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Kapitel 4 Sardinien oder Galicien – Hauptsache Italien

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Woher sie sich hier hereinverirrt hatten, wieso sie wussten, dass man bei mir in letzter Minute zu Schnäppchenpreisen günstig verreisen konnte? Das hätte mich brennend interessiert, wenn ich nicht so unfassbar aufgeregt gewesen wäre, dass da nun nach meinem ersten Kunden, der zu meinem ersten Mitarbeiter werden sollte, endlich zwei weitere echte Kunden vor mir standen. Leider war aber mein Lufthansa-Student ja nun gerade auf Mallorca, weswegen ich erst einmal nur vier Tage lang in den Genuss seiner Lehre gekommen war. Unsere erste Lektion war dann auch tatsächlich mit »Mallorca kennen und lieben« überschrieben, da er mir prognostizierte, dass es hier wohl die meiste Nachfrage geben würde.

Dass auch mein Jalousienbuddy Guli ein paar Postler beim Frühstück überredet hatte, ein wenig Interesse an meiner Jalousie zu heucheln, war selbst einer Anfängerin wie mir schnell aufgefallen. Deswegen dachte ich beim ersten Blick auf die beiden auch: Vielleicht Töchter von einem Postler. Oder Freundinnen von einer Tochter von einem Postler. Die beiden Damen waren jung, sehr jung, ich auch, doch uns unterschied etwas Signifikantes, das im Verhältnis zwischen jemandem, der eine Reise verkauft, und jemandem, der eine Reise kauft, nicht unerheblich ist, was sich schon bald in meinem aufregenden ersten richtigen Verkaufsgespräch zeigen sollte.

»Na, ihr Süßen, was kann ich für euch tun?«

»Wir wollen gerne nach Sardinien!«, sagte die eine. Sie war vielleicht 18 Jahre alt, die andere ein bisschen älter. Die Ältere fügte hinzu:

»Wir haben letztes Jahr zwei total heiße Boys im Urlaub kennengelernt …« (Verdrehen Sie jetzt nicht vorschnell die Augen, die Achtziger waren ja nun gerade erst Geschichte! Holen Sie mal Fotos von 1990 von sich heraus! Ja, die mit der fiesen Frisur und den schrillen Klamotten: Das waren Sie! Und so haben Sie auch geredet! Genauso wie Sie zu Modern Talking getanzt haben. Ich kann schon verstehen, dass Sie davon nichts mehr wissen wollen.) »Ihr meint, ihr habt dort eure Freunde?« (Ich meinte eine Mischung aus Freunden im Sinne von »Freund« und Freunden im Sinne von »Lover«! Und das meinte ich im Sinne von: keine Lebensgefährten, aber vielleicht auf dem Weg dorthin. Irgendwann. Niemals!) »Unsere Boys, also Freunde, wohnen in Sardinien, also in Cagliari, und da wollen wir gerne wieder hin.«

»Also zwei Tickets«, fügte die andere hinzu, als hätte ich nicht richtig verstanden, als wüsste ich nicht, wo Cagli, Cagla, Caglu, was weiß ich, liegt. Weiß doch jeder … jeder? Ich gestehe Ihnen hiermit, dass ich in einer Mischung aus Aufregung und Unwissenheit schon wieder vergessen hatte, wohin die beiden eigentlich wollten, obwohl sie es doch gerade erst gesagt hatten. Also: Alle hier Anwesenden wussten, wohin die beiden wollten, nur leider ich nicht, in diesem Moment meiner noch jungen Karriere zumindest nicht. Aber wissen Sie was: Mir und damit den beiden jenseits meiner hochgelassenen Jalousie anwesenden ersten richtigen Kunden das einzugestehen, kam mir gar nicht in den Sinn. Ich gab also todesmutig das ein, was ich in Erinnerung behalten hatte. Der Ort war mir schon wieder entfallen. Aber zuerst hatte die eine doch von Santorin, Sansibar, na, jedenfalls von irgendetwas mit »SA« am Anfang geredet. Und auf das, was ich meinte zu erinnern, spuckte mein Computer anhand meines Getippes »Santiago de Compostela« aus. SA-ntiago, das war es doch! »Galicien. Nordspanien«, gab mein Computer noch als Info preis.

»Knallerpreis!«

»Wie viel?«

»Ist ein Schnäppchen, liegt bestimmt daran, dass es keinen Direktflug gibt, ihr müsst in Madrid umsteigen!«

»In Madrid? Wie crazy! Wie viel?«

»380 Mark pro Person … mit Iberia …«

»Das ist ja spitze! Wir haben letztes Jahr viel mehr bezahlt und mussten in Rom umsteigen!«

»Na, seht ihr!«

»Geil!«

»Dann buch ich das jetzt!«

»Klaro!«

Ich buchte sie sofort ein. Der Preis war bestimmt gut, wenn die das sagten, ich selbst hatte ja irgendwie noch keine Vergleichsmöglichkeit, aber ich habe schon immer Geschäfte geliebt, die für beide Seiten gut sind. Leider ist das aber fast nur im Reisegeschäft möglich.

Und ich war ja dazu noch stolz wie Oskar. Ich hatte meine erste richtige Reise verkauft. Ach was, in meinem Elan sagte ich mir: »Ich habe meine ersten zwei Reisen verkauft.«

Wenige Stunden sonnte ich mich in meinem Erfolg, allein gelassen von nicht kommenden Kunden. Doch meine einzigen Kunden kamen dann doch schneller als erwartet wieder zurück. Alle beide.

»Unsere Boys, also unsere Freunde, die haben wir gerade angerufen, wann wir ankommen und wo, und nun suchen die den Flughafen und finden ihn nicht.« Die Ältere übernahm, genauso wie Stunden zuvor, sie waren ein eingespieltes Team.

»Den gibt es gar nicht, sagen unsere Freunde.«

(Kennen Sie das, wenn Sie die Leiter an die Regenrinne gestellt haben, um sie zu reinigen, und auf ihr merken, dass sie zu steil steht und beginnt, nach hinten zu kippen? Dieses Gefühl stellte sich in dieser Sekunde in meinem gesamten Körper ein! Aber zu diesem Zeitpunkt war ich mir noch keiner Schuld bewusst, ich verlagerte also mein Gewicht Richtung Regenrinne zurück.)

»Ach was …«, beruhigte ich sie und lächelte selbstbewusst. »Der Flughafen ist bestimmt neu, da müssen sie noch mal genau nachgucken.« (Ich glaubte das wirklich!)

Sie ließen sich zwar einigermaßen beruhigen, aber dann doch nicht abwimmeln, und ich konnte ja schlecht sagen: »Der Nächste, bitte!«, denn den gab es ja nicht. Sie baten mich also, ihnen den Namen des Flughafens aufzuschreiben. Mich überkamen in diesem Moment dann doch selbst die ersten Zweifel, aber größer als der Zweifel war, dass ich wusste, ich konnte die Tickets nicht stornieren. Ich würde auf den zweimal 380 Mark sitzen bleiben. Mein erstes richtiges Geschäft wäre also ein Negativgeschäft. Ich ging im Kopf noch einmal durch, wohin die beiden gewollt hatten und wohin ich sie eingebucht hatte. Denn natürlich erinnerte ich mich daran, dass ich mir ja wegen ihres Reiseziels nicht so richtig sicher gewesen war bei der Eingabe …

Vielleicht hatte ich irgendetwas falsch gemacht. Aber vielleicht auch nicht! Und mit dieser Resthoffnung, dass sich alles aufklären würde, frage ich Sie, liebe Leser: Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Eben! Ich versuchte zu retten, was zu retten war!

Einfach war es nicht, denn jetzt wollten die beiden, dass ich von meinem Schalter aus ihre Boys / Freunde / Lover anrufe und ihnen erzähle, dass es sich um einen neuen Flughafen handele. Wegen meiner Restchance, dass ich recht haben könnte, tat ich das sogar. Leider erzählte mir Franco am anderen Ende der Strippe, dass es auf Sardinien nur die Flughäfen Cagliari, Olbia und Alghero gebe. Es gebe noch ein paar private Flugplätze, Oristano heiße einer, Arbatax der andere, aber einer mit dem Namen Santiago de Compostela sei nicht dabei. Dummerweise ließ er sich auch nicht vom Gegenteil überzeugen. Dummerweise kam ich darauf, als er das Wort »Sardinien« aussprach, dass hier der Knackpunkt der Geschichte liegen könnte. Und an seinem ganzen Gerede über die Flughäfen merkte ich: Der Mann war vorbereitet. So viele Jahre danach möchte ich eingestehen: im Gegensatz zu mir. Aber es kam noch schlimmer für mich.


»Es gibt nur einen Flughafen mit dem Namen Santiago de Compostela und der ist nicht in Italien, sondern in Galicien.« Und als ob das nicht alles schon schlimm genug wäre, fügte er noch hinzu: »Nordspanien.«

Ich sagte ihm, dass das nicht sein könne, lächelte die beiden jungen Hühner jenseits des Schalters verlegen, aber selbstbewusst an – sie konnten ihn ja nicht hören – und bat ihn um einen Moment Geduld.

»Was sagt er?«, fragte das jüngere Mädchen.

Ein verstohlener Blick auf meine Schreibtischunterlage, die berufsbedingt sinnvollerweise eine Landkarte darstellte, ließ mein inneres Grinsen endgültig gefrieren (mein äußeres blieb). Kein Zweifel: Der Karte konnte nicht einmal ich widersprechen.

»Ich rufe Sie zurück«, sagte ich zu der italienischen Geografieleuchte und legte mit dreifachem »Ciao!« beherzt auf.

Dann guckte ich den beiden Mädels tief in die Augen, sie übrigens auch sehr neugierig in meine, schließlich hatten sie ja nur meine Seite des Gesprächs mit diesem sardinischen Liebhaber mitgehört. Es ratterte in meinem Gehirn, wie sonst nur die Jalousien in diesem verdammten Postschalter beim Hochziehen ratterten. 21. 22. (Was sag ich denen jetzt? Dass Sardinien nicht in Nordspanien liegt, steht nun fest. Die sind jung und man kennt ja diese italienischen Gigolos … Es war eine Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde. Ich wollte nicht lügen, aber noch weniger wollte ich eingestehen, dass ich bei meiner ersten Buchung den Fehler gemacht hatte, nicht richtig hinzuhören, wohin meine Kunden eigentlich wollten …)


»Mal ganz ehrlich, Mädels, diese Jungs da haben gar keine Ahnung.«

»Warum?«

»Na, ihr habt ja gar nicht gehört, wie die reagiert haben. Das sind doch Bauern, bestenfalls Pizzabäcker, da muss man sich doch nichts vormachen. Die wissen nicht einmal, dass Santiago de Compostela nun wirklich nicht weit weg, sondern ganz in der Nähe ist, sozusagen gleich um die Ecke. Sollen sie euch doch von dort abholen. Ich meine, das tut man ja wohl für seine Mädchen.« Den letzten Satz sprach ich so in mich hinein, es sollte nach einer Selbstverständlichkeit klingen, sodass man es nicht noch extra erwähnen musste, von Frau zu Frau. Dass es nur diese paar Hundert Kilometer sind, betonte ich dann wieder laut und deutlich.

»Mit dem Auto ein Klacks.«

»Wie meinst du das?«, fragte die eine der beiden und auch die andere schaute mich interessiert an.

»Wenn eure italienischen Gigolos jetzt schon keinen Bock haben, diese paar Hundert Kilometer für euch zu fahren und ein bisschen Geld für euch auszugeben, dann weiß man doch, wohin das führen wird.«

Gut, ich gebe zu, es gab ein störendes Mittelmeer zwischen Sardinien und Santiago de Compostela und es sind auch eher 2000 statt 200 Kilometer, aber vielleicht war es auch tatsächlich besser, zwei so blutjunge Mädchen davor zu bewahren, ihren italienischen Ferienflirts ein Jahr später noch einmal auf den Leim zu gehen?!

»Stellt euch doch mal vor: Ihr beiden hübschen Mädchen, dazu auch noch blond, ihr steht da am Flughafen und der eine hat plötzlich keine Lust zu fahren oder jammert über die Benzinpreise. Und dann?«

Ich wartete die kleine Pause ab, die jetzt entstanden war.

»Und dann?«, fragte ich noch einmal dramatischer. »Dann steht ihr da mutterseelenallein und niemand kommt. Zu teuer, zu weit, eine Neue kennengelernt, was weiß ich. Diese Liebhaber sind doch erfinderisch.«

Beide guckten mich an, ich hatte das Gefühl, ihre Augen waren inzwischen größer geworden.

»Habt ihr denn eigentlich das Geld für einen Rückflug?« (Die beiden Wahnsinnigen hatten tatsächlich erst einmal nur one-way gebucht.) »Wo wollt ihr denn wohnen? Ein Hotel vor Ort buchen? Habt ihr im Lotto gewonnen? Wisst ihr, wie teuer Sardinien ist?« (Es war reiner Zufall, dass Sardinien nun wirklich nicht so günstig ist, was ich ja nicht wusste, ich hätte es bei jeder anderen Region genauso gesagt.)

Ich redete mich in Rage und verurteilte die Jungs dafür, dass sie diese beiden heißen Girls aus Deutschland nicht aus Santiago de Compostela abholen wollten, und plötzlich fing eine der beiden tatsächlich an zu weinen. An meinem Schalter. Meine ersten richtigen Kunden vergossen Tränen. Eine jedenfalls. Ich dachte damals wirklich, was ich dann aussprach – ich war jung, naiv, geografisch unwissend: »Vielleicht verkaufen sie euch auch an die Mafia.«

»Sardinien – Libyen, kein Thema.«

Jetzt fing auch die Ältere an zu schluchzen. Sie waren wirklich jung, vielleicht hatten die beiden ihre Italiener letztes Jahr kennengelernt, als sie noch in Begleitung ihrer Eltern unterwegs gewesen waren, vielleicht sollte dies die erste Reise sein, die sie allein unternehmen wollten.

»Was sollen wir denn jetzt bloß machen?«, fragten sie mich. Ausgerechnet mich.

»Ich würde jetzt erst recht nach Santiago de Compostela fliegen. Da gibt es auch schöne Männer«, lächelte ich und fügte hinzu: »Auch da haben die Mütter nicht versagt.«

»Aber wo liegt denn dieses Compostela? Das ist doch in Spanien und wir wollen ja nach Italien«, hakte die Ältere noch einmal nach.

»Das liegt direkt daneben, das habe ich euch doch schon erklärt.«

»Das stimmt, ich meine ja nur …«, sagte sie kleinlaut.

Ich zwinkerte dem jüngeren Mädchen zu, die sich die Tränen aus den Augen wischte.

»Ich mach euch einen Vorschlag: Ich buche jetzt ein schönes Hotel dazu. Das ist auch viel günstiger als auf Sardinien und dann werdet ihr einen wunderschönen Urlaub verbringen. Und das Beste daran: Ihr müsst eure Lover ja nicht vergessen, im Gegenteil, ihr könnt die Jungs testen. Wenn sie euch lieben, dann werden sie da schon hinkommen. Und ihr wisst dann, sie meinen es ernst.«

Und als die eine, die ihre Sinne und Gefühle schon wieder mehr unter Kontrolle hatte, tatsächlich sagte:

»Das stimmt«, klickte ich im selben Moment auf den Buchungsbutton für das einzige Hotel, das ich gerade dort im Angebot hatte. Und auf zwei Rückflüge.

Sie sind tatsächlich geflogen. Ich finde, ich habe ihnen einen Tipp fürs Leben gegeben und ihnen zu einem unbeschwerten, jungen Singleurlaub verholfen. Aber dieser Fehler hat auch mir eine Lektion für mein noch junges Berufsleben erteilt. Und diese Lektion ist deckungsgleich mit einem Ratschlag meines Vaters. »Wir machen alle Fehler. Fehler sind menschlich. Mach trotzdem keine!«

Mir war ein Riesenstein vom Herzen gefallen. Ich bat die beiden Mädels, einen Moment am Schalter zu warten, und lief schnell in den nächsten Shop, um ihnen eine Flasche Sekt zu kaufen. »Ich weiß, ihr tut das Richtige. Ihr werdet es nicht bereuen.«

Nach dem Urlaub kamen die beiden zurück zu mir an den Schalter. Ich mag es, wenn meine Kunden wiederkommen und berichten, wie es war. Über diese beiden habe ich mich besonders gefreut, denn es interessierte mich brennend, wie ihnen Santiago de Compostela gefallen hatte.

Sie hatten einen schönen Urlaub gehabt, ganz toll, perfekt sogar, »aber nach Sardinien war es schon weiter als zwei Stunden, das hätte ich ja wohl gewusst … Die Boys sind nicht gekommen …«

Klar wusste ich das. Zumindest jetzt, nach ein paar Wochen Geografieunterricht. Denn mein Lufthansa-Mitarbeiter war inzwischen aus Mallorca zurückgekehrt und hatte mir verdeutlicht: Sardinien oder Galicien, Hauptsache, ich wüsste: Es handelte sich nicht nur um Italien.

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