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Der große Nikolas

Professor Gummeltwist öffnete das Fenster, streckte sich davor ausgiebig, beobachtete im Nachbargarten einen Grünspecht, kehrte zurück ins frisch gelüftete Zimmer, griff erneut nach dem Füllhalter.

Seine Gedanken kamen trotzdem nicht so recht in Bewegung. Und dass, bei dem Kapitel über Rudolf Ditzen, der sich später Hans Fallada nannte und dessen Zeit als Gymnasiast in Rudolstadt. Eigentlich schreibt er über die Suizidalität in der Literatur vor 1914, benötigte passende Biografien.

Nervös drehte er an seinem Ehering.

Drehen am Ehering hatte sich in fünfundvierzig Ehejahren als Gedankenfluss fördernde Methode bewährt.

„Es muss werden! Es muss!“

Er hustete und wischte sich in den Augen, seufzte, fuhr mit der rechten Hand über das leere Papier, schaute nach dem Tintenfass auf seinem Schreibtisch, als würde aus dem bauchigen Glas dunkelblau Hilfe emporsteigen.

Professor Gummeltwist hatte Prinzipien.

„Das lasse ich mir nicht nehmen, ich schreibe mit Füller.“ Er hustete und drehte ein zweites Mal am Ring.

„Es ist zu spät, mein Kopf benötigt Ruhe, mehr Bewegung, mehr frische Luft.“ Professor Gummeltwist schüttelte seinen Kopf, dachte an einen Spaziergang, hustete ein weiteres Mal, schob mit der linken Hand das leere Blatt Papier zur Seite und beschloss, für heute die Arbeit am Buch zu beenden.

Am nächsten Tag, gerade als er sich ausgiebig streckte, kamen Erinnerungen an seine Zeit im Yogakurs. Der Professor öffnete das Fenster, glaubte zu spüren, wie sofort die Gedanken in Bewegung kamen:

„Es muss werden! Es muss!“

Schon floss ein Satz aus seinem Füller, ein Satz mit zwanzig Kommas, der kein

Ende nahm. Professor Gummeltwist erschrak beim einundzwanzigsten Komma:

„Vielleicht ist es das falsche Thema?“

Er schüttelte seinen Kopf, hüstelte verlegen.

„Noch nie habe ich in den vielen Jahren meiner Professur das falsche Thema bearbeitet. Das letzte Buch über Objektivität gelangte in die Top Ten der wissenschaftlichen Belletristik: Dafür hatte ich ein ganzes Tintenfass leergeschrieben.“

In kreativen Zeiten drehte er oft am Ehering, lüftete mehrmals am Tag das Zimmer, aß fast ausschließlich Rohkost und trank den von seiner Frau selbstgepflückten und mit Liebe aufgebrühten Tee.

Bei seinem neuen Buch waren bisher hundertsiebenundvierzig Seiten zusammengekommen, das Tintenfass zum Drittel geleert.

„Es muss werden! Es muss!“

Der viel zu lange Satz wurde kurz vor dem zweiundzwanzigsten Komma abgebrochen.

Das dritte Drehen am Ehering sorgte zumindest für Ideenfluss: Hatte nicht ein kluger Mensch irgendwann vorgeschlagen, man solle von Zeit zu Zeit das kindliche Element im Leben aktivieren. Eine regelmäßige Portion Unschuld schmiert den Geist.

Er zog die Schultern nach vorn und sprach zu sich selbst:

„Ich verschwinde jetzt aus dieser Studierstube ins Kinderzimmer und gönne mir eine

Pause von mehreren Tagen.“

Dabei schaute er sich vorsichtig in der Wohnung um, wollte nicht, dass seine Frau von diesem Plan etwas mitbekam. Dann trank er, als Liebesbeweis, eine Tasse Kräutertee von ihr, diesmal in der Zusammenstellung von Linde, Brombeere, Himbeere, Pfefferminze, Holunder und Mädesüß. Professor Gummeltwist beobachtete erneut nachdenklich sein bauchiges Tintenfass und dachte dabei:

„Am Anfang war die Erde wüst und leer, doch es gab Tinte und einen passenden Füllhalter. Der erste nackte Mensch konnte beides nutzen. Und aus den Neandertalklecksen entwickelten sich lesbare Buchstaben.“

Plötzlich glaubte er, einen dunkelblauen Buben mit Kräuselhaaren aus dem Glas heraushuschen zu sehen. Professor Gummeltwist juchzte:

„Aha, ich beginne die Welt mit der Phantasie eines Kindes zu betrachten! Hervorragend! Das ist der richtige Zeitpunkt, um Kinderliteratur wiederzuentdecken. Genau!“

Sofort lief er auf den Dachboden, wo eine Kiste mit Kinderbüchern stand. „Ich greife da jetzt hinein und das Schicksal wird entscheiden.“ So geschah es, und das Schicksal entschied sich für:

„Geschichten vom Struwwelpeter“ aufgeschrieben von Heinrich Hoffmann.

„Genau das richtige Buch!“

Professor Gummeltwist schlug eine Seite auf und landete bei der Geschichte von den „Schwarzen Buben“.

„Ach ja, das sind die richtigen Geschichten“, sprach er vergnügt.

Und er las die Strophe, die ihm sein Schicksal spontan vor Augen führte:

„… bis übern Kopf ins Tintenfaß, taucht sie der große Nikolas.“ Sein Blick fiel wieder auf das Tintenfass auf seinem Schreibtisch.

„Am Anfang war das Tintenglas“, sprach der Mann und spürte große Müdigkeit. Sein

Blick auf die Uhr verriet ihm, es ist für Kinder zu spät.

„Aha, genau die richtige Zeit ins Bett zu gehen.“

Seiner Frau, die erst gegen zweiundzwanzig Uhr von der Arbeit nach Hause kommen sollte, schrieb er einen Zettel:

„Ich schlafe bereits.“

Und Professor Gummeltwist schlief so schnell ein, wie es nur ein artiges Kind tat, das nicht in die Hände und ins Tintenfass des großen Niklas geraten möchte.

Er träumte von einem schwarzen Buben, der in der Schule verspottet wurde. Drei Klassenkameraden waren frech und brutal, Professor Gummeltwist bekam richtig Wut im Schlaf. Er musste in dieser Nacht laute Selbstgespräche geführt haben, denn seine Frau war in den Nachbarraum ausgezogen.

Noch beim Aufwachen am Morgen spürte er Aufregung.

„Du hast auf mich eingeboxt, dass ich in den Nachbarraum bin“, bestätigte Frau Gummeltwist. Zum Glück sah man keine Blessur in ihrem Gesicht. Der Professor zuckte unschuldig mit den Schultern.

„Deshalb benötige ich heute Ruhe und Entspannung. Ich werde durch den Wald springen und Hasen aufscheuchen.“

„Was willst du machen?“

„Irgendetwas Anderes, Verrücktes, etwas, was Kinder gern tun.“

„Aha!“

Langsam scheint er mir überstudiert, dachte sie besorgt.

Professor Gummeltwist trank zum Frühstück Kakao und aß ein Pflaumenmussbrot.

„Heute lege ich eine Pause ein, weil mir das guttut.“

Dabei zog er Jacke und Schuhe an, verließ zufrieden lächelnd die Wohnung.

Er beobachtete den Grünspecht im Nachbargarten, pflückte eine Birne, ließ deren Saft beim Reinbeißen links und rechts aus den Mundwinkeln laufen.

Anschließend rannte er in den nahegelegenen Wald, verzichtete aber auf das Hasenaufscheuchen und Springen, denn das ungewohnte Rennen brachte ihn an körperliche Grenzen. Die spürbare Erschöpfung sorgte für ein Glücksgefühl.

„Ach ist das herrlich, unbekümmert durch die Natur zu laufen.“

Heute sprudelten die Ideen in seinem Kopf: Als Erstes ergriff er einen Stock und fuchtelte mit diesem wild in der Luft herum.

„Ich bin ein Ritter! Wo bist du, schöne Prinzessin.“ Außer einem Eichelhäher, der mit krächzender Stimme von oben herab warnte, reagierte niemand. So konnte der Ritter ungestört seine Prinzessin befreien. Nur musste die Schöne sofort die Flucht ergriffen haben, denn zu sehen war sie nicht. Dann balancierte er gewagt über einen Baumstamm, stellte sich auf eine Wurzel, um der Welt eine Rede zu halten, klopfte an alle möglichen Hölzer, komponierte neue Tonreihen. Um die dicke, im Weg stehende Buche spielte er allein Verstecken, legte sich anschließend zufrieden ins Moos, hatte aber Mühe wieder aufzustehen. Die alten Knochen knarzten gar nicht so kindlich.

„Herrlich! Genau die richtigen Ideen!“ Der Eichelhäher warnte wiederholt.

Nach seiner Waldtour verspürte er das Verlangen, an einer Grundschule vorbeizulaufen, dachte dabei an das Gebäude in der Nachbarschaft.

Das Schicksal wollte, dass dort die große Pause begann.

Er erkannte auf dem Pausenhof sofort Gruppenspiele aus seiner Kinderzeit.

„Sie spielen Fangens und Verstecken. Das ist ja wirklich hervorragend.“

Doch eine andere Beobachtung störte das unschuldige Bild: Wilhelm, der Junge von nebenan, schlug mit einem Gegenstand auf einen schwarzen Jungen mit Kräuselhaaren und machte sich lustig, dass dieser weinte.

Professor Gummeltwist war entsetzt, wollte dem schwarzen Buben zur Hilfe eilen.

„Das sind nicht die richtigen Spiele!“

Doch die pädagogisch stoppende Hand einer Lehrerin verwies ihn des Platzes. Kopfschüttelnd entfernte er sich, lief nach Hause, konnte das Gesehene nicht aus seinen Gedanken verbannen.

„Dieser Wilhelm, dieser Raufbold. Das ist ja genauso wie in der Geschichte von den schwarzen Buben.“

Seiner Frau erzählte der Professor von der Schulhofbeobachtung, zog sich anschließend ins Schlafzimmer zurück, um mit Hilfe von Mittagsschlafträumen das Erlebnis noch einmal zu ordnen.

Erst am späten Nachmittag, nach einer weiteren Tasse Kakao, fragte er seine Frau, ob sie das alte Tierratespiel mitmachen würde. Als sie irritiert den Kopf schüttelte, gab er nach und beide entschieden sich für Mensch-Ärgere-Dich-nicht.

Am nächsten Vormittag berichtete Frau Gummeltwist ihrem Mann, dass sie die Mutter von Wilhelm getroffen hätte, und diese habe ihr von unerklärlichen Tintenklecksen im Gesicht, sowie auf dem Schlafanzug des Jungen berichtet. Entdeckt hatte sie die Kleckserei am Morgen. Ihr sei jedoch völlig unklar gewesen, wie das habe passieren können.

Der Professor reagierte mit einem hinterhältigen Grinsen:

„Alles wie in der Geschichte. Da war der große Nikolas am Werk.“ Danach begann er seinen nächsten kindlichen Spaziergang, beobachtete den Grünspecht in Nachbars Garten, balancierte auf Baumstämmen suchte sich einen Stock und verkündete laut rufend in den Wald: „Ich bin ein Räuber, ein Gerechter, der Rächer der Armen.“

Rief so laut, dass ein verunsicherter Eichelhäher die restliche Welt alarmierte. Er hüpfte Kreuz und quer, manchmal sogar auf einem Bein, was ihm dann doch zu gewagt erschien, verjagte einen Hasen, spielte allein Verstecken um eine Buche: „Eins zwei drei, versteck dich. Ich komme …“

Nachdem alle Verstecke aufgestöbert waren, spazierte er zurück zur Stadt, entschied, wieder auf dem Pausenhof der Grundschule in der Nachbarschaft die Kinder zu beobachten. Schließlich musste jemand auf alle schwarzen, grünen, roten Buben aufpassen. Diesmal ging es bereits auf das Ende der Pause zu. Was er aber sah, entsetzte ihn erneut. Anstatt Hüpfekästchen, Verstecken oder Fangen zu spielen, drangsalierten drei höhnisch lachende Jungen einen kleineren Buben mit grüner Jacke, schubsten ihn in ihrer Mitte von einer Seite auf die Andere. Beteiligt war wieder dieser Wilhelm, ein Junge namens Friedrich, der andere hieß Paul. Alle drei wohnten in der Nachbarschaft.

Diesmal ist also der grüne Bube das Opfer! Das sind die falschen Spiele!

Aber der große Nikolas kennt auch farbige Tinte, dachte Professor Gummeltwist, vergaß das Kind im Manne, sprang auf den Schulhof, ignorierte die stoppende Pädagogik der Lehrerin, lief so energisch auf die prügelnden Kinder zu, dass Friedrich, Paul und Wilhelm erschraken, ihre Köpfe einzogen, dann schnell ins Schulgebäude verschwanden.

Professor Gummeltwist fuchtelte mit den Händen, fühlte sich in diesem Moment als Ritter. Oder war er doch der Räuber, jener Rächer der Armen und Bedrängten?

Als Lohn bekam er nicht die schöne Prinzessin, sondern eine aufgeregt schimpfende Lehrerin:

„Sie können nicht einfach die Schulhofordnung verletzen.“

„Und ich kann sie wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht anzeigen“, konterte der Professor.

Die aufgeregte Lehrerin wurde hochrot im Gesicht und Gummitwist auch. Oder war es mehr so eine Art Tintenblau?

Der Mann ließ die rot eingefärbte Lehrerin wortlos stehen, um hinter die Ereignisse einen Schlusspunkt zu setzen.

„Das mit dem Kindsein, ist nicht so einfach.“

Am Abend beschloss er, diese Phase zu beenden, denn die Sache mit der Unschuld funktionierte nicht richtig.

„Was für eine Farbe hat die Unschuld? Kann man mit ihr klecksen? Wenn sie weiß ist, macht es keinen Sinn, denn weiße Tinte gibt es nicht.“

Seine Aufmerksamkeit ging wieder zum wie immer tiefblau gefüllten Tintenglas auf dem Schreibtisch.

Es schien zu warten, dass er endlich mit der Schreiberei fortfuhr.

Der Mann kratzte sich am Kopf, drehte den goldenen Ehering, überlegte.

„Eigentlich würde ich gern noch mal mit farbiger Tinte zaubern, dem grünen Buben zuliebe.“

Sein Blick hatte etwas Entschiedenes und das Tintenglas leerte sich soeben. Professor Gummeltwists Augen funkelten rot, gelb, blau, doch er konnte es nicht sehen.

„Morgen wird weitergeschrieben. Vielleicht eine Yogaübung zuvor, aber dann geht es los. Mein Tintenglas ist schon nervös.“

Auch diesmal legte er sich, zur Überraschung seiner Frau, zeitig ins Bett, schlief rasch ein, durchlebte einen unruhigen Traum, aber keine Erinnerung. Am Morgen schmerzten alle Muskeln, als wären sie die ganze Nacht durch Yogaübungen gefordert worden.

Seine Frau war einkaufen, brachte heute die Brötchen und alle Neuigkeiten aus der Nachbarschaft mit.

„Gummeltwist, du glaubst es nicht, in unserer Stadt ist was los. Zuerst traf ich die Mutter von Wilhelm, die heute kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Der Bub ist über und über mit roten Tintenklecksen aufgewacht.

Dazu kam der Vater von Friedrich und schimpfte, dass der Junge voller gelber Tintenflecken aufstand. Schließlich kamen, ebenfalls wütend und erregt, der Opa von Paul. Und Paul war blau bekleckst.“

Der Professor grinste hintersinnig, brummte nur: „So, so; hat der große Nikolas sein Unwesen getrieben.“

„Alle aufgebrachten Eltern und Großeltern fordern ein Gespräch in der Schule, sogar mit Beteiligung der Polizei. Sie deuten diese Kleckserei als Protestaktion ihrer Kinder und vermuten einen negativen fremden Einfluss.“

„Vielleicht liegt es am Fernsehprogramm.“ Seine Frau schüttelte den Kopf:

„Das sind alles Eltern, die das richtige Fernsehprogramm einstellen..“

Frau Gummeltwist war so aufgeregt, als wäre sie selbst betroffen. Sie hatte sogar rote Flecken im Gesicht. Noch am Nachmittag besuchte sie die Mutter von Wilhelm. Da hatte das Gespräch, im Beisein der drei Schüler, der Klassenlehrer, Eltern, Großeltern und eines Kriminalbeamten stattgefunden.

Die Jungen wurden einzeln verhört, ihre Erzählungen glichen sich trotzdem fast wörtlich:

Erst kam die große unerklärliche Müdigkeit. Dann, vor dem Einschlafen, erschien eine riesige Gestalt, gehüllt in einen glänzenden blauen Mantel, so eine Art Morgenmantel, seltsamerweise mit Sternen darauf. Das Gesicht des Mannes konnten sie, obwohl bekannt, nicht beschreiben. Sie fühlten sich in die Höhe gehoben, ihnen wurde schwarz, blau, rot, gelb vor den Augen.

Alle Gesprächsteilnehmer blieben ratlos, da Tinte, in ihrem Haushalt keine Rolle mehr spielte.

Professor Gummeltwist rezitierte während des Berichtes seiner Frau laut lachend: „Da kam der große Nikolas und steckte sie alle ins Tintenfass.“ „Wie?“, fragte seine Frau, ohne die Sache zu verstehen. „Na, wie im Buch vom Struwwelpeter, die Geschichte von den schwarzen Buben.“ Sie betrachtete ihren Mann misstrauisch.

„Gummeltwist, wie kommst du auf den Struwwelpeter?“

„Ich habe die Geschichte erst gestern, vorgestern und vorvorgestern gelesen.“ Ihr war die Überraschung, mit etwas Phantasie, blau ins Gesicht gezeichnet.

„Wie, ich denke, du beschäftigst dich mit Suizidalität in der Literatur vor 1914, Hans Fallada und so. Doch nicht mit Struwwelpeter? Oder gibt es neue Erkenntnisse?“ Professor Gummeltwist winkte ab:

„Schon gut, ab heute arbeite ich wieder ernsthaft. Jeder Mensch, selbst ein Professor, braucht mal eine Pause, in der er über Schuld und Unschuld nachdenkt.“

Dann verabschiedete er sich zum Schreibtisch, tauchte den Füller in das Tintenglas und schrieb an seiner unterbrochenen wissenschaftlichen Arbeit weiter.

Geschichten aus dem Tintenfass

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