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Eine Kritik an der Kritik der Sprachkritik

Wir alle wissen: Worte können Waffen sein. Manchmal jedoch sind Worte nur ein Fingerzeig. Und oft genug sind sie die Finger, die nicht nur, wie es im Floskeldeutsch heißt, in die Wunde gelegt werden, sondern ganz penetrant hineingebohrt. Wenn der »Sinn« nur noch »gemacht« wird, wenn alles »zeitgleich« und nichts mehr »gleichzeitig« geschieht, wenn Bankangestellte Mundwerke haben wie Gangsterrapper.

Im deutschsprachigen Raum wurde sprachlicher Schönheit schon mal größeres Augenmerk zuteil als heute, und das ist gar nicht so schrecklich lange her. Anfang des 21. Jahrhunderts, nach Jahren der Verwahrlosung durch die sogenannte Spaßgesellschaft der 1990er-Jahre, galt es plötzlich als schick, sich anständig auszudrücken. Überall schauten und hauten süffisante Sprachkolumnisten dem Volk aufs Maul, und das Volk rief: »Mehr! Mehr!« Es gab kaum eine Zeitung oder Zeitschrift, die sich nicht einen schadenfrohen Besserwisser leistete, der Fehlleistungen in Dativbildung, Apostrophsetzung oder gutdeutscher Sprachreinheit genüsslich anprangerte. »Sprachpolizist« war keine Beleidigung, sondern eine Auszeichnung. Eine Art Kosename gar. Sprachpolizisten und Sprachpolitessen suchten und fanden einander, gingen fortan Hand in Hand durchs Leben, glücklich in der Gewissheit, viel besser Deutsch zu können als der gemeine Pöbel. Man schlenderte durch die Fußgängerzonen der Provinz, knipste Fotos von Schildern mit sogenannten Deppenapostrophen, klebte sie daheim ins Deppenapostrophenfotoalbum, lachte sich schlapp und fühlte sich herrlich überlegen.

Dabei übersah die Polizei, dass das Leben kein Schuldiktat ist und Sprache mehr als bloße Bürokratie, in der es nur Nullen und Einsen, richtig oder falsch gibt. So kam es bald, wie es kommen musste, und es kam die Gegenbewegung. Die neue Strenge in der Sprachkritik wich einem neueren Laisser-faire (auf gut Deutsch gesagt). Sprachpolizisten wurden zu Sprachnazis degradiert, und Nazis sind nicht gut, so viel weiß man. Der aktuelle Trend in der Sprachkritik ist eine Kritik an der Sprachkritik. Denn Sprache sei halt etwas Lebendiges, so wird argumentiert. Etwas, das wächst, gedeiht und sich verändert. Dieser Umstand sei nicht schlimm, sondern evolutionäre Normalität. Sogar das ROFL-OMG-WTF-YOLO-Gebrabbel der modernen Mobilkommunikation sei eine wunderbare neue Kulturtechnik, die studiert und zelebriert statt kritisiert gehöre. Junge Schnösel und alte Grantler hätten bereits vor Jahrhunderten den vermeintlichen Sprachverfall beklagt, und doch sprechen wir alle noch, irgendwie. Nicht mehr wie vor Jahrhunderten, zugegebenermaßen, aber das könne ja auch keiner wollen.

Nein, das möchte wohl tatsächlich niemand (oder höchstens eine sehr begrenzte Anzahl Exzentriker und Exzentrikerinnen im statistisch nicht relevanten Bereich). Dennoch: Sprachkritik tut not, heute wie gestern. Eben weil Sprache etwas Lebendiges ist. Lebendiges kann leiden, wer würde das bestreiten wollen? Sprachkritiker haben nicht die Aufgabe, Entwicklungen zu hemmen, sondern sie zu lenken. Sie müssen ihre Finger nicht notwendigerweise in Wunden legen (schon gar nicht, wenn sie Berührungsängste gegenüber allzu abgegriffenen Redewendungen haben), sondern lediglich aufzeigen, wo es wehtut. Die Schmerzlinderung kommt in den meisten Fällen aus der Sprache selbst, man muss dort nur ein wenig suchen. Sprachkritikern vorzuwerfen, sie wollten die Weiterentwicklung der Sprache verhindern, ist so, als würde man Literaturkritikerinnen vorwerfen, sie versuchten die Weiterentwicklung der Literatur zu verhindern, nur weil ihnen hin und wieder ein Buch nicht gefällt. Oder werfen wir einen Blick in den Garten: Will man dem Gärtner einen Vorwurf machen, weil er das Unkraut jätet, damit die Blumen prächtiger blühen? Auch Botanikkritik ist notwendig, möchte man das Schöne wahren.

Dieses Buch möchte keineswegs alles verdammen, was nicht schon in Opas kleiner Deutschfibel stand, und nicht gleich jedes Wort mit ▶ Migrationshintergrund als undeutsch denunzieren. Dennoch wollen wir einen kritischen Blick werfen auf einige oft unachtsam nachgeplapperte und viel zu schnell verinnerlichte Wortungetüme. Um deren Herr zu werden, muss man erst mal feststellen, in welchen Habitaten sie überhaupt am verlässlichsten anzutreffen sind. Hierfür wagt sich das Buch in sieben Hauptbereiche:

Die Sprache der Angeber und Aufschneiderinnen

Welche Codes und Chiffren werden denn in Ihrer Blase getriggert? Mit diesen Wörtern meint sich jeder Einfaltspinsel zum großen Geist hochtönen zu können.

Alltag und Small Talk

Im Endeffekt wird im Small Talk letztlich ein Stück weit wenig spannend dahergeredet, und wenn dann zum Bleistift noch Unlustige lustig sein wollen, funzt latürnich gar nichts mehr.

Jugendsprache und Popjargon

Kranker Scheiß und geile Zeiten bis man fett zu alt ist, sich derart auszudrücken. Spoiler-Warnung: Die Sprache der Jugend kann betören und verstören, sollte aber in jedem Fall ein Privileg der Jugend bleiben.

Anglizismen

Welches Feeling hatten Sie nach dem Voten? Dazu hätten wir gerne Ihr Feedback. Vielleicht können wir uns nach dem Lunchen meeten.

Presse und Werbung

Transparent, nachhaltig und ganzheitlich wollen uns Influencer mit dynamischen und authentischen Themen abholen. Darauf gibt es Gänsehaut-Garantie, leider.

Politik und Stammtisch

Ist eine Krise noch das, was man manchmal im Stadtverkehr oder an der Supermarktkasse »kriegt«, oder ist sie schon Krieg? Ist Schaden nur halb so schade, wenn er Kollateralschaden ist? Ist es wirklich so schlecht, ein Gutmensch zu sein? Und ist »neoliberal« das neue »Nazi!«?

Die Sprache der Arbeitswelt

Welche Hausnummer müssen wir auf dem Schirm haben, bevor wir uns dazu committen, jeden sprachlichen Anstand fahren zu lassen? Kann das nicht irgendein Entscheider mal zeitnah challengen?

Jeder Eintrag in diesem Buch ist mit mindestens einem Symbol markiert, das seine Kategorie oder Kategorien verrät. Da deren Schnittmengen groß sind, finden sich bei den meisten Stichwörtern mehrere Symbole. Die Arbeitssprache schwappt in den Alltag, der Einzug des Englischen ist ein milieuübergreifendes Phänomen, und am Jugendjargon klammert man sich heute bis ins hohe Alter und durch alle Schichten fest.

Aber hat nicht jede und jeder das Recht, so zu sprechen, wie ihr oder ihm der Schnabel gewachsen ist? Selbstverständlich. Zum Recht auf freie Rede gehört allerdings ebenso das Recht, auf unschöne Rede hinzuweisen. Dieses Buch ist kein Regelwerk, sondern eine Sammlung unverbindlicher Vorschläge. Man kann sie sich gänzlich oder vereinzelt zu Herzen nehmen. Muss man aber nicht.

Kann man sagen, muss man aber nicht

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