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Donnerstag, 21. Juli

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„Doktor Watson!“ rief Herr Bramsche. Dr.Watson ist Herr Bramsches Katze, ein einäugiger Kater von schlechtem Charakter. Wenn man ihm zu nahe kommt, faucht er und sein Fell sträubt sich. Ursprünglich war das Fell weich gewesen, gelbbraun mit schwarzen Streifen wie bei seinen großen Verwandten im Dschungel. Nach vielen Kämpfen haben die Narben hässliche Flecken hinterlassen, auf denen nichts mehr wächst. Felix wundert sich jedes Mal, dass Herr Bramsche diese Katze so liebt. Wenn das Tier mal wieder von einem Kampf zurück kommt, klagt der Nachbar laut über dessen Zustand. Für diesen Liebesbeweis lässt Dr.Watson nur Herrn Bramsche an sich heran.

Felix beobachtete vom Fenster aus, wie Herr Bramsche seinen Kater begrüßte. „Ja, mein Lieber, da bist du ja. Komm zu Papa!“ rief er. Er kraulte Dr.Watson unterm Maul, sodass das Tier zufrieden schnurrte, als sei es ein harmloses Kätzchen.

Wieder war der Morgen heiß. Die Sonne schien milchig hinter der dünnen Wolkenschicht, am Horizont war ein Hauch von Rosa, das vom Sonnenaufgang geblieben war. Felix legte sich wieder hin. Er versuchte, nicht an den peinlichen Moment im Zimmer seiner Schwester zu denken. Vor allem bedrückte ihn der Gedanke, dass er in einigen Jahren selbst Mädchen nackt auf sich würde sitzen lassen müssen. Er überlegte, wie es wäre, für immer liegen zu bleiben– im Bett bin ich sicher, hier gibt es weder Wüsten noch Mädchen. Felix döste vor sich hin, während die Hitze zunahm. Er hörte, wie seine Schwester ihr Zimmer verließ; hörte Herrn Bramsche hämmern, weil es am Haus immer etwas zu tun gibt; hörte ab und zu ein Auto auf der Straße.

„Hier ist jemand für dich!“ schrie Patrizia zu ihm hoch. Er sprang aus dem Bett und zog sich rasch eine Hose an. Unten im Wohnzimmer stand Uli. Seine Haare leuchteten nicht so intensiv wie in Felix Erinnerung. Er trug eine alte Jeans mit Rissen am Knie und ein ausgeleiertes T-Shirt. Felix gefiel das, er selber darf so etwas nie tragen. Seine Mutter schmeißt Hosen gleich weg, wenn sie Löcher bekommen: WAS SOLLEN DENN DIE NACHBARN DENKEN, WENN UNSER SOHN IN SOLCHEN LUMPEN HERUMLÄUFT?!

„Ich bring dir den Schlauch.“ Ulis Stimme klang rau.

„Das ist nett“, sagte Felix, als er die Packung entgegennahm. Der Junge musterte ihn, während Felix passende Worte suchte. „Es ist heiß heute“, sagte er endlich.

„Na, ist ja nichts Neues“, erwiderte Uli. Kurz schaute er spöttisch zu Felix, danach ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Felix war froh, dass Patrizia gestern das Porzellan und die kitschigen Bilder weggestellt hatte.

„Sollen wir was zusammen machen?“ fragte Uli.

„Ja, ich weiß nicht, gern, ja was– ich muss noch überlegen– wann, heute?“

„Heute oder morgen, wie du willst.“

„Ja morgen, oder heute vielleicht–.“ Für einen Augenblick kam es Felix so vor, als wäre die Zeit eingefroren– alles ist möglich: Dass er einen Freund gefunden hat, dass die Langeweile zu Ende ist, dass er keine Gedanken mehr an düstere Prognosen verschwenden muss.

„Du kannst es dir ja noch überlegen“, sagte Uli und gab ihm die Hand. Bevor Felix eine Antwort einfiel, verließ der Junge schon das Haus. Felix schaute ihm hinterher. „Wann sehe ich dich denn wieder?“ rief er ihm nach. Uli drehte sich auf dem Fahrrad um und erwiderte etwas; Felix konnte es nicht verstehen. Vielleicht hieß es: Ich komme morgen vorbei.

„Wer war denn das?“ fragte Patrizia, als er die Haustür hinter sich schloss. Obwohl es desinteressiert klang, wusste Felix, dass sie darauf brannte, in Erfahrung zu bringen, mit wem sich ihr Bruder umgibt– sie muss die Personen, mit denen ihre Familie Umgang hat, unbedingt einordnen. Bei den Eltern macht sie es genauso.

„Das war Uli.“ Er wollte sich schon abwenden.

„Ja, ist er dein Freund?“ fragte sie ungeduldig.

„Ja“, antwortete er.

„Ich glaub ja nicht, dass Mama so schlampige Hosen gut findet.“

„Lass das mal meine Sorge sein“, erwiderte er. Patrizia sagte nichts darauf. Um ihr keine Gelegenheit zu geben, ihn auf das Ereignis in der Nacht anzusprechen, verließ er das Haus. Herr Bramsche zupfte wieder Unkraut auf seiner Einfahrt, er tat es mit großer Sorgfalt. Nachdem ihm Felix eine Weile dabei zugeschaut hatte, fragte er, weshalb er das macht: „Es ist doch schön, wenn noch etwas wächst.“

„Ja, weißt du, Felix, ich möchte ein ordentliches Haus hinterlassen, wenn ich einmal sterbe. Für meine Kinder.“ Felix wusste nur, dass die Kinder von ihm, die schon lange keine Kinder mehr sind, weit weg wohnen und nur selten zu Besuch kommen. Meist streiten sie dann laut mit ihrem Vater und Herr Bramsche wirft ihnen Undankbarkeit vor.

„Aber weshalb für ihre Kinder? Sie ärgern sich doch nur über die.“ Felix war nicht sicher, ob solche Fragen wirklich zum Smalltalk gehören. Herr Bramsche sah ihn erstaunt an und bekam denselben fernen Blick wie der Eisverkäufer: „Was soll ich denn machen“, entgegnete er, „aus dem Fenster schauen?“ Das Jäten hält ihn von der Langeweile ab, dachte Felix. Er schaute ihm weiter zu, wie er Reihe für Reihe die Fugen freilegte. Herr Bramsche würde noch einige Zeit keine Langeweile bekommen; die Steine waren klein, fast ein Mosaik.

Als er wieder ins Haus kam, schrieb Patrizia gerade eine SMS. Kurz warf sie Felix einen misstrauischen Blick zu. Sie war geübt darin, Botschaften zu schreiben, nur fragte sich Felix jedes Mal, ob sie wirklich so viel Mitteilenswertes zu berichten weiß. Er konnte sich gar nicht auf seinen Comic konzentrieren; die ganze Zeit rechnete er damit, dass sie auf die Episode in der Nacht zu sprechen kam. Doch selbst als sie das Handy beiseite legte, schwieg sie: Keine Anschuldigung, nicht einmal eine giftige Bemerkung– als wäre nichts geschehen. Er spürte, dass sie ihn niemals darauf ansprechen würde; dass es ihr genauso unangenehm war wie ihm.

Im Wohnzimmer, auf dem Tisch und auf dem Boden, lagen immer noch die Überreste der Party– sie wartet wohl darauf, dass ich das wegräume. Es stimmt, Unordnung kann er nicht leiden, weil man dann gar nicht mehr weiß, wohin man noch schauen soll. Seine Schwester hat damit keine Probleme. Das ruft auch Frau Armbruster immer: JA, DU HAST DAMIT KEINE PROBLEME! und dann wirft sie alles, was im Wohnzimmer herumliegt, in einen Korb, den sie vor der Tür ihrer Tochter abstellt. Seine Mutter war jetzt im Urlaub, und er hatte keine Lust, Patrizia den Hintern nachzutragen.

Das Handy detonierte, seine Schwester erhielt eine neue Botschaft. Als sie einen spitzen Schrei ausstieß, erschrak Felix. „Was hast du?“ fragte er.

„Nix“, entgegnete sie.

Nach einiger Zeit spürte er ihren Blick auf sich, obwohl er nicht von seinem Heft aufschaute. Er fragte sich, wie das sein kann: Lesen und gleichzeitig ihren Blick spüren? Kann man etwa mit der Haut sehen? Ihm war unbehaglich, schließlich schaute er auf: Mitnichten blickte ihn seine Schwester an, ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem Lifestyle-Magazin. Später sagte sie in den Raum hinein: „Wie fändest du`s, wenn du ein paar Tage das Haus für dich hättest?“

Felix begriff nicht sofort die Tragweite ihrer Äußerung. Zuerst dachte er, sie stellt ihm nur eine hypothetische Frage. Als er aufschaute, bemerkte er, dass sie auf eine Antwort wartete. „Meinst du mich?“ fragte er.

„Ist hier sonst noch jemand?!“

„Willst du etwa verreisen?“

„Meine Freunde hatten die Idee, ein paar Tage nach Frankreich ans Meer zu fahren.“

„Ah so“, sagte er.

„Wie: Ah so?“

„Und du willst da mitfahren.“

„Ja natürlich!“ Sie tat verwundert.

„Und jetzt bittest du mich um Erlaubnis.“

„Wie: Erlaubnis? Du hast mir gar nix zu verbieten!“

„Solltest du nicht auf mich aufpassen?“ Felix war klar, dass diese Frage verfänglich war: Er wollte natürlich nicht, dass sie auf ihn aufpasst; andererseits– Ganz allein hier im Haus?– Und womöglich hat seine Schwester einen Aufpasser nötiger.

„Na, bist du denn noch ein Baby?“ fragte sie zurück.

„Fährt dieser Carlos mit?“

„Ich kann schon allein auf mich aufpassen, wenn du das meinst“, erwiderte sie.

„Ist er dein Freund?“ Er merkte, dass seine Frage sie verlegen machte. „Ja, kann man so sagen“, antwortete sie.

„Also, er kommt auch mit?“

„Ja.“ Noch einmal lächelte sie, und Felix freute sich über das Vertrauen seiner Schwester.

„Fahrt ihr auf seinem Motorrad?“

„Er hat kein Motorrad. Außerdem kommen noch zwei andere Freunde mit. Du weißt: Die beiden, die mit Carlos zusammen gekommen sind.“

„Ach, die siamesischen Zwillinge.“

Patrizia lachte. Auch noch, als er fragte, wie sie denn nach Frankreich kommen wollten. Sie fing an, die Überreste der Party wegzuräumen. Als sie fast in der Küche war, rief sie ihm zu: „Wir werden unseren Wagen nehmen.“

„Etwa Papas Auto?!“

„Ja welchen sonst? Mamas ist zu klein.“

Am Ende würden seine Eltern ihn fragen, wieso er das nicht verhindert hatte. „Das darfst du aber bestimmt nicht!“ rief er ihr hinterher.

Sie klapperte in der Küche mit dem Geschirr. Sie versorgte es sehr ausführlich, zumindest dauerte es eine Weile, bis sie zurückkam. Beim Tischabwischen sagte sie: „Wir wollten heute Abend so um sieben losfahren.“

„Was, so schnell?“

„Aber du bist ja kein Baby mehr.“

Felix fand die Bemerkung hinterhältig. „Ich muss es mir noch überlegen“, entgegnete er.

„Überlegen, überlegen! Was gibt`s denn da noch zu überlegen?!“ Sie ging wieder in die Küche. Nachdem sie fertig aufgeräumt hatte, ließ sie sich in Herrn Armbrusters Sessel fallen und blätterte durch ihr Magazin.

„Musst du nicht packen?“ fragte er. Felix begann, sich mit dem Gedanken anzufreunden, seine launische Schwester für ein paar Tage loszusein.

„Muss nicht viel“, entgegnete sie ohne aufzuschauen. Sie war wieder so missmutig wie am ersten Nachmittag, als sie sich alleine betrunken hatte.

„Willst du überhaupt weg?“ fragte er, und auf einmal giftete sie: „Was meinst du wohl, wie froh ich bin, dich und dieses spießige Haus und alles hier nicht mehr sehen zu müssen!“

Felix kannte diese plötzlichen Aufwallungen Patrizias. DAS IST DIE PUBERTÄT, sagt seine Mutter immer. Felix bezweifelte das mittlerweile, sie würde immer so sein.

„Du wirst denen ja nichts davon erzählen“, sagte sie.

„Aber wenn sie anrufen, was soll ich ihnen dann sagen?“

„Die Wahrheit: Dass ich gerade mal mit Freunden aus dem Haus bin, und du nicht weißt, wann ich zurück komme.“

„Und was sagst du ihnen, wenn sie es doch herauskriegen?“

„Wie sollen sie es denn herauskriegen? Es sei denn du petzt.“

„Am Tacho zum Beispiel.“

Patrizia erschrak, daran hatte sie nicht gedacht– Herr Armbruster kann sehr penibel sein; ihm ist zuzutrauen, dass er sich vor dem Flug den Tachostand notiert hat. Auch Frau Armbruster ist nicht so leicht zu hintergehen: Sie kennt ihre Kinder in- und auswendig, zumindest behauptet sie das. „Du weißt ja“, sagte Felix, „es reicht schon, wenn du etwas sagst– sie merkt es dann am Klang deiner Stimme.“

„Ha! Da hört sie nur ihr eigenes Echo. In mir ist nix. Ganz leer.“ Sie starrte durch Felix hindurch in den Garten, schließlich ging sie hoch zum Packen.

Gegen sechs klingelte es. „Kannst du mal aufmachen“, rief sie herunter. Carlos stand in der Tür. Er hatte eine Sonnenbrille auf, die er auch im Haus nicht abnahm. Er gab einige Laute von sich, mit Mühe verstand Felix GUTEN TAG; es könnte auch etwas anderes geheißen haben. Über der Schulter hing eine Tasche, die er an den Riemen festhielt. Er ließ sie im Flur auf den Boden fallen.

„Wer ist da?“ rief Patrizia herunter.

„Dein–.“ Felix stockte.

„Ich bin`s, kann ich hochkommen?“ Carlos wartete ihre Antwort nicht ab. Oben fiel die Tür zu, diesmal schloss Patrizia ab. Felix wäre am liebsten weggegangen, doch er wollte nicht, dass sie ohne Abschied fährt. Im Prinzip hatte er ihrer Reise nicht zugestimmt; nur ließ sich jetzt nichts mehr verhindern, nicht einmal durch Erpressung– in seinem Alter macht man so etwas nicht mehr.

Weil er nichts Besseres zu tun wusste, goss er die Blumen im Garten. Sie hatten unter der Trockenheit ziemlich gelitten, umso reichlicher flutete er jetzt den Garten. Alle Rohre geöffnet, ließ sich das Terrain binnen kurzem in einen Teich verwandeln; das Wasser versickerte auf dem harten Boden nur langsam. Er beobachtete, wie der Strahl aus dem Schlauch vor der Sonne einen Regenbogen bildete.

Als seine Schwester herunterkam, war es halb acht. Sie drehte ihm den Hahn ab: „Du sollst keine Überschwemmung verursachen, bist du jeck?!“ Hektisch suchte sie im Wohnzimmer noch ein paar Sachen zusammen.

„Wie lang bleibt ihr?“

„Nur ein paar Tage.“ Sie vergaß auch nicht, ihr Magazin einzupacken. Schließlich hatte sie alles beisammen und blieb vor Felix stehen. „Also, du denkst ja dran“– und sie begann, Frau Armbrusters Checkliste abzuspulen. Felix stöhnte: Jaa, Jaaa, JAAA. „...und nicht so viel Schokolade essen“, beendete sie die Ermahnungen. Sie lächelte ihm zu und schlang die Arme um ihn. Bevor sie ihm einen Kuss geben konnte, wand er sich aus der Umarmung. „Ich mach das schon richtig“, sagte er.

Sie gingen zusammen hinaus, Carlos saß schon im Auto und wartete darauf, dass sie einstieg. „Ich bring dir auch was Schönes mit.“ Patrizia winkte ihm zu und –lächelte noch einmal, sodass Felix dachte, sie kann auch nett sein.

„Pass auf dich auf!“ rief er hinterher, da fuhren sie schon vom Grundstück auf die Straße.


Der Abend war lang, das Haus zu still, bis das Telefon klingelte. Seine Mutter war am Apparat. Ihre Stimme klang so klar, als würde sie aus dem Nebenraum mit ihm telefonieren. „Oh, Felix“, begrüßte sie ihn, „schön, dass ich auch mal mit dir sprechen kann. Hat dir deine Schwester die Grüße ausgerichtet?“

„Nein, welche Grüße?“

„Sie ist so unzuverlässig!“

„Hast du denn schon mal angerufen?“

„Gestern und vorgestern! Was denkst du denn?!“

„Wann denn?“ wollte Felix wissen.

„Gestern Nachmittag. Da warst du wohl nicht da.“

„Vielleicht war sie auch nur zu faul, mir Bescheid zu sagen.“

„Und vorgestern Abend? – Sag mal: Hatte Patrizia da– Ich meine, sie klang so seltsam.“

Mit Genugtuung antwortete er: „Sie war betrunken.“ Seine Mutter schwieg eine Weile, sodass er fragen musste, ob sie noch dran war.

„Ja doch, Entschuldigung“, erwiderte sie. Er ließ das Thema Patrizia besser auf sich beruhen– nicht dass sie am Ende seine Schwester sprechen will. Stattdessen erkundigte er sich nach Teneriffa: Wie das Wetter ist, ob sie schon viele Aussichten bewundert haben und dergleichen mehr. Davon redete seine Mutter gern und viel. Bevor sie sich von ihm verabschiedete, sagte sie: „Und Felix, halte ein Auge auf deine Schwester. Und wenn was ist: Du kannst jederzeit anrufen, hörst du? Du hast doch die Nummer?“

Felix las die Nummer laut von dem Zettel ab, den seine Eltern vor der Fahrt an die Wohnzimmertür geheftet hatten. Daraufhin küsste sie ihn durchs Telefon.

Nachdem sie aufgelegt hatte, bedauerte er, dass er ihre Stimme nicht noch länger hören konnte. Wenigstens kann ich heute so lange fernsehen, wie ich will, und vielleicht findet sich auch noch eine Tüte Chips im Haus. Ja, und die Musik bis zum Anschlag aufdrehen geht heut auch. Felix tat sein Bestes, sich von den Vorteilen des Alleinseins zu überzeugen.

Er fand tatsächlich eine Tüte Chips, auch eine weitere Tafel Schokolade, und setzte sich in Herrn Armbrusters Sessel. Er zappte durch alle Kanäle, aber spät am Abend laufen nur noch merkwürdige Sendungen: Entweder sind sie langweilig oder abstoßend. Endlich fand er einen alten Film: In einem kleinen Küstenort, mit einer Bar, einer Tankstelle und einer Dorfschule, sammeln sich eines Tages viele Vögel und greifen die Menschen an. Als die letzten Leute im Morgengrauen fliehen, müssen sie durch ein Meer von Vögeln fahren.

Nachdem der Film zu Ende war, traute sich Felix nicht, den Fernseher abzustellen. Er musste mal dringend aufs Klo, auch das traute er sich nicht– War die Frau im Film nicht alleine die Treppe hochgegangen, in ein Zimmer, aus dem sie Geräusche hörte? Die Tür fiel hinter ihr zu, und die Vögel griffen an; sie hätten sie zerhackt, wenn der Mann, der unten schlief, nicht aufgewacht wäre und sie im letzten Moment gerettet hätte. Und dazu diese Schreie wie aus Metall! Niemand war im Haus, der Felix retten konnte. Vielleicht noch fünf Minuten würde er es aushalten, kurz erwog er ernsthaft, lieber in die Hose zu machen– das kommt nicht in Frage! Er schaltete alle Lampen ein und den Fernseher aus, um jedes Geräusch im Haus zu hören– Nichts. Er ging hoch, schaltete auch hier jedes verfügbare Licht an, und im letzten Augenblick erreichte er das Bad zu seiner großen Erleichterung.

In sein Zimmer wollte er nicht, auf der Straße schien es ihm sicherer. Auch dort waren die Menschen angegriffen worden, aber getötet wurden sie in ihren Häusern. Er blickte durchs Fenster und vergewisserte sich, dass keine Vögel auf den Bäumen warteten; auch sonst war niemand zu sehen. Felix beschloss, die Stadt zu durchstreifen. Auch nach Mitternacht war es noch so warm, dass ein T-Shirt völlig ausreichte. Er war bei Dunkelheit noch nie allein auf der Straße gewesen; spätestens wenn die Straßenlaternen angehen, muss er normalerweise zu Hause sein.

Der Wind hatte gedreht, Felix konnte das Rauschen der Autobahn nicht mehr hören. Es war unnatürlich still, doch nicht beängstigend wie im Film, wenn die Musik aussetzt. Überhaupt hatten die Vögel ihren Schrecken verloren. Vielmehr fühlte er sich in diesen Straßen mit ihrer diffusen Beleuchtung auf einmal zu Hause. Obwohl es so warm war, begegnete er niemandem. An dem Nachmittag, als er das Eis gekauft hatte, war ihm noch unheimlich bei dieser Verlassenheit; jetzt kam es ihm wie ein Versprechen vor. Das Wort fiel ihm plötzlich ein, er wusste nicht, woher es kam oder worin das Versprechen bestehen sollte– nur, als das Wort in seinem Kopf war, wollte es nicht mehr weichen, und für einen kurzen Moment war er glücklich. Es war eher eine Ahnung von Glück, und es hielt nicht lange. Wie bei einem Schrecken, der unvermittelt da ist und nach einiger Zeit verebbt, verließ ihn auch das Glücksgefühl wieder, und die Straße war nur eine Vorstadtstraße mit Einfamilienhäusern und Wohnblocks, die unberührt in der Nacht dalagen.

Vor dem Bungalow stand immer noch der Bücherkarton. Es schien Felix, als sei er voller geworden, doch möglicherweise täuschte nur der Schatten. In dem Haus konnte er das wechselnde Licht eines Fernsehers erkennen, vor der Garageneinfahrt standen ein Porsche und ein BMW. Wie lange wollen die Leute noch warten, dass jemand ihre Bücher nimmt?

Im Stadtzentrum hatte sich eine Gruppe Älterer um den Freiheitsbrunnen versammelt. Sie waren genauso laut wie die Älteren an seiner Schule und sprangen durch die Fontäne des Brunnens. Felix machte einen weiten Bogen um sie.

Er kam zum Park der Wiedervereinigung. Nicht einmal tagsüber hatte er sich bisher getraut, alleine da durchzugehen. Doch ist dies eine ganz besondere Nacht, hat er doch die Angst vor den Vögeln überwunden, und noch immer liegt das Versprechen in der Luft. An den Wegen des Parks brannten Laternen. Er hörte Stimmen; kein Juchzen wie am Brunnen, auch kein Grölen. Auf einer großen Wiese waren einige Leute in Grüppchen, die meisten lagen auf Decken bei ihrem Grill und wollten nicht schlafen. Die Leute, die immer im Park leben und schon am Morgen die Warnungen der Lehrer missachten, hatten sich Liegestühle besorgt und sonnten sich im Mondlicht. Von ihnen kam das betrunkene Murmeln.

Felix ging quer durch den Park, ohne dass ihm etwas passierte. Auf dem Weg nach Hause kam er bei dem Juwelier vorbei. Das Schaufenster war hell erleuchtet, obwohl außer ihm niemand vorbei ging. Er stellte fest, dass die teuerste Uhr nicht mehr in der Vitrine lag. Jemand in der Stadt hat doch so viel Geld übrig– hatte dieser Jemand sein letztes Geld ausgegeben, bevor er die Stadt für immer verließ?– so wie er selbst es immer mit seinem Taschengeld gemacht hatte am letzten Urlaubstag, früher, als er noch mit seinen Eltern in die Ferien fuhr? Er ging rasch weiter, bevor er am Ende noch anfing abzuwägen, ob ein Urlaub mit den Eltern nicht doch besser gewesen wäre als allein zu Hause zu bleiben.

Fast schon war er zu Hause angelangt, als ihm ein Auto entgegen kam. Es fuhr langsam die Straße entlang. Weil das Licht ihn blendete, erkannte er erst spät, dass es ein Polizeiwagen war. Dürfen Kinder nachts allein auf die Straße? Bin ich noch ein Kind? Ich werde mich ausweisen müssen!

Felix versteckte sich hinter einem Altglascontainer. Sie bemerkten ihn nicht, gemächlich fuhren sie vorbei. Er wollte schon hervorkommen, da drehte der Wagen mit quietschenden Reifen und schoss in großem Tempo zurück. Felix erschrak, sie sausten vorbei. Kurz vor der Ecke schalteten sie die Sirene ein. Das Versprechen hatte Felix mittlerweile ganz vergessen. Er war nur noch müde.

Im Sommer, wenn niemand bleibt

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