Читать книгу Am Ende des Schattens - Andreas Höll - Страница 11
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ОглавлениеEine Woche später meldete sich endlich das Kaiser-Wilhelm-Institut. Ob er gleich vorbeikommen könne, wollte die Vorzimmerdame wissen, Professor Fischer sei nur heute im Büro und dann wieder für mehrere Wochen verreist.
Unverzüglich machte Dolphin sich auf den Weg. Als er aus dem Wagen stieg und sich dem Gebäude näherte, sah er einen Bronzekopf der Minerva, die, als Hüterin der Weisheit, den Eingang mit undurchschaubarer Miene bewachte. Er trat ein und wurde von einer Mitarbeiterin in Empfang genommen, die ihn in den Ostflügel geleitete. Als sie schließlich die Tür öffnete, saß Professor Eugen Fischer gerade am Schreibtisch vor einer Unterschriftenmappe. Ohne den Kopf zur Seite zu wenden, signierte er mit schwungvoller Geste und präsentierte dabei sein Profil, das in gezackten Schwüngen Nase und Spitzbart verband. Das schräg einfallende Licht arbeitete plastisch seine Denkerstirn heraus, die Wimpern senkten sich wie Schirme. Er ließ sich Zeit. Dann stand er endlich auf und hieß den Gast willkommen.
Nachdem er Kaffee und Cognac hatte servieren lassen, sah er, begleitet von allerlei Geplauder, die Zeit gekommen, grundsätzlicher über sein Metier zu sprechen. Er bezeichne sich zwar als Anthropologe, aber im Grunde sei er überzeugter Rassenhygieniker, auch wenn die derzeitige Regierung das Wort Rasse lieber vermeide. So trage man diesen politischen Empfindlichkeiten Rechnung, wobei sich an der Ausrichtung seiner Forschungen seit 1908 wenig verändert habe. Damals habe er in der Kolonie Südwestafrika, in der Gegend um Rehoboth, Menschen untersucht, deren Vorfahren aus Weißen, die meisten davon Buren, sowie Schwarzen bestanden, in der Landessprache Khoikhoi, im Deutschen besser bekannt als Hottentotten. Im Felde habe er Köpfe vermessen, Fotografien angefertigt und Sippentafeln erstellt, um die Wirkung von Umwelt und Erbe zu erforschen, was ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass sich menschliche Rassen ebenso nach den Mendelschen Regeln kreuzten wie zahllose Pflanzen- und Tierrassen.
Plötzlich stand Fischer auf und trat vor das Regal, aus dem er einen Folianten herauszog und vor sich auf den Tisch legte. »Gestatten Sie mir, Mr. Dolphin«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln, »dass ich die wenige Zeit, die uns heute bleibt, dazu nutze, Ihnen meine Forschungsergebnisse etwas genauer darzulegen?«
Und während er den Band öffnete, begann er von der Rassenmischung der Rehoboter Bastards zu sprechen, die man als eine Zwischenstufe zwischen überlegenen Weißen und unterlegenen Schwarzen definieren müsse. Aus diesem Grund hatte er selbst ein strenges Apartheidsystem vorgeschlagen, nach dem die Mischlinge den Kolonialherren, unter anderem als Sicherheitskräfte, zu dienen hätten. Jetzt blätterte er in dem Buch hin und her, bevor er mit einem Mal Dolphin ansah und mit leiserer Stimme fortfuhr. Auch wenn man es heute nicht so deutlich sagen könne, gelte immer noch, dass Mischlinge im Grunde nur ein Lebensrecht hätten, wenn es im Interesse der Kolonialmacht sei. Und dann bat er darum, eine Passage aus seiner Studie vorlesen zu dürfen, was Dolphin mit einem aufmunternden Nicken beantwortete. Fischer befeuchtete seinen Zeigefinger, bevor er weiterblätterte, und schließlich fand er jene Stelle, die er als seine Conclusio bezeichnete.
Also gewähre man ihnen eben das Maß an Schutz, was sie als uns minderwertiger Rasse gebrauchen, um dauernd Bestand zu haben, nicht mehr und nur so lange, als sie uns nützen – sonst freie Konkurrenz, das heißt Untergang.
Der Professor machte eine Pause, um die Worte nachklingen zu lassen. Und dann fügte er hinzu, dass diese zugegebenermaßen kompromisslose Schlussfolgerung nur vor dem Hintergrund des hinterhältigen Hereroaufstands zu verstehen sei, dessen Niederschlagung, mit aller gebotenen Härte, die heilige Pflicht der deutschen Schutzmacht gewesen sei, um die Zivilisierung in diesem Teil der Erde weiter voranzutreiben, eine Mission, unter Erbringung beträchtlicher Opfer, die leider mit Kriegsbeginn beendet werden musste.
Kurzes Klopfen war zu hören, dann erschien die Sekretärin mit der Mitteilung, das Taxi warte bereits. Im Hinausgehen entschuldigte sich Fischer, dass er sich leider verabschieden müsse. Er hoffe aber, zum Ausdruck gebracht zu haben, wie wichtig ihm das Interesse einer so renommierten wie international weitverbreiteten Zeitung an seiner Arbeit sei. Er verspreche hoch und heilig, dass Mr. Dolphin es nicht bereuen werde, wenn sie sich das nächste Mal träfen und dann wirklich alle Zeit hätten, in die Tiefe zu gehen, wie es dem journalistischen Anspruch eines Daily Standard angemessen sei.
Es kostete Dolphin Mühe, sich ein Lächeln abzuringen, als Fischer ihm die Hand gab.
Wie würde Lord Bakerfield reagieren, wenn er die Nachricht bekam, dass die Anregung seines Freundes Churchill noch immer nicht Eingang in die Wochenendausgabe fände?
In Gedanken versunken fuhr er zum Savignyplatz und kaufte die Abendblätter. Verstohlen drehte er sich um und schaute zu dem Kriegsinvaliden hinüber, der wie immer an der Hauswand lehnte. Bei jedem Wetter trug er seinen abgeschabten Militärrock, das Eiserne Kreuz seltsam nach unten verrutscht auf jene Höhe, wo sich die Leber befinden musste. Am verstörendsten jedoch war sein Gesicht. Sein Kinn schien zu einer ballonartigen Geschwulst aufgedunsen, die den einen Mundwinkel grotesk nach oben zog. Der schiefe Mund war stets ein Stück weit geöffnet, als strömten Schreie aus ihm heraus, die niemand hören konnte. Dolphin griff in die Manteltasche, um eine Münze herauszuholen. Er schüttelte den Kopf, als der Veteran auf die ausgebreiteten Waren am Boden deutete. Auf Sicherheitsnadeln konnte er vorerst verzichten.
Zu Hause versuchte er, ein Stichwortprotokoll anzufertigen. Es galt festzuhalten, was Fischer preisgegeben hatte. Lord Bakerfield, so viel war sicher, würde auf dem Artikel bestehen, egal wie mühsam die Recherche auch sein mochte.