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Kopflos

Franz Wilhelm war wütend.

Franz Wilhelm lief allein den Weg von der Schule nach Hause ins Dorf. Er nannte das Dorf heute ein „Scheiß-Kaff“, dachte sich: Da wohnen nur Idioten, trat vor den Zaun des ersten Hauses. Ein Hund bellte vom Grundstück des dritten Hauses. Dem Tier schäumte die Wut aus dem Maul. Der Junge trat noch kräftiger an den Zaun des dritten Hauses und die Wut des Hundes überschlug sich. Am Fenster erschien ein alarmiertes Frauengesicht. Franz-Wilhelm lief spöttisch grinsend weiter, dachte an den Streit mit dem Mathelehrer. Der hatte zum Abschluss des Unterrichts, tief durchgeatmet, dann das Programm auf seinem Laptop mit einem Knall beendet, war dabei bedrohlich rot im Gesicht.

„Du besuchst die achte Klasse des Gymnasiums, zeigst aber keinerlei Ehrgeiz für den Unterrichtsstoff.“

Der Lehrer hatte gegen Luftnot und seinen Bluthochdruck gekämpft.

„Überlege, ob du an der Schule bleiben möchtest. Wir vertreten einen gewissen

Anspruch. Du, Franz-Wilhelm, erfüllst ihn nicht.“

Den Schulbus hatte der Junge heute bewusst verpasst.

„Ich hätte auch mit dem Moped fahren können. Aber das ist kaputt, genauso wie dieser Lehrer, die ganze Schule, das Kaff hier.“

Die Fortsetzung seiner Unzufriedenheit bekam auf dem Heimweg ein verträumter Schüler aus der Grundschule zu spüren, als ihm Franz-Wilhelm überfallartig den Rucksack wegnahm und diesen gegen eine Hauswand schleuderte.

Dem Grundschüler kamen die Tränen, doch wen störte das schon.

Zu Hause war er allein, Lust zum Reparieren des Mopeds hatte er nicht, dafür aber eine Flasche Obstler zu leeren, selbstgebrannter Pflaumenschnaps vom Vater. Dessen Obstler wurde gelobt, gern getrunken, den liebten alle.

„Es wird Zeit, dass in dem Kaff etwas passiert“, dachte Franz-Wilhelm.

„Ich halte es hier nicht länger aus, muss weg, weg, weg.“

Heute blieb ihm nur die Flucht zum versteckten Lieblingstreff mit seinen Freunden. Das lag zugewachsen oben auf dem Hügel, in der Nähe des Friedhofes.

Eine Reihe von Bäumen und Sträuchern bildeten höhlenartig Schutz vor neugierigen Blicken und für die letzten liegengebliebenen Steine eines längst abgerissenen Hauses.

Der Junge lief den Hügel hinauf, setzte sich wie gewohnt auf einen der Steine, bespuckte dreimal den Boden. Er schäumte vor Ärger, wollte schreien oder bellen wie der Hund bei Haus Nummer drei. Die Kälte stieg in seinen Körper. Septemberkälte. Ihm wurde schwindlig.

Vielleicht war es doch zu viel ungewohnter Obstler? Egal! Franz Wilhelm spürte Bauch- und Kopfschmerzen und wollte sterben. Dazu gab es aber den Friedhof. Mit Vaters Obstler im Bauch ließ es sich dort bestimmt gut sterben.

Er stand auf, schwankte zum eisernen Tor des Friedhofs, hielt sich daran fest, überschaute erst einmal das Gelände.

„Alles Tote aus diesem Scheiß-Kaff!“

Das Tor war nur angelehnt, so konnte er den Friedhof betreten.

Dessen Mitte bildete die Dorfkirche, an deren Außenmauer figurenreich, die wertvollsten Grabsteine ihren Platz hatten: Engel, weinende Frauen, trauernde Knaben, Schalen und Urnen.

Alles Revanchisten, grunzte Franz-Wilhelm, spürte kurz heftigen Urindruck, dem er an der Friedhofsmauer nachgab.

„Ich muss pinkeln, glotzt nicht so!“

Als er sich wieder den Gräbern zuwandte, fiel ihm eine jugendliche, steinern trauernde Frauengestalt, direkt an der Kirchenmauer stehend, auf. Die Frau schien nicht tot, stützte sich nachdenklich auf ein Kreuz.

Franz-Wilhelm ließ die Figur nicht aus den Augen, bewegte sich, langsam und unsicher auf sie zu.

Sie gefiel ihm, und er glaubte, ihre Lebenswünsche zu erahnen.

Vielleicht wollte sie reisen, nur weg von hier. Aber das ging nicht, nicht als Frau. Ihr langes Kleid, mit den vielen Falten – das war elegant. Bestimmt schenkte es ihr ein Geliebter. Für den hatte sie die blonden Haare geflochten. Ganz sicher waren sie blond.

Und die Frau war die Maienkönigin im Kaff. Nur die vielen unbeweglichen Jahre auf dem Friedhof ließen sie ergrauen.

Bestimmt hatte sie kein Geld für den Arzt. Deshalb musste sie so jung sterben. Hätte ihr der Geliebte nur das Arztgeld gegeben.

„Sie ist so schön. Sie kann nichts für den Irrtum der Welt. Sie nicht“, brummte er. Und seine Gedanken bekamen jetzt etwas Versöhnliches.

Ja, die Figur ist nicht aus Stein, sie schläft, ich muss sie nur küssen, sie will geweckt und geliebt werden. Die Arme wurde verkleidet und an die Kirchenwand gefesselt. Erst spürte er Mitleid und da die Bauchschmerzen sich wieder stärker zurückmeldeten, kippte die Stimmung.

Eventuell ist aber auch alles Lüge, will sie mich täuschen, auf die Tränendrüse drücken, diese – diese falsche Schlange.

Er pfiff die Luft durch die Zähne, der Bauch bellte, im Kopf begann sich eine Sirene in Gang zu setzen, Melancholie war nicht angesagt:

„He, Frau, schau mich an! Du verarschst mich.“

Die Sirene löste Schwindel aus, Franz-Wilhelm schwankte so bedrohlich, dass sich alle Grabsteine um ihn herum abduckten, schnell in Sicherheit brachten. An einem, der das Abducken nicht rechtzeitig schaffte, konnte er sich gerade noch festhalten.

„Alles Lüge! Frau, und du weisst es. Auch du würdest mich verlassen, in den Hintern treten und lachen. Scheinheilig. Scheinheilig ist hier jeder Stein.“

Franz-Wilhelm fühlte, dass Friedhof und Kirche schuld waren an seinen Bauchschmerzen.

Ein abgeduckter Grabstein bekam einen Tritt, genauso kräftig wie der Zaun bei Haus Nummer drei. Der Grabstein wehrte sich, trat ihm gefühlt in den Bauch, Franz-Wilhelm, so grau im Gesicht, wie die steinernen Figuren an der Kirchenmauer, musste sich übergeben.

Mit dem rechten Handrücken wischte er anschließend den ausgespuckten Moder vom Mund.

„Friedhof, Kirche, ha, es wird Zeit das etwas passiert.“

Die schöne trauernde Frau schien sich in seiner Nähe stärker an das Kreuz zu klammern.

„Alles Lüge, in diesem Kaff gibt es keine Heiligen, nur Gespenster, die unter einer Decke stecken.“

Seine Wut lies sich nicht mehr besänftigen, gab Franz-Wilhelm einen Stein in die Hand, krächzte: „Tu es! Räche dich!“

Und er tat es und rächte sich, warf den Stein gegen den Kopf der Frau. Aus ihrem schlanken Hals schienen blaue Adern hervorzutreten, dünne Linien, aus denen Risse wurden. Sogar ihre geflochtene Frisur, fiel wie ein Kranz vom Kopf. Kein Sieg war ihr gegönnt.

Der Junge überspielte einen Schreckmoment. Dass er das nicht wollte, stimmte nicht. Seine Wut feuerte ihn weiter an.

Franz-Wilhelm griff sich denselben Stein, der inzwischen zurück vor seine Füße gerollt war. Ein zweites Mal schleuderte er ihn gegen den Kopf der Figur. Doch anstatt dass sie ihm endlich alles erklärte, eine Entschuldigung aussprach, zeigten sich Blessuren im Gesicht, Narben, die aber nicht bluteten.

Wieder rollte der Stein vor seine Füße, Franz-Wilhelms Wut griff erneut danach, schleuderte ihn ein drittes Mal gegen den schon gezeichneten Kopf, der sich nun langsam vom Hals löste, herunterfiel und in viele kleine Splitter zerbrach.

Der Junge schwankte, fing an zu frieren. Diesmal rollte der Stein nicht zurück. Wo war seine Wut hin? Ließ ihn ausgerechnet jetzt allein.

Wo war ihr schönes Gesicht, der schlanke Hals, die geflochtene Frisur?

Ihr langes Kleid warf Schatten, hatte etwas Gespenstisches.

Die Übelkeit in seinem Bauch nahm zu.

Ihn überkam plötzlich das Bedürfnis, etwas wieder gutzumachen. Er suchte abgesplitterte Teile des Gesichtes, aber sie zerfielen zwischen seinen Fingern zu Staub.

Zu spät, krächzte die Wut, zerstöre sie. Tu es!

Doch diesmal tat er es nicht. Er übergab sich erneut, danach kamen die Tränen. Sie brannten erbarmungslos in seinem Gesicht, das er glaubte, dieses breche ebenfalls gleich auseinander.

Um ihn herum sah er nur die abgeduckten, ängstlich wartenden Grabsteine. An denen konnte er sich nicht einmal mehr festhalten. Sie standen zusammen, hatten sich scheinbar gegen ihn verbündet.

Er wollte sterben, hoffte, dass sein Gesicht auch endlich zerbrach, doch der Friedhof ließ ihn nicht los. Franz-Wilhelm fühlte sich in einem Labyrinth gefangen, aus dem er nicht mehr heraus kam. Was war jetzt alles möglich!

Franz-Wilhelm hatte Angst, wusste anschließend nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Ein Albtraum, aus dem er am Morgen, durch die Vorwürfe der Eltern erwachte.

„Junge, Junge, da müssen wir ein Machtwort mit dir sprechen. Du hast wieder gefeiert und dich mit Klamotten ins Bett gelegt. Das Leben besteht nicht nur aus Party.“

Das Machtwort war gesprochen, die Zeit verging und es wendete sich vieles zum Guten.

Franz-Wilhelm blieb am Gymnasium, weil sich, zur Überraschung der Lehrer, seine Leistungen verbesserten. Er wurde ehrgeizig, manche nannte ihn schon „Streber“. Den alten Treffpunkt bei der Ruine mied er lange, schlug Freunden einen anderen Platz vor, an den sich alle gewöhnten.

Überhaupt gab er sich die größte Mühe, das Geschehene zu verdrängen. Es vergessen ging aber nicht, schon, weil die zerstörte Figur der Frau für Aufregung im Dorf sorgte.

„Wer macht so etwas?“

„Keine Ehrfurcht vor einem Friedhof.“

„Das ist pervers!“

„Es war das Gesicht von Anna Leon, das Antlitz dieser Frau, die vor hundertdreißig Jahren, durch Krankheit, recht jung vom Tod dahingerafft wurde.“

Fassungslos standen die Dorfbewohner vor einem Rätsel, ebenso wie die Polizei, nachdem sie mit einbezogen wurde.

Franz-Wilhelm atmete tief durch, träumte einige Nächte schlecht, mit viel Mühe ging das Lernen weiter.

Nach einiger Zeit gelang es ihm, den Friedhof weit wegzudenken, hinauf auf den Hügel, welcher zum Berg wurde, und in den Himmel wuchs, sein Gipfel unerreichbar. Als er sich in Katharina Patzak verliebte, besuchte Franz-Wilhelm erfolgreich die zehnte Klasse am Gymnasium.

Katharina war neu, gefiel ihm vom ersten Tag. Etwas altmodisch, aber passend wirkten ihre brünetten, immer wieder anders geflochtenen Haare. Auf einer Schulparty sprach sie ihn an.

„Hast du Lust zu tanzen.“

Franz-Wilhelm spürte, dass er plötzlich schüchtern war.

„Ich bin kein Tänzer.“

„Dann zeige ich es dir.“

„Wie soll das gehen.“

„Du musst auf den Rhythmus und deine Gefühle achten, alles in Bewegung umsetzen.“

Franz-Wilhelm bewegte sich nach dem Klang eines Lichtnebels im Raum, der sich um ihn herum wie eine Ellipse drehte, fühlte, wie der Stein in seinem Körper bröckelte.

Katharina wohnte in der Stadt und er besuchte sie am nächsten Tag.

Ihr Zimmer war ungewöhnlich, wie ein Büro der Denkmalpflege, überall Bilder von Fachwerkhäusern.

„Am liebsten würde ich später in so ein vierhundert Jahre altes Haus ziehen“, erklärte sie und zog einen Lippenstift aus ihrer Tasche.

„Ein Fachwerkhaus erfordert aber handwerkliche Fähigkeiten. Ansonsten zahlst du dich dumm und dämlich“, behauptete er und beobachtete, wie sie den Lippenstift über ihre Lippen gleiten ließ.

Als ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog, dachte er an Holzbalken, die wegen der Haltbarkeit mit Öl getränkt wurden.

„Ich möchte mich später mit Holz beschäftigen.“ Ihre geflochtene Frisur verriet Freude am Material. Sie steckte den Lippenstift wieder in die Tasche.

Dann küsste sie ihn und die Balken bogen sich butterweich.

Als er Katharina mit nach Hause brachte, gefiel sie auch den Eltern.

„Hübsches Mädchen. Dazu intelligent und geschmackvoll gekleidet.“

Ihr Gesicht weckte Erinnerungen. Franz-Wilhelm wusste nur nicht an wen. Katharina war leidenschaftliche Handballerin. So füllte sich seine Freizeit mit Besuchen von Handballturnieren.

„Handball ist toll. Katharina ist toll!“

Er beobachtete erneut, wie sie mit der Bewegung und dem Material spielte. Wenn ihre Mannschaft verlor, tröstet sie seinen aufgeregten Ärger.

„Warum machst du dich verrückt, es gibt schlimmeres.“

Das Schönste an ihrem Trost waren die Küsse, die sie ihm zuspielte.

Einmal fragte sie nach seinem Dorf.

„Gibt es dort viele alte Bauernhöfe?“

„Ja.“

„Die möchte ich mir anschauen. Habt ihr eine alte Kirche?“

„Ja.“

„Die will ich sehen. Und den Friedhof dazu.“ Er erschrak.

Sie wollte zum Friedhof, den geheimnisvollen Berg hinauf, zum Gipfel unter den Himmel – und er hatte gehört, dass dort etwas Schlimmes passiert sein sollte.

„Was interessiert dich an dem Friedhof? Dort spukt es.“ Sie lachte.

Irgendwann musste er ihrem Betteln nachgeben. „Okay!“

Als sie fast vor dem eisernen, nur angelehnten Tor standen, spürte Franz Wilhelm Übelkeit. Katharina griff nach seiner Hand.

„Was ist los mit dir?“

„Es ist kalt hier oben auf dem Friedhof.“

„Bist du religiös?“

„Nein, ich glaube nicht an Gespenstergeschichten.“

Sie lachte, zog ihn übermütig hinter sich her und glaubte Franz-Wilhelm nicht. Dieser wusste inzwischen, an wen sie ihn erinnerte.

Katharina hatte das Gesicht und die Frisur der schönen, steinernen Frau, Anna Leon. Sie sah ihr so ähnlich.

„Ich glaube nicht an Gespenstergeschichten“, wiederholte er flüsternd.

„Was sagst du?“

„Das es keine Gespenster gibt..“

„Alter Quatschkopf!“

„Du bist ein Gespenst und mir ist schlecht.“

„Was?“

Katharina schaute ihn misstrauisch an.

„Was ist los mit dir? Bist albern.“ Er zeigte Richtung Kirchenmauer.

„Die steinerne trauernde Frau dort hatte einmal einen Kopf, ein Gesicht. Es war dein Gesicht, deine Frisur, dein geflochtenes Haar.“

Katharina blieb bewundernd vor der kopflosen Frau stehen.

„Ihr Kleid ist wunderschön. Die schlanken Arme, als wären sie nicht aus Stein.“ Sie war begeistert. „Warum fehlt ihr Kopf?“

Franz-Wilhelm zuckte vor ihrer Frage zurück. Er wusste es ja, hier oben war etwas

Schlimmes passiert.

Sie schaute ihn mit großen fragenden Augen, die nicht aus Stein waren, an.

„Das geht jetzt nicht. Später erzähle ich davon.“ Katharina tastete mit ihren Fingern die Falten des langen Rockes ab, entwickelte sofort eine Beziehung zu diesem Material.

„Wunderschön. Der Stein ist lebendig.“ Das dachte jetzt auch Franz-Wilhelm.

„Schade, dass sie keinen Kopf mehr hat. Ich hätte so gern gesehen, wie ich vor hundert Jahren ausgesehen habe.“

Franz-Wilhelm hörte plötzlich ein bedrohliches Rauschen über sich, als wollte ein ganzer Bienenschwarm über ihn herfallen.

Seine Angst spielte verrückt, schickte ihm Gedanken, die nicht mehr die Eigenen schienen.

Es waren die Gespenster dieses Ortes, oder, wie er gelesen hatte, die Seele der Verstorbenen, die Rache üben wollten.

Seine Bauchschmerzen weiteten sich zu Darmkrämpfen aus. In dieser Nacht beschloss er, sich von Katharina zu trennen. Sie reagierte am nächsten Tag wütend.

„Du Feigling, warum erzählst du nicht deine Geschichte.“ Er fühlte sich krank.

„Ich habe Fieber!“

Tatsächlich hatte er leicht erhöhte Temperatur.

„Dann bleib heute zu Hause.“

„Und der Arzt?“

„Na, du musst schon hingehen.“

Franz-Wilhelm wurde für drei Tage krankgeschrieben. So konnte er Zeit für eine Entscheidung gewinnen.

Die Übelkeit blieb im Bauch und die Kopfschmerzen im Kopf. Am Nachmittag rief Katharina an:

„Was ist los?“

„Bitte besuche mich heute nicht, ich habe ansteckend, hohes Fieber.“

„Ich mache mir Sorgen um dich. Was ist nur los? Deine Geschichte? Hängt es damit zusammen?“ „Lass mir drei Tage Ruhe! Bitte!“

„Okay!“

Franz-Wilhelm hatte in diesen Tagen Angst vor dem Einschlafen, denn im Traum konnte ihm, die Rache der schönen Anna Leon erscheinen. Oder war es der Ärger von Katharina?

Innerhalb dieser drei Tage nahm er sichtbar viel an Gewicht ab, dass seine Eltern eine versteckte Krankheit vermuteten.

Einmal überlegten sie, ob nicht ein Psychologe hilfreich wäre.

Sie kamen nicht zur Ruhe, wenn er hin- und herlief, Selbstgespräche führte, im

Schlaf aufschrie, auf Toilette die Übelkeit herausließ.

Katharina rief am dritten Tag wieder an. Sie hatte ebenfalls schlecht geschlafen.

Er brach das Gespräch ab, konnte heute nichts sagen.

Am vierten Tag wurde sie energischer:

„Wenn du mich heute nicht mit mir sprichst, ist Schluss zwischen uns Beiden. Diese Kindereien sind nichts für mich.“

Mit fiebrig rotem Gesicht, schrie er ins Handy:

„Dann mach doch Schluss. Dann ist es eben vorbei zwischen uns. Was soll ich mich mit einer Hundertjährigen abgeben.“

Klacks. Ruhe. Sie hatte Ihr Handy abgeschaltet. Er konnte nichts hinterherrufen. Damit war eine Entscheidung getroffen.

Franz-Wilhelm spürte den Bluthochdruck, hatte das Gefühl, eben einen Stein nach ihr geworfen zu haben. Er war zum Wiederholungstäter geworden.

Sein hoher Blutdruck trat gegen das Bett, den Schrank, so laut, das der Vater besorgt ins Zimmer gerannt kam.

Sein Sohn schleuderte ihm die Bluthochdruckbotschaft entgegen:

„Ich habe eben mit Katharina Schluss gemacht. Es ist aus.“

„Was? Mit deiner schönen Freundin?“

„Ja, sie hat viele Narben im Gesicht und ist viel älter, als ihr denkt.“

„Wie meinst du das?“

„Eben so. Sie ist hundert Jahre alt und ich habe gerade mit einem Stein nach ihr geworfen. Davon hat sie wiederum Narben, vielleicht ihren Kopf verloren. So ist das.“ Der Vater schluckte, zuckte mit der Schulter:

„Junge, mit dir stimmt was nicht. Nicht nur das Fieber. Du hast ein Problem und sprichst nicht drüber.“

Franz-Wilhelm ließ ein Zischen durch seine geschlossenen Lippen entweichen.

„Ich habe dir eben alles erzählt. Mit Katharina ist Schluss. Ich habe mit einem Stein nach ihr geworfen.“

Der Vater schüttelte den Kopf:

„Das glaube ich dir nicht. Mit Steinen werfen kann unser Franz-Wilhelm nicht.“

„Was!“, schrie dieser, „ich kann das nicht!“

Er nahm das erstbeste Buch, warf es nach dem Vater. Dem folgenden Glas konnte dieser gerade noch ausweichen.

„Jetzt ist aber gut! Hör auf, mit dem Scheiß.“

Er packte den Sohn, um dessen Hände zu bändigen. Doch Franz-Wilhelm wich aus, versetzte dem Vater so einen kräftigen Schlag an den Kopf, dass dieser erschrocken zurücktaumelte.

„Jetzt ist genug, reiß dich zusammen. Wer hat dir etwas getan?“

Franz-Wilhelm würde am liebsten das Zimmer verlassen, davonrennen. Doch der Vater blieb vor der Tür stehen.

Franz-Wilhelm fror plötzlich, fiel auf sein Bett, fing an zu schluchzen.

„Junge, was ist nur los. Ich lass dich jetzt allein. Wir reden später.“

Franz-Wilhelm konnte seine Arme nicht mehr anheben, die Beine schienen zu versteinern.

Alles war aus Stein, nur seine heimlichen Tränen nicht, die fiebrige Spuren auf beiden Wangen hinterließen.

Am nächsten Morgen entschied er, die Krankentage waren herum, wieder in die Schule zu gehen. Ausgerechnet Katharina sah er, beim Betreten des Klassenraumes zuerst. Ihm fiel auf, dass etwas anders war, denn sie hatte keine geflochtene Frisur, die Haare abgeschnitten und hellblond gefärbt.

Die Überraschung war gelungen.

Sie unterhielt sich eifrig mit allen anderen Jungs in der Klasse, besonders mit Werner.

In der ersten großen Pause unterbrach er das Gespräch mit Werner:

„Kann ich dich allein sprechen?“

Sie schaute ihn mit misstrauischen Blick an, presste die Lippen aufeinander, gab Werner, durch Kopfnicken ein Zeichen, so dass dieser sich zurückzog. Als beide allein waren, fauchte sie ihn an:

„Meinst du, ich bin dein Spielzeug? Gestern hast du mich beleidigt, den Wehleidigen gespielt. Und heut, zack, ist alles wieder gut.“

Sie machte eine Pause, um ihre Anklage wirken zu lassen.

„Die Katharina, die du vor drei Tagen noch kanntest, gibt es nicht mehr.“ Er schluckte hilflos, brachte kein Wort heraus.

„Jetzt bist du feige und antwortest nicht.“

Franz-Wilhelm fühlte sich wie zu Stein erstarrt, nicht einmal Luft holen, war ihm möglich.

„Sag doch was und glotz mich nicht so blöd an“ forderte sie ungeduldig.

„Okay, Katharina, ich bin eine kopflose, kriminelle Figur. Alles was ich getan habe, war der blanke Wahnsinn. Ich werde es dir erzählen, aber nicht hier, nicht jetzt.“ Sie blieb misstrauisch.

„So, wohin soll ich denn folgen?“

„Heute Nachmittag noch einmal auf den Friedhof in meinem Dorf. Dort will ich dir eine böse Geschichte erzählen.“

„Und warum jetzt erst, nach diesem Theater der letzten Zeit?“

„Weil ich feige war.“

Katharina antwortete mit einem kurzen zynischen Lachen, schüttelte den Kopf, beruhigte sich wieder, willigte in seinen Vorschlag ein.

„Gut, ich komme. Und du erzählst mir aber eine wahre Geschichte, nichts mit Gespenstern und so.“ „Versprochen!“

Dabei spürte er, wie der Stein in seinem Körper anfing zu bröckeln, mehr Leichtigkeit entstand.

Franz-Wilhelm klopfe sich an die Brust, da er glaubte, dass dort sein Gewissen brummte.

Am Nachmittag trafen sie sich am Tor zum Friedhof, er lief voran, blieb dann vor der kopflosen Anna Leon stehen, begann zu erzählen. Katharina hörte schweigend zu. Nachdem er zum Ende seiner Geschichte gekommen war, überraschte sie mit einer Idee.

„Wenn Du sagst, die Frau sah mir ähnlich, könnte ich ihr doch meinen Kopf schenken.

Franz-Wilhelm wusste ihre Reaktion nicht zu deuten. Katharina lächelte versöhnlich:

„Das ist überhaupt eine tolle Idee! Ich arbeite endlich mal wieder mit Stein, stelle mich vor einen Spiegel, um mein Gesicht und meine einst geflochtene Haarfrisur in diesen Stein zu meißeln. Sollte alles gut werden, bekommt Anna Leon ihren verlorenen Kopf zurück.“

Katharina ging an die Arbeit, war tagelang beschäftigt, wollte nicht gestört werden. Dann rief sie Franz Wilhelm an, bat ihn, sie und ihr Werk zum Friedhof zu begleiten. Dieser war beeindruckt, sogar den abgebrochenen schlanken Hals der Frau, hatte sie nachempfunden.

Das vollendete Werk setzten sie gemeinsam mit einem Spezialkleber auf den traurigen Körper. Und siehe da, es passte alles.

Beide waren glücklich und entspannt und küssten sich.

Am nächsten Tag, gleich nach der Schule, führte ihr erster Weg zum Friedhof. Alles hielt noch zusammen. Die Figur von Anna Leon war wieder hergestellt. Auch der Beweis, dass Katharina ihr ähnlich war.

Zum ersten Mal in seinem Leben glaubte Franz-Wilhelm an ein Wunder. Und wenn er genau hinschaute, war die Traurigkeit im Gesicht der Figur verflogen, sie lächelte, ihren ganzen Körper durchflutete eine gewisse Leichtigkeit und die Hände schienen jenes dunkle Kreuz zu streicheln. Die Verantwortlichen für den Friedhof waren mit dieser Lösung einverstanden. Im Dorf freuten sich alle, denn die schöne Anna Leon war geheilt zurückgekehrt. Franz-Wilhelm und Katharina wurden von allen, das Künstlerpaar genannt.

Und wenn sie nicht gestorben sind, leben beide immer noch glücklich zusammen.

Geschichten aus dem Tintenfass

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