Читать книгу Blutpharmazie - Im Bannkreis des Voodoo - Andreas Reinhardt - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
Einführende Worte eines Griot
- Uraltes Afrika, ebenso stark wie gehemmt -
Ich bin ein Griot, Verkünder des Gegenwärtigen und Vergangenen, Produkt einer langen Ahnenreihe und eines Kontinentes, dessen Osten und Südosten als die Wiege der Menschheit gelten, wenn man von den ältesten Knochenfunden ausgehen darf. Eben dieses Afrika hat seinen Menschen seit Anbeginn ihrer Existenz mehr als anderswo alles abverlangt. Die Erde war in weiten Teilen wenig fruchtbar, dafür überreich an Mineralien. Und bei all dem, was die wechselvolle Geschichte noch bereithalten sollte, müsste sich die Frage aufdrängen, ob mehr fruchtbares Land und dafür weniger Mineralien nicht segensreicher gewesen wären. Doch es wäre auch eine blasphemische Frage. Warum? Weil Afrikaner dank des göttlichen Geschenkes der Intelligenz zwar immer in der Lage gewesen sind, aus dem Schicksal heraus selber zu gestalten, die Härten der Natur als feststehendes Schicksal aber nun einmal vorgegeben waren. Früh haben die besonderen klimatischen Bedingungen Krankheitserreger, Parasiten und Seuchen hervorgebracht, welche die Menschen entweder dahinsiechen oder sie im Laufe vieler Generationen zu unvergleichlich widerstandsfähigen Individuen reifen ließen. Malaria, Schlafkrankheit, Pocken, Hakenwurmanämie oder der sogenannte Guinea-Wurm zum einen, eine Vielfalt lebensbedrohender wilder Tiere zum anderen – Regenwälder und Busch wurden zum Inbegriff des Bösen. Lang anhaltende Dürreperioden kamen hinzu, wie etwa in Westafrika zwischen 1.100 bis 1.500 n.Ch. oder 1640 bis 1840 n.Ch.
Dieses Afrika formte Menschen, wie sie leidensfähiger und genügsamer nicht sein konnten. Reproduktion und Abgrenzung der Zivilisation vor der Natur wurden zu obersten Geboten.
In der westafrikanischen Savanne, wo sich aufgrund der trennenden Sahara die zivilisatorische Entwicklung lange Zeit eigenständig vollzog, entstanden immer neue Siedlungszentren. Im Norden von Trockenheit bedroht, schoben sich diese in den Süden vor, was mit beschwerlicher Waldrodung einherging. Dabei gab insbesondere erfolgversprechender Ackerbau die Standorte der Erschließung vor. Ein Siedlungskern war jeweils von Grenzlandsiedlungen umgeben. Konzentrische Kreise von brachliegenden und bewirtschafteten Feldern umgaben Häusergruppen und Dörfer. Zwischen den Siedlungszentren lag Wildnis.
Die Ursachen für neue Siedlungsgründungen waren vielfältig, reichten von Überbevölkerung über Dürre und Hexerei bis hin zu äußeren Feinden. Da Siedlungen Schutz und Zivilisation bedeuteten, wuchsen sie durch ständige Zuwanderung aus allen Himmelsrichtungen. Neue Sprachen und Dialekte, aber auch abweichende Traditionen hielten Einzug. Immer komplexere Erdwälle trennten Kulturlandschaft von unerschlossenem Waldland, das immer weiter Richtung Küste zurückgedrängt wurde. Im Verlauf des ersten Jahrtausends n.Ch. schlossen sich Dörfer und Siedlungen zu Kleinstaaten zusammen, aus denen mächtige Königreiche und Hochkulturen wie das Reich Mali vom heutigen Senegal bis nach Burkina Faso, das Edo-Reich von Benin im heutigen Nigeria oder das Akan-Reich im heutigen Ghana erwuchsen. Dabei war die Staatenbildung unter den gegebenen Umständen durchaus eine Herausforderung. Man hatte es mit einer hemmenden Unterbevölkerung zu tun. Die Siedlungen waren außerdem von hohem Freiheitswillen und Vielfalt in Traditionen und Zugehörigkeitsgefühl bestimmt, repräsentiert und geführt von gewählten Oberhäuptern.
Erfolgreich waren jene königlichen Herrscher und Reichsgründer, welche Mittel und Wege fanden, daraus belastbare Gemeinsamkeiten zu schmieden. Ein Sprichwort aus der Akan-Kultur beschreibt das Dilemma so: ‚Die Macht ist wie ein Ei in der Hand. Drückt man es zu fest, zerbricht es. Hält man es zu locker, fällt es zu Boden.‘ – Erfolgsgaranten waren militärische Stärke, Sklavenwirtschaft und ein florierender Außenhandel. Hinzu kam ein hoher Grad religiöser Homogenität der Bantu-Völker in Westafrika. Ihre Vorstellungen von einem Schöpfergott, Ahnenkult, Naturgeistern, der Kraft von Amuletten, Hexerei oder einer rituellen Priesterschaft waren vergleichbar, was die Entwicklung einer einenden Kultur vereinfachte. Damit einher gingen Medizin und Naturheilverfahren. Blut Schröpfen, Geburtshilfe oder frühe Chiropraktiker gehörten ebenso dazu, wie Kräuterkunde und Heilsalben sowie Exorzismus und komplexe magische Rituale.
Im Zusammenhang mit der Geschichte Afrikas steht immer auch der transatlantische Sklavenhandel im Mittelpunkt des Diskurses. Dann ist vom Dreieckshandel die Rede, weil sich Händler von Europa aus nach „Guinea“ aufmachten, um Waffen aller Art, Tuch oder Alkohol gegen westafrikanische Sklaven zu tauschen. Diese Sklaven wurden dann auf den Karibischen Inseln oder dem amerikanischen Festland zum Einsatz auf Plantagen verkauft. Der Erlös wiederum wurde in Produkte wie Zucker, Baumwolle und Tabak investiert, welche nach einer weiteren Atlantiküberquerung in Europa zu noch mehr Geld gemacht wurden. Natürlich entspricht diese Darstellung der historischen Wahrheit und muss erzählt werden. Aber man dient der Wahrheit nicht, wenn die Geschichte der afrikanischen Sklavenwirtschaft nur derart verengt dargestellt wird. Die Vorliebe zur Selbstgeißelung, wie sie in Ländern Europas oder in den USA zu beobachten ist, treibt auf die Art leider auch falsche Blüten, denn selbstverständlich waren afrikanische Gesellschaften niemals nur Opfer. Sklavenwirtschaft und Sklavenhandel waren dort vielmehr schon vor Ankunft der Muslime und Christen ein Übel. Und ohne Billigung sowie Beteiligung dortiger Herrscher wäre letztlich auch der transatlantische Sklavenhandel mit über elf Millionen Verschleppten nicht möglich gewesen, oder dass arabische Kaufleute bereits siebenhundert Jahre zuvor afrikanische Sklaven durch die Sahara in islamische Länder am Mittelmeer und am Roten Meer geführt haben, insgesamt über drei Millionen.
Natürlich widersetzten sich auch einzelne Völker der aktiven Sklaverei, wie die „Baga“ im heutigen Guinea oder die „Kru“ im heutigen Liberia. Doch wurden nicht staatlich organisierte Völker und freie Siedlungen bevorzugte Ziele von Beutezügen. Entführt oder als Kriegsbeute wartete ein unfreies Leben auf Plantagen, in Sklavenheeren oder als Haussklave, nicht zuletzt infolge der Unterbevölkerung, falls es nicht zu einem Weiterverkauf nach São Tomé, Madeira, Südeuropa, Amerika oder in die Karibik kam. Beim Verbleib in Westafrika bestand zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs, zum Beispiel als königliche Leibwache oder Regierungsbeamter.
Südeuropa lechzte bereits seit Mitte des 14. Jahrhunderts nach den robusten afrikanischen Sklaven, hatten doch Kriege und die Pest schwer gewütet. Felder für den Nahrungsmittelanbau konnten dort nicht mehr ausreichend bewirtschaftet werden. Besonders der von den Muslimen erlernte Zuckeranbau im Mittelmeerraum, in Portugal und auf den portugiesischen Atlantikinseln nahm zu und verschlang Arbeitskräfte. Portugiesen waren es auch, die um 1471 erstmals bis an die Küste des Akan-Reiches vorstießen – des Goldes wegen. Innerhalb von nur dreißig Jahren kontrollierten sie die Hälfte aller Goldexporte Westafrikas. Und sie bezahlten das von der portugiesischen Krone so heißbegehrte Edelmetall mit Sklaven, welche man im Königreich Benin, im Königreich Kongo oder über den Handelsstützpunkt in Loango an der Küste der heutigen Republik Kongo erwarb. Es waren auch portugiesische Sklavenhändler, die eine etwa sechstausend Kilometer lange Küstenlinie vom Senegal bis nach Angola „Guinea“ oder genauer „Oberguinea“ und „Unterguinea“ tauften – ein Begriff aus der Berbersprache, der so viel bedeutet wie „Land der schwarzen Menschen“. Entsprechend dem jeweiligen Hauptexportgut folgte eine weitere Unterteilung in „Korn-“ oder „Pfefferküste“, „Elfenbeinküste“, „Goldküste“ und „Sklavenküste“. Aber für die Europäer barg diese Küste von Guinea nicht nur finanziellen Segen, sondern auch einen Fluch. So viele von ihnen verstarben an ortstypischen Tropenkrankheiten, dass man schnell vom „Grab des weißen Mannes“ sprach.
Um das Jahr 1700 traten an die Stelle des Goldes als dem wertvollsten Exportgut des westafrikanischen Küstengebietes endgültig Sklaven.
Warum ich euch dies alles vortrage, wo es doch längst vergangen ist? Nun, all das macht die Seele Afrikas und der Afrikaner aus. Und nichts ist vergangen, was auch die Gegenwart bestimmt und genauso Vorbote wie Warnung für die Zukunft ist.
Das Abenteuer des „Wächters der Schöpfung“ Bonifacius Kidjo in diesem Buch ist getränkt von der Vergangenheit. Wieder sind Afrikaner genauso Ausgebeutete wie Kollaborateure. Ihre Leidensfähigkeit, körperliche Robustheit aber auch fehlende Solidarität sowie Machtgier sind entscheidende Elemente, von denen geschäftstüchtige Weiße aus europäischer Blutlinie unverändert profitieren wollen.
Einst waren es eine „böse“ Natur, bedrohliche Krankheiten, Sklavenhandel und tiefe Spiritualität, heute sind es eine geheimnisvolle Epidemie, ein US-Pharmakonzern und die Kräfte des Voodoo. – Wo also hört Vergangenheit auf und fängt Gegenwart an, endet Unschuld und beginnt Schuld, grenzt sich Fiktion von Realität ab?
Lest und Ihr werdet vielleicht zu der Erkenntnis gelangen, dass dazwischen gar keine Grenzen zu finden sind und genau mit dieser Erkenntnis auch die Eigenverantwortung beginnt ...