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Mittwoch

Mias Arbeitskoje. Tag.

Auf meinem Notebook gibt es zwei ultrawichtige Dokumente, zwischen denen ein ganzes Leben liegt. Mein Leben. Das Arbeitsleben eines vollen Jahres.

Eins.docx ist gefühlt vor Lichtjahren entstanden. Die Videoaufzeichnung eines Gruppengesprächs in meinem Bewerbungs-Assessment. Schon dieses Wort ist zum Schreien und zum gleich weglaufen. Wer nicht schreit und nicht wegläuft, ist zumindest schon mal qualifiziert im Bewerbungs-Ass. (Ich darf noch bemerken, dass Ass für die, des englischen Mächtigen, schlicht und einfach Arsch heißt. Was die Verantwortlichen nicht davon abhält, es trotzdem so abzukürzen. Und den Teilnehmern eines solchen Bewerbungs-Ass viele Tritte in den selbigen zu verabreichen.)

Ich sitze da also ganz brav auf meinem Hintern, höre zu, bringe mich ein. Es läuft prima, ich hangele mich von Qualifikationsplätzchen zu Qualifikationsplätzchen nach oben, Wunschjob am Ende der Leiter fest im Blick. Meine Ellenbogen sind ausgefahren, keiner kommt an mir vorbei, oben sehe ich den Hintern meiner Rivalin. Das Bewerbungs-Ass offenbart seine Bedeutung in voller Breite.

Spiel, Satz und ... »Ausgezeichnet, Frau Schütz« ... Sieg.

Es ist schon Wahnsinn, den Traumjob zu bekommen, weil man einen Satz richtig gesagt hat. Eine Woche später ging es los, einen Monat war es nur noch ein Job, ein Jahr später ist ein Alptraumjob.

Das bringt uns zu Zwei.docx: Das Protokoll des Jahreszielgesprächs mit meinem Chef. Äh, mit meinem Teamleiter, wir »sind ja alle ein Team«. Gesamteinschätzung in aller Kürze: Frau Schütz erbringt Leistungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie erledigt Arbeiten im vorgegebenen Zeitplan. Wir wünschen uns zusätzliches Engagement im Rahmen von Überstunden und Eigeninitiative in der kreativen Arbeitszeitgestaltung.

Wenn ich diese beiden Dokumente betrachte, wird mir klar: Es gibt kein zurück, ich muss da durch.

Eine Untersuchung besagt, dass der Goldfisch sich nur die eine Runde im Glas merken kann. Sobald er in die nächste Runde startet, hat er die Runde davor schon wieder vergessen. Nur so kann der Fisch es wohl aushalten, immer dasselbe zu machen, so die Forscher.

Ich wäre im Moment sehr gerne ein Goldfisch. Eine Runde im Glas ist eine Runde durch unsere Büroetage: Furchtbar wichtige Arbeitswütige an ihren furchtbar wichtigen Schreibtischen mit furchtbar wichtigen Computern und very important Gesichtsausdrücken. Novizen - wie ich damals vor einem Jahr.

Karriere! Das Lieblings-Köderwort meines Vorgesetzten. Ich benutze mal dieses altmodische Wort, Vorgesetzter, weil es mich an ein Mittagessen bei meiner Oma erinnert. Das wurde mir vorgesetzt.

Karriereentwicklung klingt bei uns so:

Chef sagt: »Wenn Sie dranbleiben, machen Sie hier in sechs Monaten Karriere. Wir gründen extra die Abteilung Interne Kommunikation. Dann haben Sie gleich vier Mitarbeiter, die ihnen zuarbeiten.«

Es vergehen Monat sieben, acht und neun.

Chef sagt: »Wir sind dran. Ich hab' das schon nach oben durchgereicht.«

Monat zehn, elf, zwölf.

»Beim Vorstand wird es diskutiert. Gedulden Sie sich, es lohnt sich für Ihre Karriere.«

Dreizehn, vierzehn und Tiefschlag meines Vorgesetzten in Form eines Jahresgespräches von exakt 23 Minuten Länge.

Ich drehe mal vorsichtshalber noch eine Runde im Goldfischglas, vielleicht kann ich die Runde davor wieder vergessen. Ha, Mia, du bist reingelegt worden. Du bist leider kein Fisch mit ein-Runden-Memory, du bist der Windhund auf der Rennbahn, der wieder und wieder dem Stoffhäschen und damit seinem Chefchen hinterher rennt. Aber er kriegt das Häschen nicht. Nie, nie, nie. That's the name of the game.

Stopp. Du bist volles Programm in einen Delfinschlaf-Tagtraum gerasselt. Denn das ist noch so etwas, was mich komplett verändert: Ich träume nur noch für Sekunden, früher hatte ich die ganze Nacht dafür. Interessanterweise habe ich jetzt gleich zehn, fünfzehn Träume pro Tag. Ich kann mir alle merken!

Nichts ändert sich, weil ich nichts ändere. Ich bete für die Nacht, ich bete für ein weiteres Gespräch mit Carl in der Heimat. Gerne würde ich ihm meine Verzweifelung mitteilen. Nein, ich will sie nicht mit-teilen, ich will sie teilen mit ihm, hoffentlich hat er Bock drauf. Auf eine Heulsuse im Selbstmitleidsstrudel des Malocher-Lebens.

Innen. Heimat. Nacht.

Carl hat keine Zeit. Jeder will einen Drink von ihm. Jeder. Ich beobachte ihn als Profi. Wie Tom Cruise in Cocktail. Heiliger Heiland, Mia, geht's auch mal ohne Filme? Nein, geht es nicht, Carl ist ein Tick besser als Cruise. Echt.

Der Blick in den Spiegel gegenüber bestätigt meine schreckliche Vermutung: Mein Stehplatz an der Bar ist ein jetzt-will-ich-aber-angemacht-und-nachher-gevögelt-werden-Platz.

Das fällt mir aber zu spät auf. Ruben stellt sich mit geringmöglichen, aber noch höflichen, Abstand so gut wie neben mich. »Ich bin Ruben. Stammgast. Noch nicht frustriert von der Welt.«

Ich schaue ihn mir genauer an: Ein rundes Gesicht, ein bisschen klein, aber nicht dick. Ende vierzig. Kleidungsstil lässig, aber ok. Er trinkt ein kleines Glas Wein. Ich tippe auf einen Italiener, den Wein meine ich jetzt. Luganer?

Jetzt schaut er mich auch an: »Du hast einen durchdringenden Blick, der Beichtgefühle in mir auslöst.«

Mia, nicht so starren. Da hast du's, er fühlt sich schon nackt: »Ja, sorry, ist so eine Angewohnheit von mir. Ich schaue mir gerne die Menschen genauer an, mit denen ich rede.«

»Da haben wir so was von gemeinsam: Mache ich auch so.«

»Therapeut?«

»Coach.«

»Ist das nicht dasselbe?«

»Wenn du ein Geheimnis behalten kannst: Ja. Öffentlich würden wir aber so was nie sagen. Laufen uns zwei Drittel der Kunden weg. Wer zum Therapeuten geht, ist krank. Wer zum Coach geht, will sich optimieren.«

»Wenn du jetzt in meiner Praxis wärst, würde ich fragen: Was ist dein Problem?«

»Ist denn Theken-Coaching professionell?« Rumms, das dürfte sitzen. Obwohl ich es nur aus alter Gewohnheit mache. Schon als Kind gelernt: Angriff ist der beste Schutz vor Psycho-Typen.

Ruben hebt die Hände: »Ist nicht professionell. Doch in der Not …«

»In der Not?«

»Würde ich jetzt mal so sagen. Siehst etwas überarbeitet aus.«

»Komme in letzter Zeit nicht viel zum Schlafen.«

Ruben scheint ehrliches Interesse an mir zu haben. Das meine ich jetzt mal beruflich. Was soll's, bis jetzt kostet es ja nichts: »Ich bin schon morgens an der Arbeit groggy, meine lieben Kolleginnen zicken rum. Wenn mein Chef spricht. kann ich das nur mühsam als Sprache identifizieren.«

»Bleibst du manchmal in der Woche zu Hause?«

»Ja, passiert.«

»Wochenenden?«

»Ausmüden im Bett.«

»Arbeitsbelastung?«

»Völlig im Brass.«

»Was meint …?«

»Ich gehe in der Arbeit unter. Ich schaffe es nicht. Lässt mich aber langsam kalt, dass ich es nicht schaffe.«

»Weil es nicht zu schaffen ist?«

»Exactamente, Mister Coach.«

Ruben zeigt zwischen Daumen und Zeigefinder eine etwa drei Zentimeter große Lücke: »Soviel noch!«

»Soviel was?«

»Soviel noch vorm Burn-out. Schätzungsweise noch ein bis zwei Monate.«

»Ich dachte immer, Burn-out ist was für Ältere. Die schon ein bisschen etabliert sind im Job und so.«

»Kriegen inzwischen schon Schüler ...«

Burn-out. Der Mann ist gut in seinen Diagnosen. Oder doch nur seine Masche?

Ruben lächelt: »Willkommen im Club. Du warst ja schon mehrmals hier und kennst wahrscheinlich das Stammpublikum. Wir reden nicht über das, was uns passiert ist. Wir hören denen zu, die noch mitten in der Scheiße stecken.«

»So jemand wie ich?«

»Definitiv so jemand wie du.«

»Ist also kein Zufall, dass ich hier bin?«

»Definitiv kein Zufall. Der Körper geht stiften, der Geist gleich hinterher.«

»Der Körper geht stiften?«

»Na, wie du dieses Schlafen als Delfin beschreibst. Da schützt sich der Körper doch, er haut ab. Sekunde für Sekunde.«

So habe ich da noch nicht gesehen. Mein Körper haut ab!

Rubens Stimme wird etwas leiser: »Morris zum Beispiel war völlig am Ende, als er hier zum ersten Mal saß. Sein Körper hatte aber schon erheblich schlapp gemacht, mit Migräne, Magengeschwür und Kreislaufkollaps deutliche Signale gesandt. Vor etwas über einem Jahr ist er hier aufgetaucht. Bestellte bei Carl eine Currywurst mit Pommes. Ist genauso, wenn bei Dittsche einer reinkommen würde und glaubt, dass wäre eine echte Imbissbude. Carl bot ihm einen Stuhl an, Morris setzte sich. Sein Kopf fiel nach vorn auf den Tisch und er hat dann erstmal ein Stündchen geschlummert. Er ist inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. Eine Menge Leute sind hier inzwischen gewesen und haben sich Rat von ihm geholt.«

Jetzt bin ich aber neugierig: »Welchen Rat kann man denn von Morris bekommen?«

Ruben hebt beide Hände, zuckt mit den Schultern. Als Expertin für Körpersprache würde ich sagen: Er hat keine Ahnung.

Orale Bestätigung von Ruben: »Keine Ahnung.«

Bingo. Wolltest du aber nicht mehr denken, Mia-Herzchen.

»Wenn die Menschen hier reinmaschieren, fragen sie öfter nach Morris. Und schwupp, sitzen sie am Tisch, ins Gespräch vertieft. Nach einer halben Stunde oder länger stehen sie wieder auf, erleichtert, zufrieden, fast glücklich.«

Ich könnte mir auch so eine Morris-Beratung vorstellen. Ich will doch, verdammt noch mal, auch glücklich werden. »Wenn wir schon mal dabei sind: Wieso erzählst du mir eigentlich hier die ganze Morris-Story? Ist doch viel zu intim, seine privaten Geschichten vor mir auszubreiten.«

»Erlaubnis von Morris höchstselbst!«

»Und zu was soll das gut sein?«

»Vielleicht als Ermutigung im Sinne von: Anderen ging es auch schon mal schlecht. Und sie haben davon erzählt, hier in der Heimat.«

»Dann wurde alles wieder gut?«

»Hängt vom Einzelfall ab.«

Scheiße, das kommt mir bekannt vor. »Die beschissene Coachmasche also: Du bist für die selbstverantwortlich, ich unterstütze und begleite dich. Blablabla. Ich kotze gleich.«

Ruben schaut mich besorgt an: »Ist ja gut. Alles okay. Genug für heute?«

»Ja, genug für heute.«

Delfinschlaf

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