Читать книгу Im Sommer, wenn niemand bleibt - Andreas Nolte - Страница 3
Mittwoch, 20. Juli
ОглавлениеFelix träumte, dass ihm seine Schwester mit dem Rasenmäher die Haare schnitt. Beim Aufwachen war er ganz verschwitzt, obwohl er unbekleidet im Bett lag. Er schaute auf den Wecker, es war kurz nach sieben, und der Nachbar mähte schon den Rasen. Der Lärm war unerträglich, mit geschlossenem Fenster wäre es allerdings noch unerträglicher. Felix ging hinunter ins Wohnzimmer, wo es im Sommer kühler ist, aber an diesem Tag roch es stark nach Alkohol. Vom Sofa hörte er ein leises Stöhnen. Felix erschrak, in der Schule waren ihnen die Gefahren des Alkohols in düsteren Farben geschildert worden. Es roch säuerlich, als er sich dem Sofa näherte; Patrizia hatte sich übergeben. Als er feststellte, dass sie regelmäßig atmete, war er beruhigt. Die flüssigen Reste ihres Essens hatten ein wenig Ähnlichkeit mit Streuseln. Er machte einen weiten Bogen darum und öffnete die Terrassentür. Die Hitze schlug herein, ebenso der Lärm des Mähers. Das Thermometer zeigte schon 29 Grad im Schatten.
Seine Schwester stöhnte jetzt lauter. Wer zu viel trinkt, soll leiden– aber vielleicht war sie am Abend auch traurig gewesen, dass niemand sich mit ihr verabreden wollte. Felix fielen die Leute ein, die jeden Morgen am Park der Wiedervereinigung sitzen, wenn der Schulbus vorbeifährt, und die die Gefahren des Alkohols grob missachten. Da sieht er seine Schwester sitzen, zehn Jahre älter oder zwanzig, und er dachte, dass die Lehrer, die andauernd von den Gefahren durch Drogen reden, doch mal lieber über die Gefahren durch Einsamkeit sprechen sollten. Nur: Die Kotze seiner Schwester würde er nicht wegwischen.
Er suchte sich etwas zum Frühstück. Im Vorratsschrank, versteckt hinter Nudeln, fand er eine Tafel Schokolade. Er verteilte sie gleichmäßig auf zwei Toastbrotscheiben– sie am frühen Morgen schon pur zu essen würde seine Mutter kaum gutheißen. Selten hatte er ein so gutes Frühstück gehabt, und der Gesundheit wegen nahm er sich zum Abschluss einen Apfel.
Als er ins Wohnzimmer zurückkam, war der Rasenmäher verstummt und Patrizia saß auf dem Sofa. Mit stierem Blick fixierte sie die Terrassentür– kann dies grässliche Geräusch doch jederzeit wieder einsetzen! Aber es blieb still, selbst den Vögeln war es zu heiß. Sie versuchte aufzustehen. Auf halbem Weg ließ sie sich stöhnend zurück aufs Sofa plumpsen. „Felix“, flüsterte sie, „kannst du mir einen Gefallen tun?“ Nein, er soll nicht verschwinden wie sonst; sie wünscht eine große Flasche Wasser und eine Aspirin. „Ach, und wenn du vielleicht noch das hier wegwischen könntest.“
Felix überhörte das, aus Mitleid brachte er ihr aber Wasser und Tabletten. Nach einer Stunde lag sie immer noch auf dem Sofa, mit einem feuchten Tuch auf der Stirn. Je heißer es wurde, desto ekelhafter stank es im Wohnzimmer. Felix holte ihr sogar Eimer und Lappen. „Ich wisch das nicht weg!“ sagte er. Bei dem Gestank konnte man es unmöglich aushalten, also ging er mit seinen Comics vor die Haustür, wo es vormittags eine zeitlang schattig ist.
Um diese Uhrzeit herrscht normalerweise reger Verkehr auf ihrer Straße, an diesem Tag fuhr nur selten ein Auto vorbei– wegen der Ferien? Oder gibt es vielleicht eine neue Umleitung? Oder– haben etwa alle die Stadt überstürzt verlassen? Selbst zum Nachdenken war es zu heiß– solang der Nachbar seinen üblichen Beschäftigungen nachgeht, kann es so schlimm nicht sein.
Herr Bramsche heißt ihr Nachbar, seine Frau ist vor einiger Zeit gestorben. Wie alt er ist, war schwierig einzuschätzen. Nachdem er den Rasen gemäht hatte, vertrieb er sich die Zeit damit, auf der Einfahrt die letzten Reste von Vegetation zwischen den Pflastersteinen herauszukratzen. Ein Eimer stand neben ihm, in den er die Pflanzen samt Wurzeln warf. Er saß auf einer Kiste, die er ab und zu ein wenig nach vorne rückte. Manchmal schafft es Felix, sich in das Stillleben von arbeitenden Menschen so sehr zu versenken, dass er nicht einmal mehr seine Augenlider bewegen kann– ein äußerst erholsamer Zustand. Als der Nachbar einmal kurz aufschaute, entdeckte er den Jungen. „Hallo Felix“, rief er ihm zu, „ist heiß heute.“
Felix Trance zerplatzte. Er rief zurück: „Ja, ich hab im Radio gehört, dass es heute wieder 37 Grad werden soll.“
„Ja, Felix“, rief Herr Bramsche, „da muss man die wichtigen Dinge früh am Morgen machen.“
„Da haben Sie Recht“, rief Felix, „deshalb lese ich ja jetzt auch.“
„Ja, dann lies mal schön weiter!“ Herr Bramsche wandte sich wieder seiner wichtigen Arbeit zu. Felix war zufrieden mit sich– diese Art Gespräch, das man Smalltalk nennt, muss jeder Erwachsene beherrschen, um nicht als unsozial zu gelten.
Nachdem er einige Zeit gelesen hatte, wurde er so müde, dass er seinen Kopf gegen das Geländer lehnte und auf der Treppenstufe einschlief. Wahrscheinlich schlief er nicht sehr lange; als er die Augen wieder öffnete, war Herr Bramsche nur unwesentlich vorgerückt. Die Sonne stand jetzt über den Bäumen, und es wurde so heiß auf den Stufen, dass Felix sie verlassen musste.
Patrizia ging es wieder besser. Sie hatte den Boden im Wohnzimmer sauber gemacht und saß wie tags zuvor auf Papas Platz. Der Ventilator lief, in der einen Hand hatte sie einen Eiskaffee, in der anderen hielt sie das Telefon, in das sie aufgeregt plapperte. Ab und zu unterbrach sie ihren Redefluss mit einem schrillen Lachen. Es kam auch vor, dass sie mal zuhörte. Sie war so leicht bekleidet, dass sich ihre Brustwarzen deutlich unter dem T-Shirt abzeichneten. Felix war das peinlich und er ging auf sein Zimmer.
Er wusste nicht recht, was er tun sollte: Lesen macht müde, für Legos fühlte er sich zu alt. Er setzte sich vor den Computer und googelte ein wenig herum. Es kam ihm so vor, als habe er all die Seiten schon einmal gesehen. Nicht dass er wirklich die unzähligen Seiten, die es im Internet gibt, schon gesehen hätte; nur ähneln sie sich alle so sehr, dass auch das einschläfernd wirkt. Zudem heizt ein Computer das Zimmer nur noch weiter auf. Die verbotenen Seiten– der Gedanke daran war ihm so unangenehm wie der Anblick von Patrizia. Einmal hatten sie bei einem Klassenkameraden Pornos angeschaut; das heißt er hatte nur die Rücken der anderen Jungen gesehen, die dichtgedrängt vor dem Bildschirm standen. Sie kicherten die ganze Zeit und riefen GEIL. Und obwohl er nichts erkennen konnte, schämte er sich noch tagelang vor seiner Großmutter, die ihn bestimmt vom Himmel aus dabei beobachtet hatte– was soll sie da oben auch sonst tun; dort ist es vermutlich noch langweiliger als auf der Erde.
Patrizia saß im Wohnzimmer am Fenster und lackierte sich die Zehennägel. „Machst du uns was zu essen?“ fragte sie. Ihre Stimmung hatte sich gebessert. Als Felix sie weiterhin bei der Arbeit beobachtete, ohne zu antworten, setzte sie hinzu: „Schieb doch einfach zwei Pizzas in den Backofen. Das kannst du doch.“
Ihm gefiel nicht, wie sie den Pascha spielte. Lediglich weil er selber Hunger hatte, folgte er ihrer Anweisung. Er brachte ihr sogar die fertige Pizza mit ins Wohnzimmer, wo sie schweigend zusammen aßen. Nachdem Patrizia das letzte Stück gegessen hatte, sagte sie: „Ach übrigens, heute Abend kommen ein paar Freunde vorbei. Willst du dich nicht mit irgendwem verabreden?“ Sie schaute auf; im Widerspruch zu ihrem beiläufigen Tonfall war der Blick lauernd. Felix wurde neugierig: „Wieso, was wollt ihr denn hier machen?“
„Was sollen wir hier schon machen wollen!“ entgegnete sie.
„Na dann kann ich ja auch hierbleiben.“
„Du hast wohl keine Freunde, was?“
Als er nichts antwortete, begann sie ihn zu belehren, wie wichtig echte Freundschaften für Heranwachsende sind zur Ausbildung ihrer sozialen Kompetenz. „Oder willst du etwa zum Eigenbrötler werden? Also: Mit wem willst du dich heute Abend verabreden?“
Felix fand ihr Gehabe lächerlich. Er hatte längst bemerkt, dass sie jeden Monat andere Freunde mitbringt, von denen sie nach kurzer Zeit immer versetzt wird. „Ich schau mal“, antwortete er und wollte sich abwenden.
„Ich schau mal, Ich schau mal!“ entgegnete sie, „aber eins sag ich dir: Wenn du dich nicht verabredest, bleibst du auf deinem Zimmer und störst uns nicht. Hast du verstanden?!“
„Du hast hier gar nichts zu bestimmen“, sagte Felix beim Hinausgehen. Er ging in den Keller und setzte sich in einen alten Sessel, um weiterzulesen. Statt sich auf seine Lektüre zu konzentrieren, ging ihm Patrizias Vorwurf nicht aus dem Kopf: Auf dem Schulhof ist er nicht unbeliebt, macht zusammen mit den anderen oft Quatsch. Manchmal verabredet er sich auch mit jemandem, bisher hat ihm nichts gefehlt. Er fand nicht, dass er ein Einzelgänger ist, aber einen richtigen Freund, oder das was Patrizia darunter versteht, hat er nicht. Würde er sich dann heute nicht so langweilen? Ihm fiel Uli ein: Im Prinzip war der ja ganz nett gewesen, ein wenig seltsam zwar, aber sicherlich nicht langweilig. Felix schloss die Augen und sah die roten Haare des Jungen vor sich; an sein Gesicht konnte er sich nicht erinnern– vielleicht begegne ich ihm ja wieder, wenn ich auch heute ein Eis holen gehe.
Er fand im Keller einen alten Strohhut und setzte ihn auf, bevor er aus dem Haus ging. Es gibt viele Gefahren auf der Straße, vor denen ihn seine Eltern ständig warnen: Überfahren zu werden, ausgeraubt zu werden, vergewaltigt und getötet zu werden– in diesem Sommer kam noch eine weitere Gefahr hinzu: Einen Hitzschlag zu erleiden. Als Felix der Sonne entgegentrat, hatte er das Gefühl, mit dem Hut auch gegen alles andere gefeit zu sein. Der Gedanke half ihm zu ignorieren, wie gefährlich das Leben ist.
Es war so heiß, dass selbst Herr Bramsche die Arbeit eingestellt hatte. Nur die Grillen zirpten, und wenn eine Windbö aufkam, war leise die Autobahn von der anderen Seite des Flusses zu hören. An vielen Häusern waren die Rollläden hinuntergelassen, in den Gärten wucherten Brennnesseln und Brombeergestrüpp; auch sie waren blass vom Staub. In manchen Vorgärten standen Schilder: ZU VERKAUFEN– alle Leute haben die Stadt verlassen: Für den Sommer? Für immer?
Seit im Fernsehen immerzu von der Krise gesprochen wird– nein, nicht von der Klimakrise, sondern der Wirtschaftskrise, der Immobilienkrise– seither entdeckt Felix immer mehr Zeichen des bevorstehenden Zusammenbruchs. Nur sie würden verschont bleiben– hatte sein Vater nicht wiederholt ausgerufen: GOTTSEIDANK SIND WIR NICHT DAVON BETROFFEN?
Auf dem Bürgersteig stand ein Karton mit Büchern, daran klebte ein Schild: ZUM MITNEHMEN. Er stand vor einem Bungalow mit gebürstetem Rasen. Die Fenster waren nicht verhangen, man konnte einmal quer durchs Haus schauen in einen weiteren Garten, alles wie im Katalog. Felix fiel ein, dass sie vergessen hatten, die Pflanzen in ihrem Garten zu wässern.
Er nahm ein paar Bücher in die Hand, die meisten waren ganz neu. Er fand kein Geeignetes für sich. All diese Dinge, die unnütz produziert werden, machen die Welt nur noch heißer. Selbst für das Kühlen von Eis wird Hitze erzeugt, dachte Felix, als er in das Eiscafé trat.
Der Verkäufer saß diesmal an einem seiner Tische, auch er langweilte sich. Zu Beginn des Sommers hatte er es immer eilig, sein Eis zu verkaufen; jetzt stand er nicht einmal auf, als Felix sich vor ihn stellte: „Ich hätte gerne ein Eis.“
„So. Ein Eis möchtest du also.“ Der Mann schien erstaunt über Felix Wunsch.
„Ja, Zitrone und Maracuja.“
„Ist aus“, erwiderte der Verkäufer, „wir haben heute nur Erdbeer, Vanille und Schokolade.“
„So wenig?“ Felix war enttäuscht.
„Früher, als ich klein war, gab`s auch nichts anderes“, entgegnete der Verkäufer. Er ging hinter die Verkaufstheke. Felix war eine reichliche Auswahl gewohnt, deshalb fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden. „Du kannst es auch philosophisch betrachten“, der Mann wartete mit dem Portionierer in der Hand auf Felix Wahl, „es ist die Beschränkung aufs Wesentliche.“ Dabei lächelte er seinem Gedanken hinterher.
Felix nahm Schokolade und Vanille, obwohl er beides nicht so gerne mag. Eigentlich wäre er gerne in der Eisdiele geblieben, dort war es kühl. Aber der Mann war so seltsam, dass Felix das leere Café rasch verließ. Er war froh über den Hut, jetzt musste er nicht mehr die Augen zusammenkneifen, und das Eis schmolz langsamer, wenn er es im Schatten der Krempe hielt.
Er schlenderte die Straße entlang, ab und zu kamen ihm Leute entgegen. Das beruhigte ihn. Etliche Schaufenster in der Innenstadt waren mit Papier verklebt, bei manchen Geschäften wurde ein Umbau angekündigt, bei anderen hingen noch die Angebote des Räumungsverkaufs. Der Schmuckhändler hatte seine Schaufenster wieder frisch geputzt. Felix fragte sich, wer wohl so viel Geld übrig hat, diese teuren Uhren und Ringe zu kaufen. Sein Vater erzählte ihm einmal, dass die teuersten Stücke gar nicht ausgestellt würden, sondern im Tresor lägen. Vermutlich hat in dieser Stadt niemand das Geld dafür– so oft Felix vorbeikam, immer funkelten dieselben Brillianten in der Vitrine. Als sie damals zusammen vor dem Geschäft standen, bemerkte sein Vater, es bliebe meist verborgen, wie reich oder arm jemand ist. UND WIE REICH SIND WIR? hatte Felix gefragt, doch da wollte sich Herr Armbruster nicht festlegen: ARM SIND WIR NICHT. ABER AUCH NICHT SO REICH.
Als Felix zurück nach Hause kam, machte seine Schwester gerade eine Modenschau. Sie verpflichtete ihn als Publikum. Zuerst trat sie in einem kurzen Kleid auf und drehte sich um ihre Achse wie eine Ballerina. „Wie sieht das aus?“ fragte sie.
„Na ja, deine Oberschenkel“, murmelte Felix.
„Was ist mit meinen Oberschenkeln?!“ Sie postierte sich vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Willst du nun meine ehrliche Meinung hören oder nicht?“ Felix wollte sich schon abwenden, da antwortete sie: „Ja, sag halt schon!“
„Deine Oberschenkel sind zu stramm dafür.“
Wortlos ging sie durch die Tür, eine Minute später kam sie in Jeans zurück. Auch die saßen stramm, trotzdem sah es besser aus. Über der Hose trug sie ein T-Shirt, sie hatte jetzt einen ihrer Täuschungs-BHs angezogen. Auch das war zu prall, aber er sagte nichts mehr. Beim Bücken nach ihrem Lifestyle-Magazin schauten über dem Gürtel die Schnüre ihres Tangas hervor, die in der Poritze verschwanden. „Oh, wie schön!“ rutschte es Felix heraus, obwohl er genug von der Schau hatte.
Kurz stockte sie in ihrer Bewegung. „Was meinst du?“ fragte sie.
„Na ja, das wär mir aber zu unbequem.“
„Lass das mal meine Sorge sein!“
„Na, wenn du es schön findest.“
„Du bist ja spießiger als Mama!“
„Wenigstens hast du kein Arschgeweih.“
Patrizia stand für einen Moment vor ihm, bereit, ihm das Magazin entgegen zu schleudern. Am Ende erhob sie lediglich ihren Kopf und verließ den Raum. Als sie später wiederkam, hatte sie ein längeres T-Shirt an, das bis über die Hüfte reichte. Sie redete nicht mehr mit Felix. Er saß auf dem Sofa und las seine Comics, während sie das Wohnzimmer mit Gläsern und Knabbereien für die Party vorbereitete. Manchmal spürte er ihren Blick– es war klar, dass sie ihn lossein wollte, wenn die ersten Freunde kämen, und genauso klar würde er dann noch hier sitzen!
Sie wurde immer unruhiger, ab sechs begann sie, die Porzellanfiguren der Mutter in den Schrank zu räumen; auch hängte sie einige Bilder von der Wand. Felix fragte: „Willst du nicht noch die Möbel wegräumen?“
„Sieht das denn nicht alles scheußlich aus hier?! So bieder, das ist ja peinlich!“
Felix zuckte mit der Schulter: „Es ist ja nicht deine Schuld.“
„Was sollen meine Freunde denn für einen Eindruck bekommen?!“ Es war das erste Mal, dass sie zu Hause eine Party gab.
„Wieviel Leute kommen denn?“
„Ich hab so zehn Bescheid gesagt.“ Sie schloss ihren Laptop an die Stereoanlage und verstaute die Platten von Herrn Armbruster in einem Bananenkarton. „Hilf mir mal“, forderte sie Felix auf. Sie wartete an dem Karton auf ihn.
„Ich glaub nicht, dass Papa das mag.“ Die Vinylsammlung ist Herr Armbrusters Schatz; immer wenn er eine Platte auflegt, zelebriert er es mit einem Tuch, das er behutsam über die Rillen wischt.
„Er weiß ja nix davon.“
„Ah ja?“ erwiderte Felix, worauf ihn seine Schwester argwöhnisch ansah. „Okay“, sagte sie schließlich, „du darfst eine Weile hier unten bleiben. Vorausgesetzt du belästigst meine Freunde nicht mit deinen Ideen.“
„Was für Ideen?“
„Na, du weißt schon: Diese komischen Ideen vom Weltuntergang und wie man uns davor bewahren könnte. Komm, jetzt hilf mir tragen.“ Die Platten waren schwer, sie trugen sie in den Keller. Patrizia nahm einen ganzen Korb voller Weinflaschen mit hoch. „Willst du dich heute wieder betrinken?“ fragte Felix.
„Das ist nur für meine Freunde. Und außerdem geht dich das gar nichts an.“
„Wann wollten die denn kommen?“
„Na, so gegen sieben.“
Es war viertel vor acht, als es das erste Mal klingelte. Ein junger Mann mit gescheiteltem Haar stand in der Tür. Er brachte Blumen mit und war ordentlich gekleidet. Es war aber nicht der Gast, den Patrizia erwartete. „Ah, du bist es, Torsten“, sagte sie mit eisigem Lächeln und wandte sich sofort um. „Nimm doch im Wohnzimmer Platz!“
Torsten setzte sich aufs Sofa; nur auf eine Ecke, als wolle er gleich wieder aufspringen und davon rennen. Er lächelte Felix unsicher zu. Der nahm seinen Comic, um weiter zu lesen.
„Willst du was zu trinken?“ rief Patrizia von der Küche aus.
„Wenn du ein Wasser hättest!“ rief Torsten zurück. Da es in dem Moment erneut klingelte, würde er wohl verdursten müssen; deshalb holte Felix ihm das Wasser.
Die nächsten Gäste waren viel lauter: Ein Pärchen, das aneinander gewachsen schien und jemand in Lederjacke und Stiefeln, der viel männliche Luft verströmte. Er hatte einen Ring an der Augenbraue, und ein weiterer hing in seiner Lippe. Patrizia begrüßte ihn aufgeregt– auf ihn hat sie also gewartet, die anderen Gäste dienen nur als Vorwand. Dieser Mann sieht nicht so aus, als würde er noch zur Schule gehen; vermutlich hat er draußen vor der Tür ein Motorrad stehen oder so etwas ähnliches.
Von nun an musste Felix die Tür öffnen, wenn es klingelte, weil Patrizia nicht mehr von der Seite des Mannes wich. Der hieß Carlos, auf dem Sofa nahm er Platz für zwei ein. Seine Hand legte er auf ihren Oberschenkel, als gehöre der ihm. Er nahm die Hand auch nicht weg, als er die ganze Gesellschaft mit seinen Anekdoten unterhielt. Alle lachten, Patrizia am lautesten. Dazu tranken sie viel Wein, seine Schwester natürlich auch. Torsten saß die ganze Zeit still in einer Ecke, nicht weit von Felix. Er wandte den Blick nicht von den anderen Gästen und Felix schien es, als mache sich der junge Mann im Geist Notizen. Er fragte ihn: „Weißt du, weshalb die alle lachen?“
„Keine Ahnung“, antwortete Torsten, „ich verstehe so groben Humor nicht.“ Eventuell gebe es da auch gar nichts zu verstehen, fuhr er fort, wahrscheinlich läge es am Wein, dass niemandem das auffalle. Torsten trank die ganze Zeit nur sein Wasser. Er fragte, was Felix außer seinen Comics am liebsten liest. Felix musste nicht lange überlegen: „Am liebsten lese ich Zeitschriften über die neuesten technischen Entwicklungen, beziehungsweise die negativen Folgen, die sie haben können.“
„Du meinst Katastrophen?“
„Ist dir etwa noch nicht aufgefallen, dass immer weniger Menschen hier in der Stadt leben?“
„Das liegt an den Ferien“, vermutete Torsten.
„Das liegt nicht an den Ferien. Ich glaube, dass sie unsere Stadt für immer verlassen haben.“
„Weshalb sollten sie das tun?“
„Vielleicht ist es ja wie bei einem Erdbeben“, versuchte Felix zu erklären. „Die Tiere flüchten aus der Gegend lange bevor das Beben kommt. Sie haben einen siebten Sinn dafür. Deshalb spüren sie die Katastrophe, bevor sie eingetreten ist.“
„Ja, aber weswegen sollten die Menschen dann fliehen? Menschen haben keinen Warnsinn für Erdbeben.“
„Ich meine ja auch nicht Erdbeben.“ Auf Torstens Frage wusste er nicht sofort eine Antwort. Nach einiger Überlegung sprach er seine Befürchtung aus: „Unser Land wird zur Wüste, und manche Menschen merken das früher. Am Ende muss ich ganz alleine hier bleiben.“ Felix kam das selber versponnen vor. Er war froh, dass Torsten nicht lachte. Der fragte: „Kennst du Kassandra?“ Felix schüttelte den Kopf. Darauf erzählte er ihm von der sagenhaften Seherin, die die Trojer vergeblich davor warnte, das hölzerne Pferd in die belagerte Stadt zu holen. „Kassandra selber wurde versklavt und später ermordet.“ Das sind ja keine guten Aussichten– Felix überlegte sich, dass es wohl klüger wäre zu schweigen.
Insgesamt waren acht Gäste an diesem Abend gekommen. Bis auf Torsten ähnelten sie sich alle in ihrer Aufmachung. Vermutlich würde es niemandem auffallen, wenn der Erdboden einen der Gäste plötzlich verschluckte, denn ihre Gespräche hätten ebenso gut vom Band laufen können. Für Felix war es offensichtlich, dass sich alle anödeten. Sie bemerkten das nur nicht, weil der Computer dafür sorgte, dass die Musik nicht aufhörte zu spielen. Seine Schwester war damit beschäftigt, Carlos einzuspinnen, während sie ein Glas nach dem anderen trank. „Kannst du mal `ne neue Flasche holen“, forderte sie Felix auf und hielt ihm eine leere hin. Sie hatte schon wieder Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Mit Carlos musste sie sowieso nicht mehr viel sprechen, sie waren schon beim Knutschen angelangt. Manchmal knabberte sie an einem seiner Ringe herum. Für Felix war es an der Zeit einzugreifen, damit Patrizia nichts Unüberlegtes machte.
Er nahm die leeren Flaschen mit in die Küche, wo er eine neue öffnete. Ihren Inhalt verteilte er auf drei Flaschen, füllte sie mit Wasser auf, und als die Farbe blasser wurde, nahm er noch etwas Traubensaft. Er hoffte, dass sie alle schon ausreichend getrunken hatten, dass es ihnen nicht auffiel. Tatsächlich stutzte Patrizia nur kurz, als sie an ihrem Glas nippte. „Der ist aber besonders gut“, sagte sie.
Auch die anderen tranken klaglos den neuen Wein; auf diese Weise sorgte Felix dafür, dass Patrizias Freunde die Warnungen der Lehrer nicht völlig missachteten. Als am Ende der Computer abstürzte, fiel den Gästen schlagartig die Ödnis dieser Party auf. Der erste stand mühsam auf, um sich zu verabschieden, und als hätten die anderen darauf gewartet, folgten sie ihm. Lediglich die siamesischen Zwillinge waren so mit sich beschäftigt, dass sie den Aufbruch nicht gleich bemerkten und sich beeilen mussten.
Patrizia störte sich nicht sonderlich an dem plötzlichen Ende– im Gegenteil schien sie ganz froh, nun ungestört mit Carlos zu sein. Der war erstaunlich nüchtern geblieben. Er hatte inzwischen nur noch eine Hand, die andere war irgendwo unter dem T-Shirt seiner Schwester verschwunden. Als er Felix bemerkte, wie der ihm bei der Arbeit zusah, sagte er zu Patrizia: „Lass uns in dein Zimmer gehen.“
Sie kicherte und führte ihn die Treppe hoch. Von oben rief sie Felix zu: „Ach, sei doch so lieb und räum noch ein bißchen auf.“ In diesem Moment spürte Felix, wie die Welt zur Wüste wird. Er wurde so traurig darüber, dass er nicht einschlafen konnte. Zudem ließ sich kaum vermeiden, auf die Geräusche im Nachbarzimmer zu achten: Die Matratze quietschte, leise Worte wurden gewechselt, die er nicht verstand. Natürlich war Felix aufgeklärt worden: In der Schule, vom Internet, von seiner Schwester– Puzzle-Stücke, die er sich zu einem Bild zurechtlegte. Dieses Bild erschien nicht sonderlich verlockend; außerdem ließ es zu viele Fragen offen.
Felix schrak hoch. Seine Schwester schrie: „Nein, nein, ja!“ Es verwirrte ihn– Muss ich helfen? Er lauschte. Noch einmal hörte er ihre Stimme: „...Oooh...Lass...“ Es klang, als hätte sie Schmerzen.
Felix sprang aus dem Bett; nicht länger durfte er zögern, sie zu retten! Ohne anzuklopfen rannte er in ihr Zimmer. Die schwache Beleuchtung reichte aus, um alles zu erkennen: Sie waren nackt, Carlos lag ausgestreckt auf dem Bett, sie hockte auf ihm. Beide starrten erschrocken zu Felix.
„Verpiss dich!“ schrie Patrizia.
„Wer?“ fragte Felix, der langsam ahnte, dass er etwas falsch verstanden hatte.
„Du natürlich, du Hornochse!“
Er fing an zu stottern: „Ich dachte– Hat er dir nicht wehgetan?– Ich wollte doch nur–“
„HAU AB, DU PISSER!“ rief Carlos ihm zu. Dabei betonte er jedes Wort einzeln, sodass Felix Angst und Bange wurde.
„Sprich nicht so mit meinem Bruder, hörst du!“ fuhr sie Carlos an. Daraufhin stieß er sie von sich herunter. „Ach, die Familie!“ rief er und schnappte sich seine Kleidung. Er lief an Felix vorbei aus dem Zimmer. Patrizia unternahm nichts, ihn zurückzuhalten.
Felix konnte sich vor Scham nicht rühren. Als unten die Haustür ins Schloss fiel, wandte sich Patrizia endlich ihm zu: „Tu mir einen Gefallen, ja?!“