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Der Reiche und der Arme

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Im vorvorigen Jahrhundert lebten zwei Brüder. Der Jüngere hatte keine Kinder, trieb viel Handel und war reich. Der Ältere war arm, seine ganze Freude waren seine beiden Söhne, Chassen und Chussain. Wenn im Sommer die Beeren reiften, pflückten sie die beiden Söhne und die Mutter verkaufte sie auf dem Basar. Davon lebte die Familie.

Eines Mittags, als sich Stille über die Natur legte, als der Schatten groß wurde und im hellen Sonnenschein schwer zu erkennen war, ob das Wasser im Fluss strömte, streiften Chassen und Chussain durchs Ufergesträuch. Plötzlich flatterte ein nie gesehener herrlicher blauer Vogel auf. Die Burschen bestaunten ihn, da erhob er sich in die Lüfte und entschwand ihren Augen. Chassen und Chussain suchten sein Nest und fanden es bald. Darin lagen weißblau gemaserte Eier. Die Jungen waren sehr hungrig und freuten sich über den Fund. Aber die Eier waren so klein, dass Chassen und Chussain dachten: Wenn wir sie essen, stillt das unseren Hunger nicht. Besser bringen wir sie unserem reichen Onkel. Also begaben sie sich geradewegs zum Onkel und fragten ihn, ob er nicht die weißblau gemaserten Eier des blauen Vogels kaufen möchte. »Wo habt ihr sie her?« fragte der Onkel. »Aus dem Brombeergebüsch«, antworteten die Brüder. Der Onkel nahm die Eier, gab Chassen und Chussain zu ihrem größten Erstaunen hundert Rubel und sprach: »Wenn ihr den blauen Vogel fangt, gebe ich euch noch zweihundert Rubel.«

Weshalb dem Onkel so viel an dem blauen Vogel lag, wussten Chassen und Chussain nicht, doch ohne lange darüber nachzudenken, nahmen sie die Fangschlingen und gingen zu der Stelle, wo sie das Vögelchen gesehen hatten. Sie fanden das Nest, stellten dort eine Fangschlinge auf und versteckten sich im Gebüsch. Bald kam das Vögelchen geflogen, schaute sich nach allen Seiten um, flatterte ins Nest und ging in die Falle. Wie sehr den Kindern der wunderbare blaue Vogel auch Leid tat, trugen sie ihn doch zum Onkel. Obwohl er sonst sehr geizig war, hielt er diesmal Wort. Anscheinend war ihm das Vögelchen sehr viel wert und er und gab Chassen und Chussain zweihundert Rubel, Zucker und Gewänder. Das alles brachten die Brüder nach Hause. Aber das Glück sollte in der Familie des Armen nicht lange währen.

Weder der Vater noch die Söhne wussten, dass der Onkel den blauen Vogel getötet und seiner Frau gegeben hatte. »Koche mir zum Abend ein Essen daraus«, sagte er. »Gib aber keinem Menschen auch nur ein winziges Stückchen von diesem Vögelchen! Hast du verstanden?« Die Frau dachte: Was für ein Essen ergibt dieses Vögelchen, wo doch der Mann einen Hammel auf einmal verschlang? Sie widersprach aber nicht, rupfte das Vögelchen, zerlegte es, warf es in den Kessel, goss Wasser darüber, stellte es aufs Feuer, ging zur Nachbarin und schwatzte sich dort fest.

Unterdessen wollten Chassen und Chussain, von Neugier getrieben, bei dem Onkel in Erfahrung bringen, was aus dem Vögelchen geworden war. Bei dem Onkel trafen sie niemand an, nur aus dem Kessel stieg dichter Dampf auf. »Kocht hier etwa unser Vögelchen?« sagte Chassen verwundert. »Vielleicht ist es das Vögelchen«, brachte Chussain nicht weniger verwundert heraus. Sie traten näher an den Kessel, hoben den Deckel an und sahen das blaue Vögelchen darin kochen. »Lass uns kosten!« schlug Chussain vor. »Gewiss, kosten wir!« willigte Chassen ein.

Sie fischten mit dem Löffel das Herz des Vögelchens heraus, teilten es zur Hälfte, aßen es auf und gingen wieder. Die Hausfrau kam, nahm einen Löffel, langte das Fleisch heraus und erbleichte: Das Herz war verschwunden! »Das setzt gewiss Schelte von meinem Mann! Warum musste ich mich auch so lange bei den Nachbarn aufhalten!« schalt sie sich. Aber Worte halfen wenig. Sie ging hinaus, fing einen Hahn, schlachtete ihn, nahm das Herz heraus, warf es in den Kessel und beruhigte sich.

Am Abend aß der Mann den köstlichen Schmaus. Nach dem Essen zwinkerte der Mann seiner Frau verschlagen zu, lächelte und sprach: »Nun, liebe Frau, der liebe Gott hat uns Glück geschenkt! Wenn wir morgen aufwachen, wird unter unserem Kopfkissen Gold liegen.« Die Frau gab darauf keine Antwort.

Am nächsten Morgen schauten sie unter das Kissen, fanden aber kein Gold. Sie schüttelten das Bett aus, doch es fiel kein Gold heraus.

Doch wie staunten Chassen und Chussain, als sie am nächsten Morgen unter ihren Kissen je einen ganzen Sack Gold fanden. Und nicht weniger staunten ihre Eltern. Chussains und Chassens Vater, der nie Gold gesehen hatte, erschrak und. rannte zu seinem Bruder, um Rat zu holen. »Oh weh, lieber Bruder, sage mir doch, was geschehen ist? Meine Kinder haben heute Morgen unter ihren Kissen je einen ganzen Sack Gold gefunden. Ist das schlecht oder gut?«

Die Augen des Kaufmanns sprühten Funken vor Neid. Er runzelte die Augenbrauen, schaute zu Boden und sprach drohend: »Um dich steht es schlecht, sehr schlecht! Böse Geister treiben ihr Spiel. Einmal sprach ich mit einem Mullah, und auf die Gnade Allahs hin sagte er: ›Der böse Geist verdirbt den Menschen! Diesen bösen Geist muss man vertreiben.‹ Nimm deine Söhne, führe sie fort und töte sie, denn sie bringen dir nur Unheil. Das Gold aber gib mir.«

Der Vater kehrte betrübt nach Hause. Er überlegte hin und her, zu guter Letzt entschied er: Töten kann ich meine Kinder nicht, ich bringe sie weit in die Steppe oder in den Wald, damit meine Augen sie nicht sehen und meine Ohren sie nicht hören. Am nächsten Morgen borgte er bei den Nachbarn ein Fuhrwerk, setzte seine Kinder darauf und sprach: »Ich bringe euch an eine beerenreiche Stelle. Am Abend hole ich euch, aber ihr müsst einen Sack voll Brombeeren pflücken.« Lange dauerte ihr Weg durch die Steppe, bis sie endlich an einen tiefen Wald gerieten. Durch die Baumstämme schimmerten dichte Büsche, und die Jungen sahen viele Beeren. »Hier bleibt und sammelt Brombeeren.« Mehr konnte der Vater nicht sagen, wandte sich um und ging weinend zu den Pferden. Als er wieder zurückgekehrt war gab er dem Onkel das Gold und glaubte, die bösen Geister vertrieben zu haben.

Chassen und Chussain sammelten einen Sack voll Beeren. Dann ruhten sie sich aus und warteten auf den Vater. Der aber kam und kam nicht. Also mussten die Brüder im Wald übernachten. Als sie am nächsten Morgen erwachten, sahen sie über ihren Köpfen wieder zwei Säcke Gold. Die Brüder rührten sie nicht an und zogen immer der Nase nach durch den Wald. Unterwegs begegneten sie einem alten Jäger hoch zu Ross. »Guten Tag, Großvater!« sagten die Brüder wie aus einem Munde. »Guten Tag, Kinder! Woher und wohin des Weges?«

»Woher wissen wir nicht, der Wald ist groß, unser Weg führt uns zum Erstbesten. Wer keine Töchter hat, dem wollen wir Töchter sein, wer keine Söhne hat, dem wollen wir Söhne sein.«

»Ich habe keine Kinder, seid meine Söhne. Willigt ihr ein?«

»Es sei so«, willigten die Jungen ein. Der Alte hob die Brüder auf das Pferd und sprach: »Reitet los, das Pferd bringt euch zu meinem Haus.« Die Brüder dankten dem alten Mann. »Großvater, dort, wo wir schliefen, liegen zwei Sack Gold«, sagten sie. Lange lebten Chassen und Chussain bei dem alten Jäger, gewöhnten sich an das Waldleben, lernten sicher schießen und wurden erfahrene tapfere Jäger. Der arme alte Jäger wurde zum reichsten Mann weit und breit.

Als die Brüder herangewachsen waren, fanden sie kein Gold mehr unter ihren Kopfkissen. Eines Tages redeten sie lange miteinander und erinnerten sich an ihr Leben. »Chussain, kennst du das alte Sprichwort«, fragte Chassen. »›Der Hund kehrt, wo er auch umher streunt, immer dorthin zurück, wo er einen Fleischknochen fand, den Menschen treibt es stets zum Ort seiner Geburt.‹ Wollen wir ausziehen und unsere Eltern suchen!«

»Was du tust, werde auch ich tun. Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen«, sagte Chussain. »Lass uns aufbrechen!« Sie gingen zu dem Alten, um Abschied zu nehmen. Die jungen Dshigiten bedauerten ihn, und er sprach: »Ich könnte euch eine Herde Vieh als Geschenk mitgeben, doch ich sehe, ihr braucht das nicht. Ich wünsche euch Glück und Segen!« Der Alte gab Chassen und Chussain zwei gute Pferde und sie preschten davon.

Einen Monat lang waren die Brüder unterwegs und kamen schließlich an eine Weggabelung. »Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Chassen. »Du reitest nach rechts, ich reite nach links.«

»So soll es sein«, antwortete Chussain. »Wo es uns auch hin verschlägt, auf dem Rückweg begegnen wir uns hier wieder.« An der Gabelung steckten sie ein Messer mit Holzgriff in die Erde. »Ob wir tot oder lebendig sind, zeigt uns das Messer«, sagte Chassen. »Stirbt einer von uns, verbrennt die seiner Richtung zugewandte Seite.«

Die Brüder nahmen Abschied und ritten in verschiedene Himmelsrichtungen. Lassen wir Chussain reiten, er nimmt seinen Weg. Jetzt soll von Chassen die Rede sein.

Als Chassen einige kleine Wäldchen hinter sich gelassen hatte und in die offene Steppe ritt, breitete sich vor ihm eine große Stadt aus.

Je näher er kam, desto mehr staunte er: Überall hingen große schwarze Fahnen und große schwarze Tücher hüllten die Häuser ein. »Warum trauert die Stadt?« fragte Chassen das erste alte Weib, das er traf. »Du scheinst nicht von hier zu sein«, sagte die Alte. »Nun, wenn du willst, sage ich es dir! Ein gefräßiger siebenköpfiger Drache treibt bei uns sein Unwesen. Jeden Tag verschlingt er ein Mädchen und einen Hasen. Heute muss der Khan dem Drachen seine Tochter zum Fraß geben.

Der Khan ließ überall verkünden: Wer den Drachen tötet und Khanschaim rettet, erhält sie zur Frau. Nur fand sich kein Tapferer in der Stadt, und der Khan befahl, überall schwarze Fahnentücher aufzuhängen.«

Chassen ritt schnurstracks zum Khan. Dieser war gerade nicht zu Hause, aber in einem Zimmer, neben den Gemächern des Herrschers, sah Chassen einen gefesselten Hasen und ein wunderschönes Mädchen. Ihre schwarzen Zöpfe glichen usbekischer Seide, ihr Blick blendete ihn wie ein Sonnenstrahl. Als Khanschaim den jungen Mann sah, zuckte sie zusammen. »Fürchte dich nicht«, beschwichtigte Chassen sie. »Ich rette dich aus den Klauen des Drachens. Wie willst du mir es danken?«

»Wenn du mich befreist, nehme ich dich zum Mann.« Chassen dachte eine Weile nach und sprach: »Ich komme von weit und bin müde. Ich will mich ausruhen. Wenn der Drache erscheint, wecke mich.«

Chassen schlief fest, als es plötzlich klopfte und lärmend die Tür aufschlug. Khanschaim erstarrte vor Entsetzen, als sie auf der Schwelle einen Drachenkopf sah, dann den zweiten, den dritten. Chassen schlief fest. Er wachte nicht einmal von dem Schrei des Mädchens auf. Der Drache näherte sich. Khanschaim beugte sich über Chassen und weinte bitterlich. Die heißen dicken Tränen fielen ihm aufs Gesicht und weckten ihn. Nun sah Chassen den Drachen vor sich. Blitzschnell zog er das schwere Schwert aus dem Gürtel, schwang es, und die sieben Köpfe des Drachen rollten. Khanschaim zog einen goldenen Ring vom Finger, gab ihn Chassen, und er verließ den Palast.

Da schaute zufällig ein Wesir zur Tür hinein. Als er sah, dass das Mädchen am Leben und der Drachen erschlagen war, wunderte er sich, erblickte aber sogleich eine gute Gelegenheit, sich bei dem Khan einzuschmeicheln. Von dem Mädchen ungesehen, eilte er fort und brachte dem Khan die überraschende frohe Nachricht. »Ich selbst habe die Schlange getötet und Khanschaim gerettet!« sagte der Wesir. »Halte dein Versprechen, Khan, gib mir Khanschaim zur Frau!«

»Es soll sein!« antwortete der Khan. Er ließ nun weiße Fahnen aushängen, die Häuser mit weißen Tüchern schmücken, damit alles Volk wusste, dass der siebenköpfige Drache getötet und die Tochter des Khans gerettet war. Dann versammelte er alle Mullahs in der Moschee, um die Hochzeit seiner Tochter mit dem Wesir zu feiern.

Chassen hörte, wie sich der Wesir mit seinem Sieg über den Drachen brüstete. Er zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte: »Der ist ein Lügner und ein Feigling! Kann er beweisen, dass er die Wahrheit spricht? Die Schlange habe ich getötet und nicht er!« Alle drehten sich zu Chassen um und betrachteten ihn aufmerksam. »Und wie willst du es beweisen?« versetzte der Wesir hochmütig. »Ich habe einen Beweis«, sagte Chassen, holte den Ring aus der Tasche und zeigte ihn den Versammelten. »Den Ring stahl er Khanschaim!« kreischte der Wesir böse. »Wenn du den Drachen getötet hast, dann kannst du ihn auch aufheben und aus dem Fenster werfen«, sagte Chassen.

Wie sehr sich der Wesir auch mühte, den Drachen aufzuheben, bewegte er ihn doch nicht vom Fleck. Chassen dagegen hob den Drachen mit Leichtigkeit auf und warf ihn aus dem Fenster in den Fluss. Als der Khan nun seine Tochter holen ließ, sagte sie beim Anblick Chassens: »Dieser junge Dshigit hat mich gerettet, und ich selbst gab ihm den Ring.« Der Khan jagte den Wesir fort, gab Chassen seine Tochter zur Frau und machte ihn zu seinem Vertrauten.

Bald wurde es Chassen langweilig in den prächtigen Gemächern des Khanpalastes, und er ritt immer öfter zur Jagd. Einmal ritt er an einem heißen Tag am Ufer eines Flusses entlang. Der Jagdhund lief neben ihm her. Unter Purpurweiden schnitzte sich Chassen eine Rute und trieb sein Pferd an. Unverhofft kam Wind auf. Es wurde kalt, dichter Schnee fiel.

Chassen suchte eine wind- und schneegeschützte Stelle, wo er sich aufwärmen konnte und sah eine einsame hohe Tanne. Mit weichem Schnee bedeckt, glich sie einem großen Zelt. Chassen stellte das Pferd und den Hund darunter ab, brach Zweige, machte Feuer und wärmte sich. Da bemerkte er auf dem Baum in den Ästen eine Alte, die dort herzzerreißend weinte, als würde der Wind heulen. »Warum weinst du?« fragte Chassen. »Frierst du? Komme herunter ans Feuer und wärme dich.«

»Ich würde ja herunter kommen, mein Sohn«, sprach die Alte, »aber ich fürchte den Hund. Gib mir deine Rute!« Chassen reichte ihr seine Rute, von deren Zauberkräften er nichts ahnte. Die Alte schwang sie über dem Pferd, über dem Hund und über Chassen, und alle drei verwandelten sich zu Stein und blieben so unter der Tanne liegen.

Kehren wir nun zu Chussain zurück. Kurz nachdem er sich von seinem Bruder getrennt hatte, wurde er Khan und lebte in einer großen Stadt. An dem Tag, als Chassen nicht mehr unter den Lebenden weilte, legte sich Trauer um Chussains Herz, und er entschloss sich, den Bruder zu suchen. Er rüstete das Pferd und machte sich auf den Weg, bis er schließlich an die Weggabelung kam. Das Messer steckte an der gleichen Stelle, die Chussain zugewandte Seite war heil, die andere Seite verbrannt. Chassen war nicht mehr am Leben. Chussain weinte und dachte: Wenn nicht den lebenden, dann suche ich den toten Bruder! Chussain gelangte in jene Stadt, in der Chassen gelebt hatte. Er wurde dort in Ehren empfangen und in den Palast geführt. Hier begegnete Chussain einer jungen Frau und erfuhr, dass sie die Frau des Bruders war. Der überschwängliche Empfang, den ihm der Wesir bereitete, der nach Chassens Tod in den Khanpalast zurückgekehrt war, weckte Chussains Argwohn. Hier stimmt etwas nicht, dachte er. Ist mein armer Bruder etwa Opfer dieses Wesirs geworden? Die ganze Nacht dachte Chussain darüber nach, und als er am Morgen von Khanschaim erfuhr, dass der Bruder bei der Jagd verschwunden war, begab er sich auf die Suche.

Ebenso wie Chassen überraschte auch Chussain das Unwetter. Die Tanne, die die Zuflucht und das Grab des Bruders wurde, bot auch Chussain Schutz. Sobald er Feuer gemacht hatte, entdeckte er in den Zweigen die Alte, und bekam ebenso wie sein Bruder Mitleid mit ihr. »Klettere herunter von dem Baum, Großmutter, und wärme dich«, sagte er. »Ich würde ja herunterklettern, mein Sohn«, sprach die Alte. »Aber ich fürchte den Hund. Warte, ich will ihm mit der Rute drohen.« Chussain schaute die Alte an, und ein Stich fuhr ihm ins Herz. Er erhob sich von dem Stein, auf dem er saß, setzte das Gewehr an und sagte: »Klettere herunter, oder ich schieße!«

Die Alte kroch, zitternd vor Angst, vom Baum und Chussain sprach zu ihr, »Ich glaube, du weißt, wo mein Bruder ist. Heraus mit der Sprache oder es kostet dich dein Leben!«

»Der Stein, auf dem du saßest, ist dein Bruder«, antwortete die Alte. »Der Wesir befahl mir, ihn herzulocken und zu töten. Erbarme dich meiner, ich gebe dir deinen Bruder zurück. Nimm die zwischen den Zweigen versteckte Rute und schwinge sie.« Gesagt, getan - und anstelle des Steins, auf dem er gesessen hatte, stand Chassen vor ihm. Groß war die Freude, als sich die Brüder nach so langer Trennung endlich in die Arme schlossen.

Lange blieb Chussain bei Chassen zu Gast, aber eines Tages sprach er: »Ich will dich an das Sprichwort erinnern, das du mir bei dem alten Jäger sagtest: ›Der Hund sucht die Stelle, wo er sich satt gefressen hat, der Mensch den Ort, an dem er geboren wurde.‹ Glaubst du nicht, dass es Zeit wäre, unsere Eltern zu suchen?«

»Obgleich du das Sprichwort nicht ganz richtig wiedergegeben hast, bin ich einverstanden. Wenn wir unsere Eltern noch lebend antreffen wollen, dürfen wir unsere Suche nicht länger aufschieben.« Gesagt, getan. Mit der erstbesten Handelskarawane zogen Chassen und Chussain los und kamen endlich an einem Festtag auf dem Basarplatz der Heimatstadt an. Hier begegneten sie ihrem Onkel, dem reichen Kaufmann. Der schritt durch die Handelsreihen, der großen Karawane mit den Waren entgegen. Seine Neffen erkannte der Onkel nicht, doch als sie sich zu erkennen gaben, schmeichelte er ihnen und hätte ihnen am liebsten die Hände geküsst. »Wo sind unser Vater und unsere Mutter?« fragten Chassen und Chussain wie aus einem Munde. »Hier, in der Stadt. Weshalb sucht ihr die Alten, die doch längst das Licht nicht mehr sehen? Ihr seid doch reich genug«, sprach der Onkel.

Chassen und Chussain fragten unter den Leuten nach ihren Eltern. Man zeigte ihnen eine alte verfallene Hütte ohne Fenster. In der Dunkelheit konnten sie nicht erkennen, wer sich in der Hütte befand. Chassen und Chussain machten Feuer und erblickten zwei blinde Alte in schmutzigen zerlumpten Sachen. »Vater! Mutter! Was ist euch widerfahren?« riefen sie. Die Mutter fing an zu weinen, als sie die vertrauten Stimmen hörte. Der Vater schwenkte bewegt und freudig die Arme und sagte: »Gibt es denn auf der Welt noch einen Menschen, der mich sucht? Sind etwa meine längst gestorbenen Söhne gekommen?«

Chassen und Chussain erzählten alles der Reihe nach: Wo sie gewohnt, was sie gesehen und wie sie schließlich zu den Eltern zurückgefunden haben. »Warum ließest du uns damals im Wald allein? Jagtest du etwa dem Golde nach?« fragte Chassen den Vater. »Warum holtest du uns damals nicht? Wir hätten ja noch mehr Gold haben können!« warf auch Chussain dem Vater vor. »Vergebt mir, meine Kinder«, sagte der Alte weinend. »Euer Onkel sagte, ich müsse ihm nach Allahs Willen das Gold geben und euch töten, weil böse Geister euch beherrschten. Die Trennung von euch trugen auch wir sehr schwer, und ihr seht, was aus uns geworden ist. Euer reicher Onkel half uns nicht aus der Not. Aber die schwerste Strafe ist, dass wir nicht sehen können!« Der Alte schwieg.

Chassen und Chussain verließen die Hütte. Sie gingen auf den Markt, suchten den Onkel und warfen ihn in einen tiefen Brunnen. Als Chassen und Chussain vom Basar zurückkehrten, kamen ihnen die Eltern entgegen. Sie konnten sich am Anblick ihrer Söhne nicht satt sehen. Da wunderten sich die Brüder, dann aber begriffen sie alles, wieder hatte der Stock seine Zauberkraft gezeigt.


Die schönsten Märchen aus Kasachstan

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