es kurz: Der Lufthansa-Student durchschaute mein Unwissen sofort. Und als ich merkte, dass er womöglich ein wichtiger Baustein in meinem neu erworbenen Aprilscherzberufsleben sein könnte, machte ich ihm instinktiv das Angebot, mein erster Angestellter zu werden. Aus einem Einmannbetrieb ohne Kunden wurde so ein Zweimannbetrieb ohne Kunden, aber er lehrte mich in den folgenden Wochen Basics, ohne die ich heute nicht wäre, was ich wurde. Dass Menorca und Mallorca zwar beides Balearen, aber dann doch verschiedene Inseln sind. Dass die Pityusen ein Teil der Balearen sind, aber eben nur aus Ibiza und Formentera bestehen. Dass man, um nach Formentera zu kommen, nach Ibiza fliegen muss, da die Insel keinen eigenen Flughafen hat. Dass es zwei verschiedene Schiffsverbindungen zwischen Ibiza und Formentera gibt: einen trödeligen Fischkutter und eine Schnellfähre. Und all dieses Wissen hatte er für so unglaublich viele verschiedene Reisedestinationen parat, dass ich sagen kann: Gut, dass wir so wenig Kunden hatten, denn so gab es viel Zeit, mich von ihm mit seinem Reisewissen füttern zu lassen. (Er ist heute übrigens ein namhafter Rechtsanwalt in Hamburg und ich hoffe, er weiß, wie sehr ich ihm danke, dass er mir all dieses Wissen einimpfte. Denn ohne ihn musste ich eine Hürde meistern, die fast schiefgegangen wäre: mein erstes wirkliches Verkaufsgespräch mit jemandem, der eben nicht wohlgesonnen als Lufthansastudent darauf aus war, mir zu helfen. Es war der Tag, an dem zwei junge Damen vor mir standen und ich zum ersten Mal begriff, dass es darauf ankommt, wie man verkauft, nicht was!)

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