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3. Kapitel

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Kurz nach dem Verlassen der Bardenzunft hatte ich den Eingang zu meinen neuen, privaten Gemächern erreicht und gab den dortigen Wachen den Befehl, Schattenlaute einzulassen. Für meinen Gast ließ ich durch die Dienerschaft Speisen und Getränke auftischen. Elyabel und Malia wurden für den Empfang zurechtgemacht und ansprechend gekleidet. Yana blieb in ihrem Studierzimmer. Sie wollte scheinbar nicht gestört werden.

Inmitten der Vorbereitungen bemerkte ich, dass der magische Handschuh mit der darin aufbewahrten Querflöte weiter weg lag als ich ihn vorher abgelegt hatte. Hinter dem Podest einer Büste lugte eine Schwanzspitze hervor. Ich nahm einen schweren Kerzenständer auf und schlug zu. Imphraziel schrie schmerzhaft auf.

»Hände und Schwänze weg von meinem Handschuh!«, forderte ich und entriss ihm mein Eigentum. Imphraziel hielt seinen Schwanz so, dass dieser abgeknickt herabhing. Bei seinem mitleiderregenden Anblick verrauchte mein Zorn. Ich nahm das Häufchen Elend auf meine Arme und tröstete es für den ›gebrochenen‹ Schwanz.

»Kennst du jemanden namens Schattenlaute?«

»Ja.«

»Er kommt gleich zu Besuch.«

»Ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen.«

»Warum betonst du das so, Imphraziel?« Er antwortete nicht sondern zeigte lediglich zur Tür. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung und sah dort einen in schwarzem Leder gekleideten Mann stehen.

»Sie schlägt mich«, jammerte Imphraziel im verzweifelten Versuch einer Entschuldigung – für was auch immer – und verschwand.

Schattenlaute musterte mich von oben bis unten. »Eine etwas anmaßende Weise, wie du mich gerufen hast. Ich darf dich doch duzen?«

»Ich lege keinen Wert auf Formalitäten, zumindest nicht dir gegenüber. Und so sind auch meine Methoden unkonventionell. Bitte, setz dich … möchtest du etwas trinken?«

»Ja.« Er setzte sich lässig auf einen Sessel und streckte die Beine aus. Auf meinen Wink hin reichten ihm die Dienerinnen ein Glas und schenkten Wein ein. »Danke.«

»Hast du einen weiteren Namen, mit dem ich dich anreden kann?« Ich schickte die beiden jungen Frauen mit einer Geste hinaus.

»Nenn mich einfach Schattenlaute.« Er fixierte mich. »Was für ein amouröses Abenteuer sollte das werden?«

»Oh, vielleicht wird aus unserer Begegnung wirklich ein Abenteuer – das hängt davon ab, ob du mir gefällst.«

»Nein, ob du MIR gefällst«, betonte er anmaßend.

»Tatsächlich?«, gab ich pikiert zurück. »Na denn, der einzige Grund, warum ich dich zu mir gebeten habe, liegt an einem Gegenstand, den ich erhalten habe.« Ich zog den Handschuh an und schnippte mit den Fingern. Die hervorgebrachte Querflöte reichte ich Schattenlaute. »Ich möchte mehr über die Querflöte erfahren. Sind dir Geschichten über sie bekannt? Oder Lieder?«

»Ich weiß, was es ist – darf ich?« Er setzte auf mein Nicken hin das Instrument an seine Lippen und spielte einen einzelnen Ton. Eine schattenhafte Ranke löste sich kurz aus dem Holz. Ich war neidisch.

»Was weißt du über die Flöte?«

»Diese Information hat ihren Preis.«

»Ich biete ein amouröses Abenteuer.«

Er winkte ab. »Das bekomme ich an jeder Ecke.«

»Von derlei Abenteuern spreche ich nicht.« Mit weicher, verführerischer Stimme verlieh ich meinem Angebot Nachdruck. »Ich rede von einem Abenteuer, was dem Gegenstand in seiner Einzigartigkeit entspricht.«

»Du überschätzt dich.«

»Wenn du das so siehst«, vermerkte ich unterkühlt, »dann nenne mir deine Forderung.«

»Du wirst mir einen Sohn schenken. Zu einem Zeitpunkt, den ich noch bestimmen werde.«

Ich prustete, aufgebracht und amüsiert zugleich. »So, so, DU willst einen Sohn.« Es war eine Feststellung.

»Ich werde alt – sieht man das nicht?« Spott lag in seiner Stimme.

»Zu deinem Glück nicht.«

»Sag: Ich verspreche es dir, Schattenlaute.«

»Ich kann nur versprechen, was auch in meiner Macht liegt. Und für das Geschlecht des Kindes ist der Samengeber verantwortlich, nicht meine Fruchtbarkeit. Ich bin fähig, ein Kind zu gebären. Bist du fähig, einen Sohn zu zeugen?«

»Oh, deine Fruchtbarkeit weiß sehr wohl das Geschlecht zu beeinflussen. Ich erwarte Offenheit von dir, den rechten Samen lass dann meine Sorge sein. Also, ich höre?«

Gefesselt vom Anblick der Querflöte in den Händen dieses mysteriösen Mannes blitzten Gedankenbilder durch meinen Kopf. Das Flüstern des Frühlingswindes. Irgendwie …

Zwinkernd vertrieb ich ein pochendes Ziehen in meinen Schläfen. Bevor ich antwortete, wog ich den Handel ab.

Was immer sich Schattenlaute von einem Kind mit mir versprach, der gemeinsame Nachwuchs konnte für mich sogar von Vorteil sein. Der Barde verfügte über Einfluss und Wissen – und er war nicht unansehnlich, wenngleich narzisstisch und anmaßend. Und ich wünschte mir ein Kind – warum nicht mit ihm? Erneut erwischte ich mich dabei, wie meine Hand über den Bauch fuhr, wo einst eine Frucht reifte … meine Entscheidung war gefallen.

»Ich verspreche es dir, Schattenlaute.«

»Alle Hintertüren ausgenommen«, forderte er.

»Selbstverständlich«, bekräftigte ich und hob wegen seines Misstrauens beleidigt mein Kinn.

»Gut«, er sah auf die Querflöte und drehte sie in seinen Händen. »Das ist das Instrument des Tashna’kam. Die Legenden besagen, er habe es weggeworfen, als er die Feenwälder verließ und sich hinab in den Abyss begab.«

»Tashna’kam stammt aus den Feenwäldern?«

»Natürlich, von den dort lebenden Nachtfaunen.«

»Ich bin nicht so bewandert in den Feenwäldern und deren Einwohnern.«

»Tashna’kam ist der König der Satyrn, auch als Nachtfaun bekannt. Er wird auch König der Faune genannt. Tashna’kam ist das erste Geschöpf seiner Art, der Ursprung. Er ist mit einem niederen Gott vergleichbar. Und er ist – oder besser: er war – der Gemahl der Nymphenkönigin.«

»Warum hat er den Gegenstand nicht mitgenommen, als er die Feenwälder verließ?«

»Man sagt, er habe ihn fortgeworfen. Ein Grund wird nicht genannt. Aber dem Instrument werden große visionäre Fähigkeiten nachgesagt. Es soll in Verbindung mit der Nacht stehen.«

»Ich habe sie zu Fuße einer Statue des Tashna’kam gefunden.«

»Und wer hat sie abgelegt?«

»Der Erschaffer«, schlussfolgerte ich überzeugt.

»Dann sind die Geschichten doch nicht ganz wahr.«

»War Tashna’kam denn der Erschaffer?«

»Ja.«

»So wie es für mich aussieht wollte Tashna’kam, dass ich die Flöte finde.«

»Das mag sein. Diese Beweggründe kann ich selbstverständlich nicht abschätzen.«

»Kannst du mir beibringen, die Flöte zu spielen? Ich meine, so zu spielen, dass ich die ihr innewohnenden Fähigkeiten freisetze?«

»Nein. Die Fähigkeiten vermag ich nur freizusetzen, wenn ich die Flöte selbst spiele. Zauberhafte Musik ist die Kunst der Barden. Deine Fähigkeiten sind da eher mittelmäßig.« Nicht nur seine Worte waren für mich beleidigend, auch wie er sie sprach. Hochnäsiger Schnösel, dachte ich bei mir, verkniff mir aber eine Bemerkung. Die Neugier über die Querflöte war größer als mein Zorn.

»Auch ohne Bardenkunst kann doch ein Träger Visionen haben, oder nicht?«

»Das ist durchaus möglich. Dafür müsste der Träger, also du, sie ab und an spielen. Aber du erzeugst eher durch Zufall eine Vision. Seit diesen Tagen in den Feenwäldern ist auch viel Zeit ins Land gegangen. Viele Jahrtausende sind vergangen und im Abyss ist vieles im Wandel. Die ehemalige Herrin ist nicht mehr, aber das weißt du sicherlich. Welches Ränkespiel dahintersteckt, vermag ich nicht zu bewerten.«

»Jedenfalls muss es einen wichtigen Grund für das Verlassen der Nymphenkönigin gegeben haben.«

»Er wurde von der Dona’Donai verführt.«

»Aber sie ist nicht mehr. Warum kehrte er nicht zurück?«

»Ich weiß nicht«, er zuckte mit den Schultern und schürzte seine Lippen. »Ich war zu jener Zeit sehr jung«, ich horchte auf, denn damit bekannte sich Schattenlaute zu seinem wahren Alter, das demzufolge Jahrtausende umfasste. Ich gab ihm keinen Hinweis auf meine Erkenntnis und hörte ihm aufmerksam zu. »Die Welt ist bereit für einen Wandel. Er hat bereits begonnen, doch die Ereignisse befinden sich im Fluss und ihr Ziel bleibt sicher noch für Jahre ungewiss.«

»Genau der richtige Anlass für Visionen. Ich schlage vor, du spielst die Flöte.«

»Die Flöte? Nein, ich werde meine Laute für dich spielen«, sagte Schattenlaute und löste sein Instrument vom Rücken. Dann stimmte er ein Lied an.

Tosend stürmt der Donnerhall

blutgetränkt strahlt das Abendrot

die Trommel schlägt mit lautem Knall

des Feuers Rauch entströmt dem Schlot.

Kehlen grölen laute Lieder

Im Rausch die Leiber eng umschlungen

Lusthauch schallt von Wänden wider

das sündig Fleisch tief eingedrungen.

Im Dunkeln ruft der Fürst zur Balz

leckt seiner Liebsten ab das Salz.

Das Fackellicht verzerrt die Schatten

wirft Fratzen auf verschwitzte Haut

wird Licht durch Dunkelheit verraten

ertönt orgastisch heißer Laut.

Siehe, die Dunkelheit tritt ins Licht

zeigt sich stolz und königlich

fühle, die Macht wie sie zerbricht

durch letzten tödlichen Stich.

Im Dunkeln ruft der Fürst zur Balz

leckt seiner Liebsten ab das Salz.

Schatten dringt in fleischig Leib

begattet so sein göttlich Weib

löst das Band von ihrem Hals

leckt seiner Liebsten ab das Salz.

Im Dunkeln ruft der Fürst zur Balz

leckt seiner Liebsten ab das Salz.

Als ich – von der Melodie gefangen – wieder aufblickte, war ich allein. Nachdenklich drehte ich die Flöte in meinen Händen. Ich musste ihr Geheimnis entlocken. Ich musste sie so spielen, wie Schattenlaute es vermochte. Und der unbekannte Flötist.

Ich holte mir das Bild vor Augen, wie mein Gast dem Instrument einen einzelnen Ton entlockte. Geradezu zärtlich führte ich das Mundstück an meine Lippen. Meine Finger legten sich sanft über Öffnungen, ließen einige unberührt, und ich sammelte meinen Atem. Die Luft entwich meinen Lungen, verließ meine Kehle und strömte durch den schlanken Klangkörper.

Ein Ton, klar und ohne Fehl.

Weitere Töne folgten, bildeten eine Melodie. Ich spielte mich in den Zauber hinein. Kleine Ranken lösten sich, noch zart und zerbrechlich, aber willens, aus dem Holz hinauszuwachsen.

Die Freude über den Erfolg brach meine Konzentration und die Schattengebilde verschwanden augenblicklich. Erschrocken setzte ich das Spiel fort, doch die Reinheit war dahin. Keine noch so kleine Ranke zeigte sich. Meine Kehle war trocken, mein Atem rau. Ich gönnte mir eine Pause und trank den Wein aus.

Auf den Gängen hörte ich schwere Schritte. Zwei Wächter des Palastes traten ein und postierten sich beiderseits der Türe. Sie setzten ihre Breitschwerter mit der Spitze auf den Boden und nahmen Haltung an.

»Was soll dieser Tumult? Was geht hier vor?«, verlangte ich schroff.

»Die Wachen wurden verstärkt, Eure königliche Hoheit«, berichtete ein Wächter. »Ich habe keine weitere Weisung erhalten und möchte keine falsche Aussage treffen.«

»Muss ich mich auf einen Angriff vorbereiten?«

»Wir sind zu Eurem Schutz abgeordnet, Prinzessin Crish.«

Ich zweifelte nicht an der Kampfkraft der Wächter, wusste mich jedoch selbst gut zu verteidigen. Wenn Luzius, und nur von ihm konnten die Weisungen stammen, zusätzlichen Schutz für nötig befand, musste etwas Bedenkliches vorgefallen sein. Mit telepathischer Kraft sandte ich ihm meine besorgte Frage: ›Was ist passiert?‹

›Ein Mord hat sich ereignet, Crish. In meinem Anwesen und an jemanden, den du kennst – die Sternendeuterin.‹

›Die Sterndeuterin?‹, wiederholte ich überrascht. ›Wann hat sich der Mord zugetragen?‹

›Den genauen Zeitpunkt kenne ich nicht. Noch nicht. Aber als ich aufgewacht bin, lag sie tot neben mir.‹

›Gab es Anzeichen von Gewaltanwendung?‹

›Sie ist erstochen worden. Offenbar während ich schlief. Aber etwas anderes beunruhigt mich: Ihre Seele gehört mir, aber sie ist nicht da.‹

›Dann tippe ich auf die Benutzung eines Seelenräubers. Ein Seelengefäß, eingebunden in die Mordwaffe?‹

›Ja, vermutlich. Auf diese Weise kann sie nicht wiederbelebt werden. Der Angreifer ist sehr geschickt gewesen.‹

›Er musste einen Grund haben, ihre Seele zu rauben.‹

›Ja, und er musste ebenfalls einen Grund haben, mich nicht bei der Gelegenheit zu töten.‹

›Ich wollte es nicht aussprechen, Luzius.‹

›Vielleicht hat er mich nicht auf diese Weise getötet, weil das nicht bei uns funktioniert, nicht wahr?‹ Damit spielte Luzius darauf an, dass Dämonen keine Seele auf der Materiellen Ebene besaßen. Freilich hatte ihr Tod ebenfalls Folgen: Verbannung auf die Heimatebene.

›Aber er hätte dich wegschicken können. Das führt mich zu der Schlussfolgerung: du nützt ihm hier mehr als im Abyss.‹

›Vielleicht.‹

›Ich habe eine Vermutung – Tashna’kam.‹

›Nein, Schwester. Ich hätte gemerkt, wenn sich hier ein Dämonenlord aufhält. Wie kommst du darauf?‹

›Ich habe seine Flöte gefunden. In deinem Garten.‹

Einen Sekundenbruchteil später hatte sich Luzius neben mich teleportiert. Er funkelte mich aufgebracht an.

»Du hast noch geschlafen«, rechtfertigte ich mich. Seine Augen wurden zu Schlitzen. Ich hielt die Querflöte hoch und lächelte ihn entschuldigend an. Mein einziger Wunsch war, dass er mir den Fund nicht wegnahm. Zunächst sagte er nichts und starrte mich so sehr in den Boden, dass ich das Gefühl hatte, immer kleiner zu werden. Dann wechselte sein Blick kurz auf das Instrument und mein Bruder wirkte nachdenklich auf mich.

»Ein sehr mächtiger Gegenstand, den du gefunden hast, Crish. Aber vielleicht hast du mit Tashna’kam Recht. Wenn er nicht gesehen werden will, wird er nicht gesehen. Dennoch – es ist nicht so einfach für einen Dämonenlord, die Welt zu betreten. Geschweige denn, einen so mächtigen Dämonen zu beschwören. Wenn das so einfach wäre, hätten wir hier nichts mehr zu tun.«

Bei der Vorstellung von Kräften, die ein Lord des Abyss entfalten konnte, kam mir ein Gedanke.

»Das erinnert mich an einen Vorfall in der Schwesternschaft der Nacht, der vielleicht durch die Anwesenheit von Tashna’kam zu erklären ist. Jedoch wäre er dann schon länger hier auf der Materiellen Ebene. Ich habe dir noch nicht davon erzählen können. Es ereignete sich während meines Besuches der Ordensgemeinschaft. Bei dem Vorfall war absolute Dunkelheit und übernatürliche Lust im Spiel. Und ich habe eine Präsenz gespürt, die alles bisher erlebte übertraf.«

»Wir müssen das überprüfen. Wenn Tashna’kam hier ist, kann er nicht im Abyss sein, richtig?«

»Richtig. Außer, er kann zwischen den Welten hin und her wechseln – doch das ist nicht möglich.«

»Richtig.« Luzius machte einen Schritt zur Seite und schnappte sich den im Vorhang versteckten Imphraziel. Er quiekte, während Luzius ihn vom Stoff abstreifte und ihn mit der Hand am Hals festhielt.

»Du bekommst etwas zu tun, Imphraziel«, betonte mein Bruder amüsiert und befehlend zugleich. »Du wirst in den Abyss reisen und nachsehen, ob Tashna’kam dort ist.«

»Moment mal! Man kann nicht so einfach in den Abyss reisen.«

»Richtig«, konstatierte Luzius und brach Imphraziel das Genick. Die dämonische Essenz verlor den Halt in der Materiellen Ebene, löste sich auf und wechselte durch den Ätherraum zurück in ihre Heimat.

»Es ist nicht leicht, ein Imp zu sein«, schmunzelte ich.

»Nein, meistens nicht. Ich werde ihn morgen wieder beschwören. Denn ich muss ihn wieder freigeben, nicht wahr?«

»Ja, das musst du wohl. Ich brauche ihn für den Chaostrank«, leider, fügte ich in Gedanken hinzu.

Luzius schnupperte.

»Wonach riecht es hier?«

»Schattenlaute war da.«

»Und? Was hat er erzählt, Schwesterchen?«

»Wir haben über Tashna’kam gesprochen – in Zusammenhang mit der Querflöte. Auch dessen Verlassen der Feenwälder im Zeitalter des Magierkrieges hat er erwähnt. Und dann hat er mir ein Lied gesungen.« Ich sang die Strophen für meinen Bruder. »Dieses Lied hat mir Schattenlaute mit auf den Weg gegeben.«

»Das kann alles und nichts bedeuten. Wir werden abwarten müssen, was Imphraziel zu sagen hat.«

»Das fürchte ich auch. In der Hoffnung, einen Hinweis zu bekommen, habe ich versucht, die Flöte zu spielen. Bislang leider ohne nennenswerten Erfolg.«

»Gut, versuche es weiterhin. Ich werde mich in meine Gemächer zurückziehen. Sei vorsichtig, Schwesterchen.«

»Das werde ich sein. Soll ich dabei sein, wenn du Imphraziel beschwörst?«

»Ja, ich werde zu dir kommen, wenn ich ihn rufe.«

»Pass du auch auf dich auf.«

»Das werde ich. Einen Tag werde ich Imphraziel geben. Morgen um diese Zeit werde ich ihn zurückrufen.«

»Dann sehen wir uns spätestens morgen um die gleiche Zeit, Luzius.«

Luzius teleportierte und ich versetzte meinen Blick in das Studierzimmer. Zu meiner Beruhigung fand ich Yana lebend vor. Sie untersuchte die arkane Matrix des Kristalls. Zumindest deutete ich die Zeichnungen und Gesten von ihr so. Eine Tempelwache befand sich bei ihr.

Wie versprochen beschäftigte ich mich wieder mit der Flöte. Niemand, so meine Anweisung, durfte mich stören. Die Stunden verstrichen erfolglos. Erst nach dem Abendessen vermochte ich, erneut eine schattenhafte Ranke aus dem Holz zu lösen. Doch die zarte Pflanze verblasste wieder.

Die Nacht brach an. Hatte Schattenlaute nicht erwähnt, dass die Querflöte in Verbindung mit der Nacht stand? Ich bekämpfte meine innere Anspannung, das Kribbeln in meinen Fingerspitzen konnte ich aber nicht unterdrücken. Als sich gleich mehrere Ranken lösten und sich auf die Umgebung ausstreckten, hatte ich Mühe, nicht staunend den Atem anzuhalten. Die schattenhaften Gebilde flossen ineinander und formten einen Würfel mit mir im Zentrum. Ich spürte einen Sog auf meinen Lungen, als verlangte der Zauber mehr Kraft. Mir ging jedoch die Puste aus, woraufhin die sich schließenden Wände aus Dunkelheit verblassten.

Der folgende Tag verlief nicht besser und als Luzius wieder erschien, war ich genervt, da ich die Magie der Flöte nicht entfesseln konnte.

»Schwesterherz«, tröstete Luzius mitfühlend, »du siehst ja gar nicht gut aus.«

»Die Flöte ist schuld. Tag und Nacht übe ich bereits, und bei dem ersten nennenswerten Erfolg habe ich keine Kraft mehr. Das ist so deprimierend für mich, Luzius.«

Mein Bruder nahm mich in den Arm und schenkte mir mit seiner Anteilnahme neuen Mut. Dankbar für seine Wärme sah ich zu ihm auf.

»Und welche Neuigkeiten hast du?«

»Laana hat alles abgesucht und keine Spuren vom Täter gefunden. Und wenn sie das sagt, ist das gefährlich. Außerdem sagte sie, die Verletzung stamme von einem Meuchelwerkzeug.«

»Wo du Laana erwähnst: Ich habe mir Gedanken über unsere Halbschwester gemacht. Weißt du, wann sie geboren wurde? Mich interessiert insbesondere, ob sie vor oder nach dem Magierkrieg geboren wurde.«

»Laana als Tochter der Nymphenkönigin und Arkhmandeo wurde vor dem Magierkrieg geboren. Ihre Zeugung fand vor dem Fall des Nachtfaunes statt und war wohl ein Werkzeug eben diesen Falls und einer der Hauptgründe für den Hass, der zwischen Tashna’kam und Arkhmandeo herrscht. Dieser Vorfall spaltete das Feenreich und brachte ihr gewaltiges Königreich zu Fall. Letztlich trieb der Vorfall Tashna’kam in die Arme der Scharlachroten Königin.«

»Und im Hintergrund hat die Dona’Donai ihre Fäden gezogen, bevor sie selbst gestürzt wurde.«

»Die ungeteilte Macht der Herrin wurde zu ihrem eigenen Verhängnis. So lauten die Überlieferungen. Aber das ist lange her. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, unseren Kundschafter dem Abyss zu entreißen. Ich sehe gar keinen Beschwörungskreis?«

»Oh, den habe ich vergessen.«

»Na ja, brauchen wir den überhaupt hierbei? Nein.« Luzius beschrieb mit seinen Händen einen Kreis in der Luft und befahl mit drängender Stimme: »Imphraziel, erscheine!«

Die Luft flimmerte, ein Lufthauch waberte durch das Zimmer. Kerzen flackerten und ich hatte den Geschmack knusprigen Grillfleisches im Mund. Dann erschien eine kleine Gestalt mit Flügeln an der Stelle, die Luzius zuvor umrissen hatte, und plumpste hinab auf den Boden. Es war Imphraziel und er hatte den Mund noch geöffnet, um in etwas hineinzubeißen. Verdutzt sah er zu uns hinauf.

»Und?«, fragte ich.

»Topomok!«, fluchte Imphraziel. »Er ist da. Untrüglich.« Er streckte seine Flügel aus. »Und ich bin wieder weg. Dabei sah der Zwergenschenkel wirklich lecker aus.«

»Nun denn«, folgerte ich an Luzius gewandt, »damit können wir eine Möglichkeit ausschließen. Was die Lösung des Rätsels noch schlimmer macht.«

»Oh, mein Hals«, quäkte Imphraziel und rieb sich in Erinnerung an den Handgriff meines Bruders den Nacken.

»Ja, ist gut, komm her.« Luzius hob ihn vom Boden auf. Wie ein kleines Kind schlang der Imp die kurzen Arme um meinen Bruder und ließ sich tätscheln

»Wenn nicht Tashna’kam«, führte ich meine Gedanken fort, »wer dann? Kennst du einen Zauber, um einen Blick in die Vergangenheit zu werfen?«

»Puh. Du kannst ja mal versuchen, eine Gottheit anzubeten, Crish.«

»Verteufelt! Wenn sie einfach nur tot wäre, könnten wir sie fragen. Aber ohne Seele …«

»Keine Wiederbelebung. Keine Antworten. Da war ein wahrer Profi am Werk.« Luzius wurde nachdenklich. Dann hatte er seinen Entschluss gefällt und sagte: »Das ist nicht zufällig geschehen. Kein Profi handelt ohne eine bestimmte Absicht und ohne einen Auftrag. Das Ziel war die Seele der Sterndeuterin, kein Zweifel. Ich werde dem Mordfall nachgehen. Du wirst dich um die Flöte kümmern.«

»Ich werde sie zum Spielen bringen!«

»Das wirst du, Schwesterherz. Das wirst du. Informiere mich, sobald du Erfolg hattest.« Luzius ging und nahm Imphraziel auf seinen Armen mit.

Bevor ich das Flötenspiel fortsetze brauchte ich eine Erfrischung. Ich ging in das Badezimmer, rief meine beiden Sklavinnen herbei und gönnte mir eine ausgiebige Massage. Dazu trank ich Fruchtsäfte. Gestärkt widmete ich mich wieder der Querflöte. Im Salon entzündete ich Räucherstäbchen und setzte mich mit untergeschlagenen Beinen auf die gepolsterte Couch. Ich wollte allein sein.

Schon nach einer kurzen Tonfolge konnte ich dem Instrument so klare Laute entlocken, dass sich gleich mehrere Ranken lösten. Sie dehnten sich aus und waren bald so lang wie meine Beine. Ich spürte die Dunkelheit. Die Luft wurde merklich kühler. Kerzen, die in Berührung mit den Schattengebilden kamen, erloschen. Schon bald umgab mich dichtes Rankenwerk. Eine dunkle Energie durchflutete mich, füllte mich. Die Dunkelheit war in mir. Die Schattenranken krochen über den Boden und wuchsen dann imaginäre Wände hinauf. Sie bildeten einen Raum aus Schattenwänden. Alles Licht erlosch.

Schwärze.

Stille.

Etwas versuchte, in meine Gedanken einzudringen. Meine Gegenwehr oder die unbekannte Kraft machte mich müde. Ich riss die Augen aber wieder auf … und sah.

In der Dunkelheit zeichnete sich ein Korridor ab und ich nahm eine schwarze, in Roben gehüllte Gestalt wahr. Ich blickte auf ihren Rücken. Mit geschmeidigen Bewegungen ging sie den Gang entlang. Sie zog einen Dolch aus dem Gewand und hielt ihn zur Seite. Dann stoppte sie vor einer Türe und öffnete sie behutsam. Die Tür führte in meine Gemächer. Ich sah mich selbst von hinten. Die Gestalt kam näher. Eine schwarz behandschuhte Hand streckte sich nach mir aus. Ich bemerkte sie nicht.

Ich spürte eine Hand an meinem Hals und wurde mit dem Kopf zurückgerissen. Gleichzeitig bohrte sich ein Dolch von hinten direkt in mein Herz. Etwas riss an mir und meine Essenz begann zu schwinden.

Schwärze umgab mich. Schmerz durchdrang mich. Ich trieb im Nichts.

Vereinzelt zeigten sich Sterne. Sie bildeten ein Firmament, in dem das Gestirn des Arkanen Triumvirats hell aufleuchtete. Der Stern des Chaosmagiers strahlte am stärksten. Im nächsten Moment pressten sich Lippen auf meine Lippen. Sie waren sanft und weich, ihre Berührung zärtlich. Ein Kuss, dem ich mich ganz hingab, und der so zuckersüß schmeckte, wie ich noch nie zuvor einen Kuss genossen hatte. Der Kuss nahm den Schmerz und füllte mich mit Wärme. Er hob mich empor. Ich folgte ihm willig und dankbar.

Ich sah die Schlüsseltätowierung auf dem Arm von Morrigaine, einer Magierin der Schwesternschaft der Nacht. Der verblasste Schlüssel füllte sich mit Farbe. Die arkane Meisterin stand vor einem gewaltigen, reich verzierten Tor und breitete ihre Arme aus. Die Flügeltüren öffneten sich. Die Silhouette einer Person zeichnete sich dahinter ab und trat hervor.

Übergangslos wurde ich Zeuge, wie im Scharlachroten Tempel der gewaltige Koloss in sich zusammenfiel. Ich spürte ein Knistern. Dann breitete sich eine von grünen Linien durchzogene, schwarze Dunkelheit von dem zerfallenen Koloss aus und verschlang die ganze Stadt. Schreie. Nur wenige Gebäude am Rand der Metropole blieben erhalten. Das Nichts hatte sie sauber von dem, was einst war, durchtrennt.

Sogleich sah ich wieder den Scharlachroten Tempel mit dem aufrecht stehenden Koloss, alles unversehrt. Mein Blick schweifte über das Land. Ich flog dahin und näherte mich der Labyrinthstadt. Ein triumphales Brüllen erschütterte mich. Mein Blick wanderte weiter. Die Stadt schien sich zu bewegen und schlängelte sich über Grund und Boden. Sie floss auf den Scharlachroten Tempel zu und bildete einen gewaltigen Irrgarten um die Metropole.

Die Vision begann zu verblassen. Bilder wechselten sich in schneller Folge ab. Ich sah noch einige Personen, die ich kannte, aber nicht mehr deren Schicksale. Der letzte Eindruck war der Geschmack des Kusses auf meinen Lippen. Ohne Zweifel weiblich, die Frau war mir jedoch nicht bekannt.

Zitternd sank ich auf meine Knie und küsste die Unbekannte weiterhin. Dann wurde ich gewahr, wie ich verdutzt die Flöte in meiner Hand anstarrte.

»Was war das?«, fragte ich laut und sah mich im Raum um. Ich war allein.

Mein erster Gedanke galt Luzius und ich erreichte ihn mit meinen telepathischen Kräften. ›Luzius, ich habe die Kraft der Querflöte entfesselt und in einer Vision gesehen, wie die Schlüssel das Tor geöffnet haben, von dem du gesprochen hast.‹

›Was befand sich dahinter?‹

›Leider konnte ich nur eine Silhouette ausmachen, keine Details, die auf das Wesen der Person schließen lassen. Aber das war nicht der Einzige Eindruck, den ich gewonnen habe. Luzius, ich habe gesehen, wie ich getötet wurde! Heimlich und Hinterrücks. Und das habe ich auch so real gespürt, dass mir noch immer der kalte Schweiß den Rücken runterläuft.‹

›Ich spüre deine Sorge, Schwesterherz. Was hast du noch gesehen?‹

›Da war ein Firmament aus unzähligen Sternen. Ich glaubte, das arkane Triumvirat darin wiederzuerkennen … und ich schmeckte einen unbeschreiblich wohligen Kuss …‹

›Wann … vor oder nach deinem Tod?‹

›Nach meinem Tod. Der Kuss hat mich wieder zum Leben erweckt.‹

›Wenn ich die Eigenheiten von Visionen betrachte, hat dich der Kuss und die damit verbundene Person wohl eher vor dem Tode bewahrt.‹

›Hm, das mag sein. Aber dann kenne ich die Retterin noch nicht, denn diese Lippen hätte ich bestimmt nicht vergessen. Da waren aber noch mehr Eindrücke, Luzius. Der Scharlachrote Tempel wurde von einem schwarzen Nichts verschlungen. In einer anderen Vision habe ich eine weitere Zukunft des Tempels gesehen, wo er von der sich bewegenden Labyrinthstadt umgeben wird. Das ist alles noch sehr verwirrend für mich. Die Eindrücke waren sehr wirklich, als hätten sie bereits stattgefunden. Bist du sicher, Bruder, dass ich das Tor öffnen soll? Woher hast du das?‹

›Wovon ich das habe?‹ Ich konnte sein Schnauben beinahe hören. ›Von unserem Herren und Meister! Und ich rate dir, mit niemanden darüber zu sprechen.‹

›Ich wüsste niemanden, mit dem ich darüber sprechen sollte, außer mit dir, Luzius. Und selbst wenn ich jemanden wüsste, würde ich diesem nichts anvertrauen.‹

›Das ist auch besser so. Und wie deutest du das, was du in den Visionen gesehen hast, Schwesterchen?‹

›Vier Aussagen sind für mich erkennbar. Erstens: Vor dem Tod durch den Chaosmagier kann mich nur eine noch nicht bekannte Frau bewahren. Zweitens: Der zweite Schlüssel öffnet ein prunkvolles Tor und jemand ist dahinter. Drittens: Zu einer nicht bestimmten Zeit oder Gegebenheit fällt der Koloss in sich zusammen und der Scharlachrote Tempel wird verschlungen. Und viertens: Die Labyrinthstadt legt sich um den Tempel zu einer Zeit, wo der Koloss noch steht.‹ Jetzt hatte ich Antworten auf Fragen, die ich noch nicht kannte. Befriedigend oder besser als die fehlenden Antworten auf meine Fragen war diese Erkenntnis nicht.

Zudem machte mir die Vision deutlich, dass Morrigaine nicht nur ein Schlüssel war, sondern sie in sich beide Schlüssel trug. Dafür musste ihre Tätowierung vervollständigt werden. Die Hautmalerei beherrschte ich durch das Anbringen der psionischen Tätowierungen – somit war ich selbst sozusagen der zweite Schlüssel. Leider wusste ich nach wie vor nicht, wo sich das Tor befand, welches durch Morrigaine geöffnet werden konnte.

Und noch viel weniger wusste ich, wer sich hinter dem Portal verbarg.

Erwachen

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