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Lärm im Kopf

Wenn wir auf die Welt kommen, ist nur Stille in uns. Ein Neugeborenes lebt ausschließlich im gegenwärtigen Augenblick. Es schmeckt, riecht und schaut. Ewigkeiten ist ein Kleinkind von den Bewegungen eines Mobiles fasziniert, spielt mit einer Kastanie oder schaut neugierig und offen in die Augen seiner Mutter. Es ist einfach nur hier. Weil es keine Gedanken gibt, gibt es auch kein Gestern und kein Morgen, kein hier und dort und nichts, was es zu erreichen gilt. Wir Erwachsene sind angezogen und gebannt, uns geht förmlich „das Herz auf“, wenn wir ein Kleinkind in seiner absoluten Präsenz erleben. Maldea, die anderthalbjährige Tochter einer Freundin, sitzt abends in ihrem Bettchen und schaut sich ein Bilderbuch an. Sie zeigt auf die Bilder, brabbelt vor sich hin, strahlt mich immer wieder an und scheint ziemlich glücklich zu sein. Sie denkt nicht: „Oje, morgen muss ich zum Babyschwimmen. Ob das Wasser wohl nicht zu kalt sein wird?“ Oder: „Wen lade ich nur zu meinem Geburtstag ein? Wenn ich Adrian nicht einlade, wird er bestimmt eingeschnappt sein und will nichts mehr mit mir zu tun haben.“

Wir alle kommen mit jener unbeschreiblichen inneren Stille und Freude auf die Welt, die Kleinkinder ausstrahlen. Jeder von uns hat diesen Zustand erlebt, auch wenn wir uns daran nicht bewusst erinnern können. In uns war es damals so still, weil wir noch nicht denken konnten. Unser Großhirn, das für unsere Denkprozesse zuständig ist, war noch nicht ausgebildet. Erst im Laufe unserer ersten Lebensjahre erwerben wir die Fähigkeit zum Denken. Wir lernen Worte und Sätze, die wir dazu nutzen, mit anderen Menschen zu sprechen. Wir können unserer Mutter erzählen, was gestern in der Schule passiert ist oder wie lecker dieses neue blaue Eis schmeckt. Gleichzeitig beginnt ein innerer Dialog mit uns selbst. Wir nehmen unsere Umgebung nicht mehr einfach nur wahr, wie es ein Säugling tut, sondern in unserem Kopf findet eine ständige Verarbeitung und Bewertung all unserer Wahrnehmungen statt. Außerdem werden alle bisherigen Erfahrungen fein säuberlich archiviert, denn sie werden uns später noch nützlich sein.

Es wird nicht lange dauern und Maldea blättert nicht mehr einfach nur aufmerksam mit offenen Kinderaugen in ihrem Bilderbuch. Auch in ihrem Kopf werden mehr und mehr Gedanken auftauchen. Sie wird sich irgendwann über das Morgen Sorgen machen, sich vielleicht nicht klug genug finden oder ihre Eltern fragen, warum die Nachbarn so oft in Urlaub fahren und sie selbst überhaupt nicht.

Aber zunächst wird es noch einige Jahre dauern, bis Maldeas Geist voll ausgebildet ist. Wir alle haben während unserer Kindheit einen leichteren Zugang zu unserer Nicht-Verstandesebene, als wir das im Erwachsenenalter haben. Der Lärm in unserem Kopf hat zwar schon begonnen, aber er ist noch weniger aufdringlich und längere Zeit versiegt er sogar ganz. Wir können in dieser Zeit noch viel leichter vollkommen im gegenwärtigen Moment sein, gebannt von dem, was gerade ist. Wir sind offener für positive Gefühle wie Freude oder Zufriedenheit, aber auch für unsere unangenehmen Empfindungen wie Traurigkeit. Uns fällt es leichter, zu weinen, aber auch freudestrahlend zu lachen. Wir erleben unsere Gefühle unmittelbarer und spontaner.

„Die nächste Minute bitte nicht denken!“

Ich möchte dir eine kurze und vollkommen unproblematische Übung vorschlagen. Du sollst etwas ganz Einfaches tun, oder besser gesagt: nicht tun. Du sollst nämlich eine Minute nicht denken. Das müsste doch eigentlich zu schaffen sein, oder? Setz dich entspannt, aber konzentriert auf einen Stuhl oder bleib da, wo du dich gerade befindest. Schließ deine Augen und nimm dir vor, etwa eine Minute nicht mehr zu denken. Du kannst die Übung gerne auch ausdehnen, es sollte nur mindestens eine Minute sein. Wichtig ist, dass du wach und aufmerksam bist, sonst kannst du aufkommende Gedanken nicht wahrnehmen.


Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir diese Übung nicht ganz gelungen ist. Ich könnte mit einem sicheren Gefühl mein Buchhonorar darauf verwetten. Jedenfalls habe ich schon viele Menschen gebeten, diese Übung zu machen, und bisher ist es niemandem auf Anhieb gelungen. Die meisten berichten, am Anfang wäre es tatsächlich still in ihnen gewesen, aber schon nach kurzer Zeit seien ihnen entweder irgendwelche Gedankenblitze durch den Kopf geschossen oder sie hätten sich sogar in längeren gedanklichen Geschichten verloren. Aber wie kann das sein? Wir Menschen fliegen zum Mond, bauen modernste Flugzeuge oder schicken Nachrichten in Sekunden um den Globus, aber wir können nicht eine Minute unseren ewigen Gedankenstrom unterbrechen?

Ich erinnere mich noch sehr genau, als ich in den 1990er Jahren das erste Mal meinen Geist ganz bewusst beobachtete. Ich saß gemeinsam mit einer Gruppe neugieriger Europäer in einem indischen Kloster in einer Meditationshalle. Wir nahmen an einem Seminar teil, an dem wir in verschiedene Meditationstechniken eingeführt wurden. Es war ein heißer Monsuntag im Juni und ich hatte eine anstrengende Fahrt zum Kloster hinter mir. Ich freute mich schon darauf, dass es in mir nun endlich still werden würde. Wir wurden in die Vipassanā-Meditation eingeführt. Man sitzt mit geschlossenen Augen still und unbeweglich auf einem Kissen und tut nichts anderes, als wahrzunehmen, was sich im gegenwärtigen Moment ereignet, welche Gedanken und Empfindungen aufkommen und welche Reize von außen man wahrnimmt. So saß ich also auf meinem Kissen und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, wie mein Geist langsam immer ruhiger werden würde und ein tiefer innerer Friede von mir Besitz ergreifen sollte. …

Doch was passierte, war genau das Gegenteil: In meinem Kopf wurde es immer turbulenter und lauter, ein Gedanke jagte den nächsten. Der Taxifahrer vorhin hatte mir bestimmt zu viel Geld abgenommen: „30 Rupies? Das kann doch nicht sein, die Fahrt darf höchstens 15 kosten! Warum hast du dem nicht bloß 15 gegeben? Das Sitzkissen ist so hart. … Du musst dir morgen unbedingt ein besseres kaufen, eines wie daheim. … Wie spät ist es dort eigentlich gerade? 3,5 Sunden Zeitverschiebung, das macht dann 14 Uhr, nein, verdammt, 3,5 Stunden in die andere Richtung. … Bist du eigentlich sicher, dass es eine gute Idee war, nach Indien zu fahren? Jetzt hockst du hier und willst meditieren und kannst nicht mal fünf Minuten still sein. …“ So in etwa ging es endlos weiter. Je länger ich auf meinem Kissen saß und mein Denken beobachtete, desto mehr Gedanken überfielen mich. Zwischendurch hatte ich regelrecht Angst, verrückt zu werden. Sie waren schlimmer als die quälenden Mosquitos, die sich jede Nacht auf mich stürzten. Ein dünnes Moskitonetz genügte und ich hatte meine Ruhe vor ihnen. Doch was konnte ich nur tun, um meine Gedanken zu beruhigen?

Später hatte ich Gelegenheit, mit einer erfahrenen Meditationslehrerin über meinen gründlich fehlgeschlagenen Entspannungsversuch zu sprechen. Sie hörte sich meine entsetzten Schilderungen an und nickte nur verständnisvoll und wissend: „Du hast nicht mehr Gedanken als sonst, sondern du merkst erstmals, was in deinem Kopf los ist!“, sagte sie. Das also war sie, die „Affenhorde“, von der ich in verschiedenen Büchern immer wieder gelesen hatte und von der ich bis dahin dachte, andere Menschen hätten damit zu kämpfen, aber doch nicht ich. Mit „Affenhorde“ ist unser ungebändigter Geist gemeint, der vom einen zum anderen springt, es nirgends lange aushält, wild herum assoziiert und Gedanken und Bilder oft sinnlos aneinanderreiht. Dieser Affenhorde sind wir alle, wohl ausnahmslos, immer wieder ausgeliefert. Das anzuerkennen ist der erste Schritt für eine Veränderung, denn wie soll uns Entspannung gelingen, wenn es in uns unentwegt tobt?

In der folgenden Nacht träumte ich von einer Horde Affen, die ständig hinter mir herlief. Am Abend hockten sie sogar alle in meinem Schlafzimmer. Kaum hatte ich einige von ihnen aus meinem Zimmer verjagt, kamen andere durch die offenen Fenster wieder herein und grinsten mich an. Schweißgebadet wachte ich am nächsten Morgen auf. Offensichtlich hatte ich mich in diesem Meditationsseminar auf ein besonderes Experiment eingelassen.

Wenn wir wirklich ehrlich mit uns sind, müssen wir uns eingestehen: Wir können nicht selbst entscheiden, ob wir denken oder nicht. Das wäre ja nicht weiter schlimm, sofern unser Geist nur dann anspringen würde, wenn er tatsächlich gebraucht wird. Doch genau das macht er nicht. Er denkt vielmehr unentwegt, wann er will und was er will. Er ist in den unmöglichsten Augenblicken aktiv, selbst dann, wenn wir ihn ganz und gar nicht brauchen können. In spirituellen Texten heißt es daher manchmal, der Diener sei zum Hausherrn geworden und der Hausherr zum Diener. Eigentlich sollten wir es sein, die entscheiden, wann wir unseren Geist nutzen und wann eben nicht. Doch in Wirklichkeit ist es umgekehrt: Nicht wir denken, sondern „es“ denkt in uns. Und die Verdrehung geht noch weiter: Wir haben nämlich sogar vergessen, dass wir der Hausherr sind bzw. sein könnten. Wir halten es für vollkommen normal, nicht einmal für eine Minute unser Denken abschalten zu können.

Unsere Denkaktivität ist ähnlich wie das Geräusch eines neuen Weckers: Am Anfang nehmen wir das gleichmäßige Ticken noch wahr, doch es dauert nicht lange, bis wir es gar nicht mehr hören. Unsere geistigen Prozesse sind für uns so selbstverständlich geworden wie der Strom, der aus der Steckdose kommt und den wir erst „bemerken“, wenn es einen Stromausfall gibt. Wir denken nicht jeden Morgen: „Ah, da kommt ja Strom aus der Steckdose, toll, dass ich mir damit einen Kaffee kochen kann“, sondern der Strom kommt eben einfach. Auch unsere Gedanken sind einfach da, wir begrüßen nicht jeden unserer Gedanken mit einem freudigen „Ah, ein neuer Gedanke, was denke ich denn gerade?“ Wir nehmen nicht wahr, dass wir denken, und wir haben meistens auch wenig Gespür für die Augenblicke, in denen unser Geist zur Ruhe kommt. Viele Menschen wissen daher nicht einmal vom Hintergrundrauschen in ihrem Kopf. Sie haben längst vergessen, wie es sich anfühlt, wenn es in ihnen still ist. Vielleicht glauben sie sogar, es sei still in ihnen, dabei tobt in ihrem Kopf eigentlich der Bär, oder besser: die Affenhorde. Erst wenn unser Denken wirklich durcheinandergerät und wir krank werden, nehmen wir wahr, dass da oben etwas nicht stimmt. Wer sich von allen Geheimdiensten der Welt verfolgt fühlt oder eine panische Angst vor Marienkäfern entwickelt, der scheint ganz offensichtlich „krank“ zu sein.

Doch in diesem Buch beschäftigen wir uns nicht mit psychischen Erkrankungen, sondern mit dem ganz „normalen Wahnsinn“. Jeder von uns kennt ihn und den meisten von uns fällt er nicht einmal auf.

50 Gedanken pro Minute

Jeden Tag gehen uns viele tausend Gedanken durch den Kopf. Eine Forschergruppe behauptet, es sollen an die 80 000 sein – das wären dann etwa 50 Gedanken pro Minute. Nur ein kleiner Teil davon dringt an die Oberfläche unseres Bewusstseins und von diesem kleinen Teil nehmen wir wiederum nur die allerwenigsten Gedanken tatsächlich wahr. In unserem Gehirn geht es zu wie auf einer mehrspurigen Autobahn zur Hauptverkehrszeit und nicht wie auf einer einsamen Landstraße in Ostfriesland. Der Strom unserer Gedanken ist endlos und selbst in der Nacht versiegt er nicht. In einigen Schlafphasen arbeitet unser Gehirn munter weiter, ordnet und verarbeitet die Eindrücke des Tages.

Viele Tausend Mal am Tag haben wir kurze „Minigedanken“. Das sind kurze Sätze, einzelne Worte oder Zahlen, die uns in den Sinn kommen. Beispielsweise spüren viele Menschen eine Art „Zwang“, die Nummernschilder von Autos zu lesen, Treppenstufen zu zählen oder Ähnliches. Zu diesen Minigedanken gehören auch Bewertungen von Alltagssituationen. Alles, was uns begegnet, wird sofort eingeordnet und damit auch beurteilt. Während ich das hier schreibe, sitze ich gerade im Zug. In der Reihe vor mir telefoniert eine junge Frau – „Das stört, wann ist die endlich fertig?“ –, der Schaffner kommt und ich finde meine Fahrkarte nicht sofort – „Verdammt, hab ich die etwa vergessen?“–, ein Servicemitarbeiter bietet frisch gebrühten Kaffee an – „Riecht der gut, ich will auch einen“–, auf der Anzeige erscheint der Hinweis, dass der Zug gerade 220 km/h fährt – „Ganz schön schnell, merkt man gar nicht“ –, eine Durchsage kündigt eine Verspätung an – „Oh nein, das hat mir jetzt noch gefehlt.“ Und so weiter und so weiter.

Dann gibt es komplexere Gedankengänge wie etwa Bewertungen der eigenen Person oder anderer Menschen – oder auch Planungen: „Wo hast du nur die Zugfahrkarte hingetan? Das ist doch typisch, dieses Chaos. Nächstes Mal werde ich sie ganz ordentlich in die Seitentasche stecken, wo sie ja auch hingehört.“ Weiter gibt es Gedankenketten, das sind Aneinanderreihungen von Gedanken, die manchmal in einem logischen Zusammenhang stehen, oft aber auch nur assoziativ miteinander verbunden werden. Hier eine meiner Gedankenketten, während ich im Zug sitze: „Wie lange telefoniert die da vorne eigentlich noch? … Mein Gott, was die mit ihrer Freundin alles zu besprechen hat. … So, so, sie war beim Friseur, sieht gar nicht so aus. … Aber ich müsste auch dringend mal wieder hin, dann gehe ich wieder zu der Friseurin, bei der ich letztes Mal war. … Die kommt aus Thailand da könnten wir doch nächsten Winter hinfahren. … Aber der Tsunami mit all den Toten. … Bin ich froh, dass Sabine damals zwei Tage vorher zurückgeflogen ist – nicht auszudenken, wenn sie noch geblieben wäre. … Aber Fliegen ist ja auch gefährlich, in Madrid ist gerade ein Flugzeug abgestürzt…“ Solche Gedankenketten sind oft mit inneren Bildern oder „Filmsequenzen“ verbunden, wir haben quasi ein privates Kino im Kopf. Es dauert manchmal mehrere Minuten oder noch länger, bis wir endlich bemerken, dass wir uns in unseren Gedanken verloren haben. Wenn wir zu sehr in unserem Kopfkino gefangen sind, dann kann unsere Wahrnehmung des Hier und Jetzt komplett ausgeschaltet sein, wir bekommen nicht einmal mehr mit, was um uns herum passiert. Ein typisches Beispiel: Während einer Autofahrt sind wir so in Gedanken versunken, dass wir uns im Nachhinein kaum noch an die Strecke erinnern können und daran, was unterwegs passiert ist. Vor dem Garagentor angekommen, fragt man sich vielleicht etwas ängstlich: „War da nicht vorhin eine rote Ampel? Habe ich denn da eigentlich angehalten?“

Neben kürzeren Gedanken und Gedankenketten kommt es oft auch zu einer Art inneren Unterhaltung zwischen verschiedenen Teilen der eigenen Person. Wir alle haben verschiedene Persönlichkeitsanteile in uns, die nicht immer einer Meinung sind und ihre Meinungsverschiedenheiten ganz offen austragen. Das mag jetzt etwas amüsant klingen, aber wir alle erleben es jeden Tag, meistens ohne diese Dialoge bewusst wahrzunehmen. Neulich habe ich mit einem Klienten ein solches inneres „Streitgespräch“ herausgearbeitet. Es ging um eine Situation, die vielen vertraut vorkommen mag: Mein Klient hatte seine Wohnungstür abgeschlossen und war schon drei Stockwerke heruntergegangen, da „hörte“ er plötzlich eine innere Stimme:

„Du hast bestimmt die Herdplatte angelassen. Du musst nachschauen! Jetzt extra noch mal hochlaufen?

Die Wohnung wird dir noch abbrennen. Dann hast du ein echtes Problem!

Ich werd die Herdplatte schon ausgeschaltet haben. Ich habe noch nie vergessen, sie auszuschalten.

Aber diesmal, du warst vorhin ganz hektisch drauf, da vergisst man das schnell.

Neulich bin ich auch kontrollieren gegangen. Und was war? Sie war natürlich aus.

Nur kurz hochlaufen, dauert doch nicht lang. Stell dir vor, sie ist doch an. Neben dem Herd steht diese weiße Plastikschüssel, die brennt gut. …“

Er ging in die Wohnung zurück und schaute nach. Die Herdplatte war natürlich ausgeschaltet.

„Wie kann man nur so blöd sein und kontrollieren gehen. Das ist doch fast schon krank bei dir. Letzte Woche bist du auch schon hochgelaufen, was ist nur los mit dir?“

Du hörst schon: In uns ist viel los! Dieser Gedankenstrom fließt unablässig, er kommt ganz selten zur Ruhe, und wenn, dann nur für kurze Augenblicke. Auch wenn es gar nicht leicht ist, unseren Gedanken auf die Schliche zu kommen, es lohnt sich! Denn was wir denken, entscheidet mit darüber, wie wir uns fühlen, wie entspannt oder angespannt wir sind und wie wir uns verhalten. Um unsere Gedanken besser fassen zu können, habe ich in diesem Buch immer wieder „Gedankenzitate“ von mir selbst oder von Freunden oder Klienten eingebaut. Diese sind, wie du schon gesehen hast, kursiv gesetzt. Auch spreche ich von unseren „inneren Stimmen“ oder unseren „inneren Botschaften“. Ich meine damit nicht, dass wir alle krank geworden sind und wirklich Stimmen hören, wie Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Vielmehr beschreibe ich einen inneren Dialog, etwas, was wir alle kennen und was vollkommen normal ist.

Unser Geist ist ständig beschäftigt. Er arbeitet ununterbrochen, er kennt keinen Feierabend, kein Wochenende und auch keinen Urlaub, nicht mal eine Pinkelpause! Am Anfang dieses Buches hatte ich dich gebeten, die Augen zu schließen und nur eine einzige Minute nicht zu denken. Den meisten von uns gelingt das nicht, weil unser Geist eben 24 Stunden am Tag ununterbrochen aktiv ist.

Eine besondere Herausforderung für unseren Denkapparat sind Ruhephasen, ein Urlaub beispielsweise oder wenn es still um uns herum ist. Wir können dann unseren unruhigen Geist eben nicht abschalten, sondern wir haben diesen arbeitswütigen Genossen ja immer dabei. Neulich hat mir eine Bekannte erzählt: „Es ist gar nicht einfach, Urlaub zu machen, man hat ja gar keine Termine.“ Wenn wir unseren Geist mit dem äußerlichen Nichtstun konfrontieren, macht er trotzdem sein gewohntes Programm weiter: Entweder macht er für uns das schon beschriebene innere Kopfkino, oder er geht die Entspannung mit seiner gewohnten Arbeitermentalität an: „Also wenn du schon Urlaub machen willst, dann aber gründlich. Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum!“ Vor einigen Jahren bekam ich Besuch von einem Bekannten aus den USA, der im Urlaub so richtig was erleben wollte. Er kam mit einer Liste von Sehenswürdigkeiten, die er Tag für Tag langsam abarbeitete. Er war nach Europa gekommen, um sich von seinem anstrengenden Arbeitsalltag als Computerfachmann zu erholen, aber was hatte sein Geist gemacht? Er hatte sich einfach einen neuen Job gesucht und der hieß „Abhaken der 30 Highlights, die die Stadt München zu bieten hat.“

Der Terminkalender einer 7-Jährigen

Gerade in der heutigen Zeit beklagen immer mehr Menschen, dass sie gestresst sind, sich nicht mehr entspannen können und sich wie ein Hamster im Laufrad fühlen. Das liegt sicher mit an der zunehmenden Beschleunigung unseres Lebens und auch an der Fülle von Reizen, denen wir ausgesetzt sind. Beides fördert unsere geistige Aktivität, denn um im hektischen Alltag des 21. Jahrhunderts zurechtzukommen, läuft unser Denken ständig auf Hochtouren und kann kaum noch abschalten. Wir brauchen nur das Leben unserer Großeltern oder Urgroßeltern mit unserem eigenen zu vergleichen. Wie viel ruhiger und weniger herausfordernd lief der Alltag damals ab, wie viel mehr Pausen, Zeit für Entspannung gab es. Viel davon ist uns heute verloren gegangen. Vor nicht langer Zeit gab es nur zwei Fernsehsender. Das Programm begann um 16 Uhr, davor lief nur das berühmte Testbild. Um 22 Uhr war Sendeschluss und danach lief wieder das Testbild. Heute empfangen wir mehr als 100 Kanäle und zappen die ganze Nacht durch die Welt. Studien zeigen, dass selbst unsere Schlafdauer, also die Erholungszeit, die wir uns gönnen, in den letzten Jahren deutlich kürzer geworden ist: Wir schlafen heute im Schnitt eine Stunde weniger als Menschen vor 100 Jahren. In Umfragen gaben mehr als 80 Prozent der Befragten an, ihr Leben sei in den letzten Jahren hektischer geworden. Nach neueren Untersuchungen konzentrieren sich Büroangestellte heute im Schnitt noch 12 Minuten auf eine Tätigkeit, danach werden sie von Telefon, E-Mail usw. aus der Arbeit gerissen. Heute haben Schulkinder einen so vollen Terminkalender, wie ihn vor fünfzig Jahren nur Manager hatten: 6.30 Uhr Aufstehen; 7 Uhr Frühstücken; 7.30 Uhr Fahrt zur Schule; 8 – 13 Uhr Schulunterricht; 13 Uhr Essen in der Schule; 14 – 15 Uhr Nachhilfeunterricht; 15.30 – 16.30 Uhr Kinderyoga, Sport, Musikunterricht; 17 – 18.30 Uhr Hausaufgaben. Es bleibt wenig Zeit, um einfach nur Kind zu sein, zu spielen und den Augenblick zu erleben. Entsprechend fühlen sich heute vier von fünf Kindern unter Zeitdruck, wie aktuelle Studien belegen.

Wenn es in unserem Kopf „laut“ wird, dann bekommen wir das zu spüren. Wir haben ständig Gedanken darüber, was wir alles noch erledigen müssen. Haben wir einiges davon abgearbeitet, fallen uns gleich die nächsten Dinge ein, die keinen Aufschub dulden. Vordergründig glauben wir oft, wir seien gestresst, weil wir so viel zu erledigen haben. Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir aber fest, dass wir eigentlich unter einem zu aktiven Geist leiden, dem ständig etwas Neues einfällt, was es angeblich noch zu tun gilt. Wir fühlen uns getrieben, hektisch, unruhig und schaffen es nicht, für Ruhepausen zu sorgen. Wir werden fahrig, fangen Dinge an, die wir gleich schon wieder liegen lassen und beginnen mit dem nächsten. Unsere Alltagshandlungen laufen vollkommen automatisiert ab, wir wirken dabei wie abwesend. Wir haben vergessen, was wir gerade noch erledigen wollten oder wo wir unsere Brille schon wieder hingelegt haben. Wir haben zehn Bücher neben dem Bett liegen und möchten alle unbedingt am besten sofort lesen. Die Zeit reicht nie aus für all das, was wir noch erledigen wollen. Eine Freundin erzählte mir neulich, sie habe am Bankautomaten Geld abgehoben, habe aber aus lauter Eile vergessen, es einzustecken.

Der Aufruhr in unserem Geist bewirkt auch eine Anspannung in unserem Körper. Es lässt sich nachweisen, wie unsere Gedankentätigkeit dazu führt, dass sich unsere Muskelanspannung erhöht, die Atemfrequenz ansteigt oder mehr Schweiß produziert wird. Viele Menschen berichten von einem Druckgefühl gerade im Brustraum. Wir nehmen in unserem Körper ein Gefühl von Enge oder Eingesperrtsein wahr, und tatsächlich sind wir angetrieben und eingesperrt in Gedankenplänen und To-do-Listen. Irgendwann macht unser Körper nicht mehr mit, weil er für diesen lebenslangen Dauermarathon nicht geschaffen wurde. Vielleicht fängt es mit Kopfschmerzen an oder mit Muskelverspannungen, oft im Nacken- und Rückenbereich. Typisch sind auch Schlafstörungen, wenn unser Geist nachts nicht mehr zur Ruhe kommt. Wir liegen abends im Bett und möchten einschlafen, doch uns gehen bereits Gedanken über den nächsten Tag durch den Kopf: Wird morgen alles klappen, werde ich alles schaffen, was ich erledigen muss? Viele Wohlstandskrankheiten des 21. Jahrhunderts sind Folgen unserer stressreichen Lebensweise. Bluthochdruck beispielsweise, aber auch Essstörungen, verschiedene Süchte, das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätzssyndrom (ADHS) und andere psychische Erkrankungen. Die beiden häufigsten davon, nämlich Angststörungen und Depressionen, gehen einher mit einem unkontrollierten Geist, der seinen Besitzer mit trüben Gedanken oder ständigen Befürchtungen quält.

In Simbabwe wird die Depression daher „Kufungisisa“ genannt, was so viel bedeutet wie „sich zu viele Gedanken machen“.

Grübeln bis morgens um fünf

Es ist zwei Uhr nachts und Herr B. liegt genervt und hellwach im Bett. In seinem Kopf rattert es ohne Ende. Aber ihm gehen nicht ständig neue Gedanken durch den Kopf, sondern immer wieder dieselben. Er leidet unter einem Phänomen, das viele von uns kennen und das von Psychologen ganz profan „grübeln“ genannt wird. Grübeln bedeutet, über das immer Gleiche immer wieder nachzudenken. Grübeln zeigt uns besonders deutlich die Sinnlosigkeit vieler Denkprozesse, denn grübeln ist für nichts gut. Wir alle grübeln immer wieder und Menschen in depressiven Krisen grübeln besonders viel. Im englischen Sprachraum verwenden Fachleute den Begriff „Rumination“, der auch für das Wiederkäuen von Kühen benutzt wird. Und so ähnlich fühlt sich grübeln tatsächlich an: Der Gedanke wurde schon tausend Mal von allen Seiten beleuchtet und doch kann er immer noch nicht „runtergeschluckt“ werden.

Herr B. liegt immer noch im Bett, es ist inzwischen drei Uhr dreißig und er grübelt immer noch: „Wie konnte ich nur…?“ lautet seine immer gleiche Frage, die ihm durch den Kopf geht. „Wie konnte ich nur leztes Jahr diese Aktien kaufen, die jetzt nichts mehr wert sind?“ Wenn er Glück hat, wird er irgendwann vor Einbruch der Helligkeit doch noch erschöpft einschlafen, und wenn er Pech hat, wird er zwei Stunden später aufwachen mit dem Gedanken „Wie konnte ich nur …?“

Zum Grübeln kommt es, wenn unser Geist eine Lösung für ein Problem sucht und nicht „zugeben“ mag, dass er keine findet. Denn wenn er mit einer Herausforderung nicht zurechtkommt, dann macht er es sich nicht leicht und legt sich einfach aufs Sofa mit einem: „Tut mir leid, ich kann da auch nichts tun!“ Er sagt auch nicht: „Du musst jemand anderen um Hilfe bitten. Mir fällt da einfach nichts mehr ein!“ Stattdessen sagt er: „Ich muss nur noch mehr drüber nachdenken, irgendwann werde ich die Lösung schon finden. Ich muss alles noch mal ganz gründlich durchdenken, irgendwo habe ich bestimmt was übersehen.“

Ich erzähle hier vom Grübeln, weil es ein sehr gutes Beispiel ist, um die Sinnlosigkeit zu verdeutlichen, die unser Denken manchmal auszeichnet. Außerdem zeigt uns das Grübeln, dass nicht wir es sind, die entscheiden, wann und was wir denken. Nicht wir grübeln, sondern es grübelt uns oder es grübelt in uns. Vielleicht ist die deutliche Zunahme von Depressionen in den letzten Jahrzehnten auch Folge eines zu aktiven Geistes. Wenn unser Denken ohnehin schon zu aktiv ist und dann auch noch die Aktienkurse abstürzen, um beim Beispiel von Herrn B. zu bleiben, dann sind unsere quälenden Gedanken einfach nicht mehr zu bändigen.

Die Gedanken sind frei …

Während der Arbeit an diesem Buch schlich sich eines Abends bei mir ein Ohrwurm ein: „Die Gedanken sind frei, kein Mensch kann sie wissen“, ein Flugblattlied aus der Zeit der Französischen Revolution, das ich als Jugendlicher am Lagerfeuer oft gesungen hatte. Was ich auch unternahm, ich wurde diese Textzeile nicht los. Schließlich schlief ich spät in der Nacht endlich ein, doch am nächsten Morgen ging es gleich wieder los: „Die Gedanken sind frei …“

Dabei waren meine Gedanken offensichtlich alles andere als frei. Von Gedanken fast schon verfolgt zu werden, hat jeder von uns sicher schon öfter erlebt. Wir alle wissen: Es hat keinen Sinn, immer und immer wieder darüber nachzudenken, wie das Vorstellungsgespräch wohl laufen wird, ob die Frau, in die ich mich frisch verliebt habe, mich auch so toll findet wie ich sie oder warum ich neulich so blöd war und diesen kleinen Unfall verursacht habe. Das Nachdenken darüber ist oft zwecklos, doch es hört einfach nicht auf. Wir haben immer wieder dieselben Gedanken in einer endlosen Schleife, wie eine CD, die sich aufgehängt hat: „Warum hast du nicht besser aufgepasst? … Hättest du eine Sekunde eher gebremst, wäre jetzt alles gut, so blöd kannst doch nur du sein. … Jezt stuft die Versicherung dich höher, dabei ist dein Konto gerade leer …“ Oft hören wir von Freunden dann die Empfehlung: „Denk einfach nicht mehr drüber nach!“, doch einen unsinnigeren Tipp gibt es nicht. Könnten wir unsere Gedanken anhalten, wir hätten es natürlich längst getan! Der gut gemeinte Tipp führt nur dazu, dass wir uns nur noch schlechter fühlen als ohnehin schon.

Wir können nicht selbst entscheiden, wann wir denken, und genauso wenig können wir selbst entscheiden, was wir denken. Auch da macht unser innerer Computer, was er will. Besonders aufdringlich sind Gedanken, die gemeinsam mit starken und rasch einsetzenden Gefühlen auftreten, beispielsweise mit Scham, Ärger oder Angst. Jeder kennt Situationen, in denen er sich in Grund und Boden geschämt hat und sich auch nachträglich noch schämt. Neulich erzählte mir ein Freund eine Schamsituation aus seiner Kindheit. Er war in der vierten Klasse während des Unterrichts auf die Toilette gegangen. Als er die Toilette wieder verlassen wollte, klemmte die Tür und er war eingesperrt, bis er nach lautem Schreien endlich befreit wurde. Mit hochrotem und gesenktem Kopf kehrte er schließlich in die Klasse zurück, und zwar in Begleitung des Hausmeisters, der der Lehrerin und den Mitschülern erzählte, was vorgefallen war. Das Gelächter war natürlich vorprogrammiert. Wochenlang konnte er damals an nichts anderes mehr denken. Nächtelang träumte er davon und schließlich wurde er sogar krank. Er erzählte, noch heute sei es ihm jedes Mal mulmig, wenn er eine öffentliche Toilettentür abschließe.

Wir alle haben ähnliche Situationen erlebt, die peinlich und unangenehm waren und uns lange und oft quälend beschäftigt haben. Welche Situation fällt dir aus deiner eigenen Lebensgeschichte ein? Kommt dir eine Situation aus deiner Kindheit und Jugend in den Sinn oder ein Ereignis, das in letzter Zeit passiert ist?

Die Macht unserer Gedanken

Mit meinen Klientinnen und Klienten mache ich oft eine kleine Übung, die uns die Macht unserer Gedanken zeigt: Bitte stell dir vor, dass vor dir eine in Scheiben geschnittene Zitrone liegt. Zuerst schaust du dir die Zitronenscheiben einfach nur an, dann nimmst du eine in deine Hand und riechst daran. Der säuerliche Geruch steigt in deine Nase und … Meistens kann ich hier schon die Übung beenden, denn fast allen läuft schon bei dieser Vorstellung der Speichel im Mund zusammen. Wenn nicht, erzähle ich weiter, wie wir die Zitronenscheibe langsam zum Mund führen, den Mund öffnen und mit unserer Zunge die saftige Zitronenscheibe berühren. Spätestens hier ist es dann um uns geschehen!

Diese einfache Übung zeigt uns die Macht unserer Vorstellungen und Gedanken. Wir brauchen uns „nur“ etwas vorzustellen und unser Organismus reagiert genauso, als wäre die Situation real. Er kann nicht unterscheiden, ob es sich um eine Vorstellung in unserem Kopf handelt oder ob die Situation real ist. Es hilft überhaupt nichts, uns klarzumachen, dass wir ja nur an eine Zitrone denken. Wir können uns noch so oft sagen: „Das ist nur ein Gedanke“, es läuft uns trotzdem das Wasser im Mund zusammen.

Die Werbeindustrie hat sich dieses Prinzip zunutze gemacht. Sehe ich nur oft genug die glückliche Rama-Familie am Frühstückstisch im Garten, dann kaufe ich irgendwann diese Margarinesorte. Natürlich weiß ich: Es ist ja nur Werbung, die wollen mir was verkaufen, die Leute in dem Werbefilmchen sind gar nicht wirklich glücklich, sondern es sind Schauspieler, die nur so tun als ob. Und trotzdem greife ich irgendwann im Supermarkt zur Rama-Packung, denn ein Teil in mir glaubt: „Mit Rama bin ich ein glücklicherer Mensch!“

Gedanken können zwar keine Berge versetzen, wie immer behauptet wird, aber sie verändern unsere Wirklichkeit. Sie nehmen Einfluss auf unsere Körperempfindungen, auf unsere Gefühle und auf unser Verhalten, also sogar darauf, was uns in der Außenwelt begegnet. Die Macht unserer Gedanken erleben wir täglich viele Male, wir nehmen ihren Einfluss jedoch nur selten bewusst wahr. Zum Beispiel können wir durch unsere Gedanken Gefühle hervorrufen. „Ich werd schon sauer, wenn ich nur dran denke“, meinte neulich eine Freundin zu mir, die sich darüber ärgerte, dass ihr neuer Freund sie zur Hausarbeit und zum Badputzen verdonnern wollte.

Du kannst jetzt ausprobieren, welche Auswirkungen deine Gedanken auf deine Gefühle und Empfindungen haben. Du brauchst dir nämlich nur eine Situation vorzustellen, in der du dich so richtig geärgert hast. Versuch dir die Situation möglichst genau vorzustellen: Was ist genau passiert? Wer oder was hat dich geärgert? Höchstwahrscheinlich gerätst du durch die bloße Erinnerung der Situation und das Nachdenken darüber wieder in das Gefühl von Ärger hinein, das du damals erlebt hast.


Natürlich können wir diesen Einfluss unserer Gedanken auch positiv nutzen, indem wir an angenehme Ereignisse denken. In vielen Entspannungsverfahren werden die Teilnehmenden gebeten, sich eine Blumenwiese oder einen anderen für sie schönen Ort vorzustellen. Und tatsächlich ändert sich durch das bloße Vorstellungsbild unser Anspannungsniveau. Die Muskeln lösen sich, das Gesicht glättet sich, unser Atem wird tiefer. Eine Zeit lang haben meine Frau und ich am Abendbrottisch ein sehr schönes Ritual praktiziert. Wir haben uns gegenseitig die ganz einfache Frage gestellt: „Wann ging es Dir heute gut?“ Statt meiner Frau zu erzählen, was heute nicht so gut geklappt hatte, erzählte ich ihr von den schönen Augenblicken des Tages, dem bunten Herbstlaub in den Gärten, der witzigen Begegnung mit dem Nachbarn oder einem erfreulichen Telefongespräch. Uns ging es natürlich viel besser, wenn wir uns gegenseitig von all dem Schönen erzählten, als wenn wir über Probleme gesprochen hätten. Die Arbeit an diesem Buch hat uns dazu bewogen, dieses Ritual wieder aufzunehmen. Wie konnten wir es zwischendurch nur wieder vergessen?

Ein ganz amüsantes Experiment zeigt uns zugleich die Macht und Machtlosigkeit unseres Geistes: In einem Schlaflabor wurde Probanden mitgeteilt, dass derjenige von ihnen 10 000 Dollar erhalte, der zuerst einschlafen würde. Was war das naheliegende Ergebnis? Alle hatten eine schlaflose Nacht! Die Vorstellung, die 10 000 Dollar zu bekommen, zusammen mit dem krampfhaften Bemühen, möglichst schnell einzuschlafen, hielt alle die ganze Nacht wach. Vieles steht nicht in unserer Macht und ist nicht durch unseren Willen beeinflussbar. Dazu gehört beispielsweise das Einschlafen: Je drängender ich einschlafen will, umso schwieriger wird es.

Nichts als Unsinn im Kopf

Wir denken also meistens nicht, wann wir wollen, und auch nicht, was wir wollen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn unsere Gedanken zumindest sinnvoll und für unseren Alltag nützlich wären. Doch auch das ist leider oft nicht der Fall, denn die meisten unserer Gedanken sind vollkommen nutzlos. Wir beschäftigen uns einen großen Teil des Tages gedanklich mit Dingen, die uns nicht weiterhelfen, die banal und überflüssig sind oder im ungünstigsten Fall sogar schädlich. Das trifft natürlich nicht auf alle Gedanken zu, aber wohl auf den größeren Teil.

Viele unserer Gedanken sind sinnlos oder gar unheilsam, weil sie schlicht überflüssig sind, überflüssig in dem Sinn, dass sie zu nichts führen, nicht einmal zu einem guten Gefühl. Neulich kam eine meiner Klientinnen in die Therapiestunde und berichtete, sie habe von einer verstorbenen Tante 20 000 Euro geerbt und sei nun endlich für einige Jahre ihre Geldsorgen los. Leider gehe es ihr aber gar nicht gut, denn sie habe darüber nachgedacht, wie schwer es für sie wohl werde, wenn das Geld ausgegeben sei. Meine Klientin sah mein Schmunzeln, und wir mussten beide laut loslachen. So verrückt kann unser Denkapparat sein! Anstatt ein Fest zu feiern und sich über die 20 000 Euro zu freuen, produzierte er gleich wieder ein neues Problem.

Wir vergeuden so unglaublich viel von unserer Energie, weil wir uns immer wieder mit Ereignissen beschäftigen, die entweder längst vergangen sind oder die nie eintreten werden. Besonders unsinnig ist das Gedankenspiel „Was wäre gewesen, wenn …?“ Obwohl die Vergangenheit vergangen ist und sich von keinem Menschen der Welt mehr verändern lässt, beschäftigt sich unser Verstand damit, wie es hätte anders laufen können. Diese Form des Denkens ist eine unglaubliche Vergeudung unserer Energie und unserer Zeit. Wir haben wirklich Besseres zu tun, als uns ständig über gestern oder über morgen Sorgen zu machen.

Ebenso schädlich sind Gedanken, die uns selbst, unsere Zukunft oder unsere Umgebung in ein besonders negatives Licht stellen. Sind wir in einer schlechten Stimmung, dann setzen wir eine düstere Brille auf und betrachten die Welt durch einen Grauschleier. Jeder von uns hat seine eigenen destruktiven Lieblingsbotschaften. Je nach Persönlichkeit unterscheiden sich solche Aussagen. Bei manchen Menschen klingt das beispielsweise so: „Du kannst das nicht!“ Oder: „Die anderen sind sowieso besser als du!“ Bei anderen klingt es so: „Du strengst dich nicht genug an!“ Oder: „Wie blöd hast du dich da wieder angestellt?“ Bei wieder anderen: „Mit dir will sowieso niemand etwas zu tun haben!“ Oder: „Es wird dir bald was ganz Schreckliches passieren!“

All das stimmt natürlich nicht, aber wenn wir erst einmal die Negativ-Brille aufgesetzt haben, sieht alles nur noch düster aus. Es ist genau wie mit der Zitronenscheibe: Wir können nicht zwischen unserer inneren, selbst erschaffenen gedanklichen Wirklichkeit und der äußeren Realität unterscheiden. Unser Geist hält diese Aussagen für wahr. Eine Instanz in uns sagt: „Ja, genau so ist es, so und nicht anders.“ Wenn wir durch die Negativ-Brille schauen, können wir auch nur negative Dinge wahrnehmen. Wir sehen dann nur Menschen, die grimmig dreinblicken, und bemerken an uns selbst nur unsere Schwächen. Egal, wie schön die Sonne gerade scheint, die paar Wolken am Himmel sind der untrügliche Beweis dafür, dass es sicher bald regnen wird. Unser Geist konstruiert sich so seine eigene Wirklichkeit. Ist das Glas halb leer oder halb voll?

Beinahe hätten meine negativen Gedanken übrigens dazu geführt, dass ich dieses Buch nie fertig geschrieben hätte. Als ich mit dem Schreiben anfing, war ich noch ganz optimistisch, doch irgendwann überfielen mich innere Botschaften wie: „Ein solches Buch ist eine Nummer zu groß für dich! Du brauchst es gar nicht zu schreiben, du findest eh keinen Verlag. Und wenn du einen findest, kauft keiner das Buch! Wen interessiert das schon?“ Die Folge davon war natürlich, dass ich nicht mehr kreativ arbeiten konnte. Ich schrieb einen Abschnitt und löschte ihn gleich wieder, jeder Satz, den ich zum zweiten Mal las, gefiel mir nicht mehr. Und in der Tat hatte sich nicht nur meine Bewertung der Texte geändert, sondern mein Schreibstil war langweilig und lustlos geworden. Das Schreiben machte keine Freude mehr, sondern war ein Kampf geworden. Meinen Gedanken war es gelungen, eine Wirklichkeit nach ihrem Abbild zu erschaffen. Was ich da erlebte, war die von Schriftstellern so gefürchtete Schreibblockade: Ein überkritischer Geist erstickt jede Kreativität und Lebendigkeit, der Text wird fad, das Schreiben zur Qual.

Aber was konnte ich nur tun, um wieder Freude am Schreiben zu finden, um an das Vorhaben zu glauben? Ich wusste, der einzige Weg bestand darin, mein Denken zu beruhigen und genau das anzuwenden, was ich in diesem Buch beschreibe. Es half nichts, wenn meine Freunde mir sagten: „Du schaffst das, wir glauben an dich.“ In meinem Inneren stieg sofort ein Einwand auf: „Die können das gar nicht beurteilen, von denen schreibt ja niemand“ So entschied ich mich, für einige Tage in ein Meditationszentrum zu gehen, um meinen Kopf zu entspannen. Und siehe da: Mein Geist wurde ruhiger und der Text floss wieder. In mir war es stiller geworden und Lebendigkeit und Kreativität kehrten zurück.

Ich denke, also fühle ich

Manchmal wird so getan, als seien Gedanken schlecht („Das ist ja nur im Kopf“) und Gefühle gut („Ich höre lieber auf mein Bauchgefühl“). Leider muss ich auch diese Illusion zerstören, denn sehr oft werden unsere Gefühle natürlich durch Gedanken ausgelöst. Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle und Handlungen sind untrennbar miteinander verwoben. Die Zitronenübung hat uns gezeigt, wie durch Kognitionen und Vorstellungsbilder unmittelbar und ohne unsere Entscheidung autonome Körperreaktionen ausgelöst werden. Damit gehen dann natürlich auch Gefühle einher wie Freude oder Ärger. Im Alltag ist es sehr schwer, bewusst wahrzunehmen, wie Gedanken unsere Gefühle anstoßen, weil diese Prozesse sehr schnell ablaufen.

Nehmen wir einmal an, du hast dich nach langer Zeit endlich wieder mit einem Freund zum Kino verabredet und freust dich auf den Abend. Du hast die Kinokarten schon in der Tasche und wartest jetzt vor dem Kino auf ihn. Als er nach zehn Minuten immer noch nicht da ist, wirst du langsam ungeduldig und versuchst, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er geht nicht dran. Vermutlich ist er nicht rechtzeitig aus dem Büro weggekommen. Deine Ungeduld nimmt zu: „Sicher läuft der Vorfilm schon. … Jetzt hock ich hier alleine mit den Kinokarten. Dieser Blödmann, wieso ist der nicht da? … Ich bin ja schließlich auch pünktlich. …“ Es steigt langsam Ärger in dir auf und fünf Minuten später bist du richtig sauer: „Eigentlich hab ich es schon länger gewusst, der denkt nur an sich, mit so einem verabredest du dich auch noch zum Kino? …“ Plötzlich siehst du ihn, wie er ganz langsam in Richtung Kino kommt und sein Fahrrad schiebt. Die Lust aufs Kino ist dir längst vergangen: „Na warte, ich lass mir das nicht bieten …“

Dann fallen dir plötzlich sein verbeultes Fahrrad und seine verdreckte Hose auf. Du läufst ihm entgegen und siehst schon aus der Distanz, dass es ihm gar nicht gut geht. Er erzählt, er hatte gerade einen ziemlich gefährlichen Fahrradunfall, ein Auto hatte ihm die Vorfahrt genommen, und er war nach einer Vollbremsung vornüber gestürzt. Der Autofahrer sei einfach davongefahren. Als du das hörst, nimmst du deinen Freund in die Arme und bist heilfroh, dass es ihm halbwegs gut geht. Du schämst dich für die Gefühle von eben und deine innere Stimme wendet sich nun gegen dich selbst: „Ein Glück, dass ihm nichts passiert ist. … Wie konntest du nur so schlecht über ihn denken? … Er wäre beinahe im Krankenhaus gelandet, was bist du nur für ein Freund?“ Aus Ärger ist blitzschnell Scham geworden, weil sich die inneren Gedanken- und Bewertungsprozesse verändert haben.

So weit eine beliebige Alltagssituation, von denen wir tagtäglich ähnliche erleben. Sie zeigt uns: Abhängig davon, wie wir ein Ereignis oder ein Verhalten bewerten, also was wir denken, reagieren wir auf dieselbe Situation mit völlig anderen Gefühlen und Empfindungen. Oft werden unsere Gefühle direkt durch unsere Gedanken ausgelöst, wie in diesem Beispiel. Wenn ich annehme, jemand lässt mich mit Absicht oder aus Unachtsamkeit warten, werde ich sauer. Wenn wir befürchten, dass uns Gefahr droht, bekommen wir Angst. Wenn wir uns zurückgewiesen fühlen, werden wir traurig. Weil der zeitliche Abstand zwischen unseren Gedanken und Gefühlen vielfach sehr kurz ist, haben wir subjektiv den Eindruck, unser Gefühl sei eine unmittelbare Reaktion auf die äußere Situation. Doch eigentlich aktiviert eine äußere Situation in uns einen Bewertungs- und Einordnungsprozess, und je nachdem, wie wir das Ereignis beurteilen, reagieren wir mit unterschiedlichen Gefühlen.

Vielleicht wirst du jetzt einwenden, dass Gefühle manchmal unglaublich schnell entstehen und dabei kein kognitiver Verarbeitungsprozess stattfinden kann – und genau das stimmt. Wenn es jetzt plötzlich in deiner Umgebung einen lauten Knall gibt, dann schießt sofort Adrenalin in deinen Blutkreislauf, und du drehst dich blitzschnell in jene Richtung, aus der der Knall kommt. Für Angstgedanken ist bis dahin noch gar keine Zeit, denn dein Körper reagiert autonom, also ohne dein bewusstes Zutun. In deinem Gehirn übernehmen, ähnlich wie bei Tieren, die in der Evolution früh entstandenen Hirnareale die Kontrolle über deine Handlungen und Entscheidungen, denn ein kognitiver Bewertungsprozess würde in einer Gefahrensituation viel zu lange dauern. Doch direkt nach der unmittelbaren Reaktion setzt wieder ein Bewertungsprozess ein, und je nachdem, wie der ausfällt, entwickelt sich die emotionale Reaktion. Wenn du zu dem Ergebnis kommst: „Der Lärm kommt von der Baustelle nebenan, kein Grund zur Sorge!“, dann wird die körperliche Alarmreaktion wieder abgeblasen und du sagst dir erleichtert: „Hab ich mich erschreckt!“ Die erste Reaktion ist jedoch kein Gefühl, sondern eine autonom ablaufende Körperreaktion, die wir für ein Gefühl halten.

In der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie gibt es den Ausspruch: „Du bist nicht dein Gefühl, sondern du hast ein Gefühl.“ Gemeint ist damit, dass wir im Alltag oft mit unseren Gefühlen vollkommen identifiziert sind, ähnlich wie mit unseren Gedanken. Wir haben normalerweise weder Abstand zu unseren Gedanken noch zu unseren Gefühlen. Wir lösen uns dann quasi in einem Gefühl auf und sind nur noch Angst, Ärger, Traurigkeit oder was auch immer. Eindrücklich erleben wir das, wenn wir frisch verliebt sind: Wir sind Feuer und Flamme für den anderen, denken Tag und Nacht an ihn oder sie, halten ihn für den schönsten Menschen auf der Welt und glauben, dass mit ihm oder ihr endlich das ewige Glück in unser Leben Einzug hält. Ewig in den Armen des anderen liegen, was könnte es Schöneres geben? Wir haben kein Gefühl des Verliebtseins, sondern wir gehen vollkommen darin auf.

Natürlich dürfen wir dieses schöne Gefühl ruhig in vollen Zügen auskosten. Wenn wir aber in unserem Alltag zu oft mit unseren Gefühlen völlig identifiziert sind, dann wird unser Leben anstrengend und leidvoll. Auch das kennen wir alle, wenn wir nämlich zu unseren unangenehmen Gefühlen keinerlei Abstand mehr haben. Wer ganz und gar in seine Traurigkeit versinkt, wird sich womöglich im Bett verstecken und im Leben keinen Sinn mehr sehen. Im Extremfall wird er sogar darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, denn es ist für ihn nicht vorstellbar, dass sich das Gefühl jemals wieder auflösen könnte. Es ist, als wenn wir im Winter vergessen hätten, dass bald wieder der Frühling kommt. Wer nur noch Wut ist, kann bei sich selbst und gegenüber anderen viel Schaden anrichten. Wer nur noch Angst ist, traut sich nichts mehr zu. Es geht darum, uns nicht in einem Gefühl zu verlieren, sondern unser Gefühl als das zu erleben, was es ist: Eine tiefe Empfindung, die wieder vergeht und der ein anderes Gefühl folgen wird.

Ganz ähnlich, wie wir Lieblingsgedanken haben, haben wir übrigens auch Lieblingsgefühle. Die meisten unserer Gefühle sind nicht einfach eine Reaktion auf die äußere Situation, sondern wir haben sie gelernt, sie sind konditioniert und seit der Kindheit immer wieder verfestigt worden. Meistens waren es unsere Eltern oder andere enge Bezugspersonen, von denen wir unsere typischen Gefühlsreaktionen übernommen haben. Wer eine ängstliche Mutter hatte, reagiert im späteren Leben selbst schnell mit Angst. Wer einen jähzornigen Vater hatte, hat sich vielleicht selbst schon bei einem plötzlichen Wutausbruch ertappt. Dies ist noch ein Grund mehr, auch Gefühle beobachten zu lernen und sich nicht von ihnen überrollen zu lassen. Wem ist gedient, wenn wir in Gefühlen gefangen sind, die eigentlich gar nicht uns „gehören“, sondern die von anderen Personen kopiert sind?

Unser Autopilot

Wer entscheidet eigentlich, was ich tue? Die übliche Antwort ist klar: „Natürlich ich!“ Wir erleben uns als freie Individuen, die eigenständig darüber bestimmen, wie wir uns verhalten, was uns gefällt, wen wir mögen oder womit wir uns beschäftigen. Angeblich kann ich frei entscheiden, ob ich noch eine Zigarette rauche oder nicht, ob ich in meiner Wut den anderen beleidige oder wie ich mit Verletzungen oder Enttäuschungen umgehe. Wenn wir uns selbst aber ein bisschen genauer beobachten, dann stellen wir fest, dass die meisten unserer Alltagshandlungen nicht auf Entscheidungen beruhen, sondern unbewusst und automatisiert ablaufen. Jeder Raucher weiß, wie mechanisch er zur Zigarette greift. Wir essen noch einen Riegel Schokolade, nicht weil sie uns so gut tut, sondern weil wir einem inneren Programm folgen und nicht einmal merken, wie unsere Hand uns schon wieder ein Stück Schokolade in den Mund schiebt. Erst beim letzten Stück fällt uns dann auf: „Jetzt hab ich ja die ganze Tafel gegessen, eigentlich wollte ich doch nur …“

Wenn wir uns ganz genau beobachten, stellen wir sogar fest, dass nicht nur einige, sondern fast alle unserer Handlungen automatisch ablaufen. Das gilt zunächst einmal für unsere Bewegungen und Alltagshandlungen, etwa wenn ich in einen Apfel beiße oder an den Fingernägeln kaue. Richte deine Aufmerksamkeit einen Augenblick auf dich selbst: Was tust du sonst noch, während deine Augen auf das Papier schauen? Was läuft neben deiner Haupttätigkeit ganz automatisch und unbewusst ab? Wackelst du vielleicht mit deinem Fuß? Ziehst du deine Schultern hoch? Fährst du mit der Hand durch die Haare?

Alle diese Bewegungen laufen ohne unser bewusstes Zutun ab, wir entscheiden uns nicht dafür, sondern sie werden getan. Aber auch komplexere Verhaltensweisen laufen oft unbewusst ab, etwa wie ich reagiere, wenn im Auto vor mir ein Sonntagsfahrer mit Hut unterwegs ist, der mit 50 km/h über die Landstraße schleicht. Auch in unseren Lebenszielen folgen wir oft Automatismen und Gewohnheiten. Wir werden beispielsweise innerlich angetrieben, viel zu leisten, Besitz anzuhäufen oder anderen zu gefallen. Eventuell stellen wir unser ganzes Leben in den Dienst eines solchen „Auftrags“.

Letztlich ist es natürlich auch entlastend, dass wir nicht alles selbst entscheiden müssen. Wir haben ein wunderbares Steuerprogramm in uns, das uns hilft, den Alltag zu bewältigen und mit all den vielen Tausend Reizen und Informationen zurechtzukommen. Dieses Programm übernimmt all unsere Routinehandlungen. Ich brauche eben nicht jedes Mal neu zu überlegen, wie die Kaffeemaschine funktioniert, auf welchen Knopf ich drücken muss und wo die Tasse hingehört, sondern mein inneres Steuerungsprogramm hat sich das alles längst gemerkt und übernimmt das für mich. Vermutlich 99 Prozent unserer Handlungen werden durch dieses Programm gesteuert, das wir auch unseren „Autopiloten“ nennen können. Meistens ist er hilfreich für uns, denn er spart uns viel Energie und Aufmerksamkeit. Doch es gibt auch Situationen in unserem Leben, in denen es besser wäre, wenn wir unseren Autopiloten auch mal ausschalten könnten. Piloten im Cockpit eines Flugzeugs können das. Sie entscheiden, ob sie den Autopiloten einschalten oder lieber selbst den Steuerknüppel in die Hand nehmen. Bei heikleren Manövern und auch bei Starts und Landungen steuern auch heute noch die Piloten selbst, denn es wäre viel zu gefährlich, dies dem Autopiloten zu überlassen. Ich jedenfalls würde in kein Flugzeug einsteigen, das immer vom Autopiloten geflogen würde und in dessen Cockpit sich nur noch ein Computer befände. Unser Autopilot lässt sich jedoch nicht so einfach ein- und ausschalten. Er übernimmt das Ruder, wann er will, und oft macht er auch, was er will, ohne Rücksicht darauf, ob das sinnvoll ist oder nicht. Paradoxerweise übernimmt er gerade in heiklen Situationen die Regie.

Neulich sprach ich mit einer Frau, die unter einer zerstörerischen Form von Eifersucht litt. Wenn ihr Freund sie nicht täglich mehrmals anrief, wurde sie sehr misstrauisch und befürchtete, er könne sie betrügen. Ihr innerer Dialog lief etwa so ab: „Der liegt bestimmt mit einer anderen Frau im Bett, warum sollte er sich sonst nicht bei dir melden? Neulich im Café hat er ständig nur zu den Frauen am Nachbartisch gestarrt. Du kannst dir sicher sein, dass er längst eine andere hat.“ Sie fühlte sich verlassen und ausgenutzt und geriet in innere Unruhe und heftige Wut auf ihren Freund. Aus ihren Gefühlen wurde langsam ein innerer Auftrag: „Fahr hin, du musst schauen, was er da wieder macht. Wenn du ihn erwischst, weißt du zumindest, woran du bist.“

Am Abend war es dann so weit. Sie fuhr wie getrieben zu seiner Wohnung, lief durch den Garten und sah ihn … allein im Arbeitszimmer am Computer sitzen. Beschämt schlich sie wieder zu ihrem Auto und hoffte, er habe sie nicht gesehen. Sie war glücklich, dass ihre Angst wohl unbegründet war. Zugleich aber war sie wütend auf sich selbst. Sie verstand selbst nicht, dass sie ihrem Freund schon wieder misstraut hatte. Das Schädliche an ihrem Verhalten war: Es war nicht das erste Mal, dass sie zu ihm fuhr und ihn kontrollierte. Im Laufe weniger Monate war sie bestimmt zwanzig Mal zu seiner Wohnung gerast. Und er war auch nicht ihr erster Partner, dem sie auf diese Art und Weise misstraute. Zwei Beziehungen waren bereits an ihrer Eifersucht und ihrem Kontrollbedürfnis zerbrochen.

Nun leiden wir nicht alle unter einer rasenden Eifersucht, aber jeder von uns kennt eigene Verhaltensweisen, auf die er kaum einen Einfluss zu haben scheint. Der Autopilot hat längst entschieden, wohin es gehen soll, und wir benehmen uns eher wie ein Roboter als wie ein selbstbestimmt handelnder Mensch.

In welchen Situationen ist in deinem Leben der Autopilot eingeschaltet, obwohl das vielleicht gar nicht wohltuend ist? Lass dir einen Moment Zeit, um eine Begebenheit zu finden, in der du dich leicht in einen Roboter verwandelst. Vielleicht ist es ein Ereignis aus der jüngsten Vergangenheit, vielleicht liegt es aber auch schon länger zurück oder hat sich in deinem Leben schon öfters wiederholt.


Die Reise beginnt …

Wir haben gesehen, wie dominant unser Geist oftmals ist und wie uns das davon abhält, Lebensfreude im gegenwärtigen Moment zu empfinden. Wir haben festgestellt: Nicht wir denken, sondern es denkt in uns, und wir schaffen es nicht einmal für kurze Zeit, nicht zu denken. Wir haben auch gesehen, wie eng Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen miteinander verwoben sind. Und dann mussten wir uns sogar eingestehen, dass wir häufig nicht einmal über unsere Handlungen selbst bestimmen, sondern meistens von unserem Autopiloten dirigiert werden. All das anzuerkennen und im eigenen Leben zu beobachten, ist der Anfang der Reise, auf die wir uns in diesem Buch begeben!

Am Anfang dieses Kapitels habe ich behauptet, wir alle können nicht einmal eine Minute auf unser Denken verzichten. Nun kenne ich aber eine ganze Reihe von Menschen, denen das durchaus gelingt. Wir können nämlich lernen, innere Stille zu finden und Abstand zu unseren Gedanken zu gewinnen. Zwar nicht von jetzt auf gleich und auch nicht für immer und ewig, aber doch Schritt für Schritt. Leider gibt es keine schnellen Lösungen, um unseren Geist zu beruhigen. Gäbe es sie, so würden wir sie längst nutzen, denn wir alle haben diese Sehnsucht nach innerer Stille und Entspannung und nach wirklichem Loslassen. Der Weg besteht darin, die Verrücktheit unseres Denkens zu beobachten und uns langsam davon zu distanzieren. Dann entsteht ein Raum für all das, was bisher vom Denken überlagert war. Wollen wir öfter in diesen Zustand eintauchen, dann braucht es unser entschlossenes Engagement. Ich möchte nicht sagen, wir müssen arbeiten, denn dann wird etwas in dir sofort einwenden: „Bitte nicht noch mehr Anstrengung, ich bin schon so erschöpft!“, und du klappst dieses Buch gleich wieder zu. Aber ohne Aufmerksamkeit und Wachheit geht es nicht. Nur so können wir lernen, unseren Geist mit seinen Abläufen besser zu verstehen und ihn zu meistern. Dazu reicht das bloße Lesen dieses Buches nicht aus, sondern wir müssen lernen, unsere ruhelosen Gedankenprozesse zu beobachten – und das am besten täglich in unserem Alltag. Dadurch gewinnen wir mehr und mehr Distanz und können immer öfter entscheiden, ob wir dem Gedankenstrom glauben und folgen wollen oder nicht. Um das zu erleichtern, findest du im Text Übungen und Anregungen zur Selbstreflexion. Diese Übungen bieten eine Unterstützung, um das im Text Beschriebene mit deinen eigenen Erfahrungen zu füllen. Nur dann kann es wirken und sich entfalten!

Dein Geist wird sich, während du dieses Buch liest, immer wieder einmischen. Vorgeschlagene Übungen kommentiert er gerne mit: „Das kenne ich doch schon, du brauchst dich nicht mit der Übung aufzuhalten, lies einfach weiter.“ Doch gerade das solltest du nicht tun. Nimm deine Gedanken wahr, aber werde nicht zum Autopiloten. Lass dich auf die Übung ein und entscheide dann, ob sie für dich hilfreich war.

SELBSTERFORSCHUNG

„Ich bin neugierig darauf, was mein nächster Gedanke ist.“

Diese Übung ist hilfreich, um herauszufinden, was in unserem Geist ständig vor sich geht. Wir lernen die Gewohnheiten und Inhalte unseres Geistes kennen.

Schließ deine Augen und versuche so aufmerksam wie möglich zu sein. Beobachte genau, welche Gedanken auftauchen und nimm sie bewusst wahr. Bring die größtmögliche Konzentration auf. Wenn du müde bist, kannst du diese Übung nicht machen, du hast dann nicht genug Aufmerksamkeit, um deine Gedanken wahrzunehmen. Sag dir also: „Ich bin neugierig darauf, was mein nächster Gedanke ist.“ Registriere jeden Gedanken wie ein Forscher. Bleibe nicht an dem Gedanken hängen, sondern löse dich wieder von ihm. Nimm anschließend wieder die gedankenfreie Phase wahr und sei aufmerksam, welcher Gedanke als Nächstes kommt.

Ruhe da oben!

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