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Kapitel 4

Verdächtige Seuche in Benin

- Wächter der Schöpfung -

Der Konstantin Verlag hatte seinen Hauptsitz am Rande Berlins, in einem mehrstöckigen Gebäude, das der Fassade nach eine spätmittelalterliche Burg hätte sein können. Tatsächlich aber war die Anmutung einem prägenden Baustil der wilhelminischen Zeit geschuldet – dem romantischen Historismus, sandsteingewordene Verehrung eines vermeintlich helden- und tugendreichen Zeitalters. Ursprünglich das Zuhause der öffentlichen Verwaltung in Deutschem Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittem Reich, ging das imposante Bauwerk schließlich in das Eigentum des unabhängigen Konstantin Verlages über. Wie zuvor auch, war ein romantischer Anspruch vor allem auf die Fassade beschränkt. Im öffentlichen Tagesgeschäft erschloss sich das am ehesten im faktenbasierten investigativen Arbeiten der Journalisten für die verschiedenen Redaktionen im Hause sowie in der allgemeinen Immunisierung gegen äußere Einflussnahme. Das damit verknüpfte inoffizielle Tätigkeitsfeld hingegen spielte sich entsprechend der Aktivitäten in geheimen Stockwerken unterhalb des Verlagshauses ab. Dort hatte die Geheimgesellschaft der „Wächter der Schöpfung“ ihren Mittelpunkt.

Bonifacius Kidjo wusste um seine tragende Rolle als Speerspitze dieser unsichtbaren Organisation, besonders auf dem afrikanischen Kontinent. Er wusste um deren Entstehungsgeschichte, kannte die Vita jedes der acht Gründungsmitglieder bis ins Detail. Hier unten, verborgen vor den allzu wissbegierigen Blicken destruktiver Machtmenschen in den Reihen einer weltweit agierenden Gegnerschaft, war er zum Außenagenten ausgebildet worden und wurde er auf seine Missionen eingestimmt. Gegründet 1904 in der Reichshauptstadt Berlin unter dem Eindruck des grausam niedergeschlagenen Aufstandes der Herero und anderer angestammter Völker in Deutsch-Südwestafrika sowie einer entfesselten Kolonialherrschaft europäischer Mächte insgesamt, hatten sich damals die Liebe zum eigenen Vaterland und die tiefe Demut vor den Geboten weltumspannender Humanität gegenseitig bedingt. Daraus war in der Folge ein internationales Netzwerk entstanden, geweiht dem Kampf zum Wohle der Menschheit, zum Schutz der Schöpfung.

Sich diesem Wissen hingebend, blieb Bonifacius auf dem Hauptgang vor einem großen Ölgemälde aus dem Jahr 1907 stehen. Detailgenau war die verschworene Gemeinschaft um den Verleger Armin Konstantin dargestellt – links und rechts neben einem brennenden Kamin im Sitzungszimmer des damaligen Konstantin Verlages stehend. Blicke und Körperhaltung entsprachen dem entschlossenen Wirken zu Lebzeiten. Es war dieses leidenschaftliche Engagement, wie es vor dem Hintergrund noch immer herrschender und stetig zunehmender Unvernunft und Gier globaler Protagonisten unverändert vonnöten war. Kaum zu glauben, machte sich „Shango“ schmerzhaft bewusst, dass selbstzerstörerische Zustände, wie sie vor über einhundert Jahren geherrscht hatten, auch heute noch im Trend lagen. Konventionelles Wettrüsten für die Vorherrschaft auf den Weltmeeren oder die menschenverachtende Entwicklung von Giftgas damals, ungehemmte nukleare, chemische und biologische nebst konventioneller Aufrüstung gegenwärtig. Aber andererseits war es ja auch nie aus der Mode gekommen, ferne Völker und Länder in Geiselhaft zu nehmen, um eine moderne Interpretation der Sklaverei und Ausbeutung zu praktizieren. Im Zeitalter von Hochindustrialisierung, Digitalisierung, technischer Perfektionierung und ökologischer Luftschlösser lagen die Erfordernisse und Begehrlichkeiten klar auf der Hand. Wie ein Rauschgiftsüchtiger lechzte das Irrenhaus des Konsums nach immer mehr „Stoff“ in Form von Rohstoffen.

Was den medizinischen Fortschritt und insbesondere die Entwicklung neuer Medikamente für eine maximal leistungsfähige Bevölkerung in hochindustrialisierten Volkswirtschaften betraf, so stand die anhaltende Ausbeutung von Menschen auf einem ganz eigenen Blatt. Wo Bestimmungen und Gesetze selbst Tierversuche empfindlich einschränkten, musste man eben andernorts aktiv werden, gerne in fernen Ländern, die einstmals Kolonialgebiete gewesen waren – ohne ausreichende Kontrollinstanzen, mit willfährigen beziehungsweise korrupten Regierungen und Persönlichkeiten, empfänglich für Geldzuwendungen. Bei Bedarf stand dort selbst Menschenversuchen nichts im Weg.

Bonifacius sah sich jeden der acht Persönlichkeiten auf dem Gemälde eingehender an. Zeitlebens hatten diese sich als Produkt und Nutznießer des preußischen Erbes betrachtet. Die hervorragende Bildung verdankten sie schließlich einem beispiellosen Bildungssystem, das mit Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht im Jahr 1717 seinen Anfang genommen hatte.

Der Universitätsprofessor der Chemie Erich Beck, auf dem Gemälde unmittelbar links neben dem Kamin stehend – von kleiner zierlicher Statur mit wallendem weißen Haupthaar und ernst durch eine kleine runde Brille blickend – hatte sich noch darauf stützen können, dass die weltweit maßgeblichen Bücher der Chemie in deutscher Sprache verfasst waren.

Direkt neben ihm war der jüdische Jurist Dr. Heinrich Rosenthal verewigt. Dem erfolgreichen Mitinhaber einer Anwaltskanzlei – nicht größer als der Professor aber dafür beleibter und mit dunklem Haarkranz – war sein Temperament anzusehen. Üppiger Schnauzbart und stechende kleine Augen, ebenfalls hinter einer Brille, unterstrichen den Eindruck. Er hatte in seinem Beruf von einem beispiellosen Rechtsstaat profitieren können. Gewaltenteilung zwischen Parlament, Reichskanzler und Justiz, das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900, welches aufgrund der Ausgewogenheit und Effizienz nach und nach von zahlreichen Staaten in großen Teilen übernommen worden war.

An Größe überragt wurden die beiden von einer blondhaarigen schlanken Gestalt hinter ihnen. Es war der Verleger Armin Konstantin. Als Herausgeber auch regierungskritischer Schriften und Artikel zur Innen- und Außenpolitik, hatte dieser sich auf weitreichende Presse- und Informationsfreiheit verlassen können – für seine spitze Feder ein unerlässlicher Verbündeter. Sogar einen Gerichtsprozess gegen Kaiser Wilhelm II., geführt wegen Majestätsbeleidigung und Verleumdung, hatte er gewonnen.

Als nächstes identifizierte Bonifacius den jugendlich erfolgreichen Kaufmann Werner Schönbrunn, den international renommierten Erfinder Friedrich August Weber sowie den adligen Kunstmäzen Karl Tiberius Freiherr von der Tannen. Komplettiert wurde die illustre Gemeinschaft durch einen kaiserlichen Diplomaten namens Konsul Ernst Graf Schliefen und den Generalleutnant Karl von Seitz – beide verdient und im Jahr 1904 bereits außer Dienst.

Mit der Geheimgesellschaft „Wächter der Schöpfung“ hatten diese Persönlichkeiten ein gewichtiges Vermächtnis hinterlassen.

Die unaufgeregte Stimme mit Respekt gebietendem Unterton war wie eine Glocke zur nächsten Runde: »Hier bist du mal wieder. Irgendwann werde ich es dir schenken.«

»Und? Dann komme ich womöglich nicht wieder«, gab der Gesuchte mit ernster Miene zurück und drehte sich zu der Sicherheitschefin von Anfang sechzig um, die ihre reife Attraktivität wie ein Markenzeichen vor sich hertrug.

Nach einem letzten flüchtigen Blick auf das Gemälde steuerte Katrin Kaster zügig auf den Zielort zu, und Bonifacius beeilte sich sie einzuholen.

»„KK“, wie wär‘s zur Abwechslung mal mit einer Haartönung?«, frotzelte er.

»Und gebe die Farbe der Weisheit auf? Wie wär‘s zur Abwechslung mal mit Humor, „Shango“?«, parierte sie trocken, und beide grinsten verhalten.

Im größten Konferenzraum begrüßte der Verleger und Urenkel des Verlagsgründers Armin Konstantin, Andreas Konstantin, seinen Agenten mit festem Händedruck. Er gehörte dem aktuellen Rat der Acht an und würde die Patenschaft für die bevorstehende Mission innehaben. Dazu gehörte auch die Missionseinführung. Auf dem langen Sitzungstisch warteten drei Umschläge mit Unterlagen auf ihre Benutzung. Auf dem Weg dorthin griff Bonifacius sich noch eine Flasche Fruchtsaft von einem Beistelltisch.

Die Unterlagen wurden von allen entnommen, und Konstantin verlor keine Zeit: »Wie Sie sicher aus der Presse wissen, ist in Benin vor vier Wochen eine unbekannte Seuche ausgebrochen, die sich innerhalb von wenigen Tagen ausgebreitet hat. Wir haben es dabei mit einem Krankheitserreger zu tun, der die Gefährlichkeit von Ebola bei weitem übertrifft.«

»Geht es genauer, die Medien hier wie dort lassen bisher keine Details dazu verlauten«, war die scheinbar ungerührte Antwort darauf.

»Ein kurzer Vergleich: Als tödlichster Vertreter unter den Ebolaviren gilt bisher das Zaire-Ebolavirus, beziehungsweise sein Unterstamm „Mayinga“ mit einer statistischen Sterblichkeitsrate von neunzig Prozent. In Benin sprechen wir aktuell von einem Superkiller, der unseren Quellen zufolge mit einer Wahrscheinlichkeit von annähernd einhundert Prozent tödlich verläuft. Hinzu kommt, die Inkubationszeit für Ebola liegt normalerweise bei zwei bis einundzwanzig Tagen, und nach Ausbruch der Krankheit sind die Opfer dann nach spätestens sechzehn Tagen tot – geschwächt von Dehydrierung, gestorben an schweren inneren und äußeren Blutungen sowie Kreislaufkollaps. Jetzt unser Superkiller: Der soll eine Inkubationszeit von maximal sechs Tagen haben. Die Opfer sterben nach Ausbruch der Krankheit innerhalb von acht Tagen. Der Krankheitsverlauf entspricht zum Teil dem des herkömmlichen Ebola – hohes Fieber und wässriger Durchfall plus die schweren Blutungen. Allerdings treten keine schweren Kopf- und Muskelschmerzen auf. Und anstelle der Bläschen und Ausschläge zeigt sich noch ein ganz neues Krankheitsbild. Ab dem dritten Tag bilden sich an Armen, Beinen und Hals offene Wunden, eitrig und übelriechend, die sich schnell ausbreiten und zu Gewebeverlust führen. Das Opfer wird regelrecht aufgefressen.«

Mit Hilfe eines Tischprojektors warf die Sicherheitschefin ein Foto an die Wand, welches ein weibliches Opfer im Endstadium dieser verheerenden Krankheit zeigte. Die Augen glasig und leer, war der ganze Körper eine einzige Wunde aus sich zersetzendem Fleisch.

Nur langsam und mit wackligen Knien war Bonifacius imstande, sich zu erheben. Der Anblick war nichts, was er auch nur annähernd je gesehen hätte – nicht im realen Leben. Und eben das ließ ihn schaudern. Er hatte es zwei Nächte zuvor in seinem Traum gesehen, genau das, neben Hexen, Amazonen und dunkelster Magie. Ein Zufall? Wohl kaum.

»Es hat was von einem biologischen Kampfstoff«, kommentierte er sichtlich schockiert.

Daraufhin schauten sich die Sicherheitschefin und das Ratsmitglied kurz an, bevor Andreas Konstantin die Schlagzahl erhöhte: »Gut möglich. Eine biologische Waffe, geschaffen aus Ebola plus unbekannt. So könnte es sein, zumal eine weitere wichtige Information die ist: Als das Ebolafieber 1976 zum ersten Mal nahe des kongolesischen Flusses Ebola ausbrach, wurde man der sich anschließenden Epidemie kaum Herr. Nach vielen Recherchen stellte man endlich fest, dass mangelndes Desinfizieren und Sterilisieren sowie ausbleibende Quarantäne in einem Krankenhaus die Katastrophe ausgelöst hatten. Unter Einbeziehung dieser Erkenntnisse ist Ebola seither erfolgreicher einzudämmen gewesen. Aber was wir jetzt in Benin vorfinden, lässt sich auf die Art nicht erfolgreich eindämmen. Wie es aussieht, wird dieses Virus nicht nur über Körperflüssigkeiten und direkten Körperkontakt, sondern auch durch Tröpfcheninfektion weitergegeben. Und offenbar geben es auch infizierte Personen weiter, die selber noch gar keine Symptome aufweisen. Das würde kurz gesagt bedeuten, Ärzte- und Katastrophenteams vor Ort haben so gut wie keinen Reaktionsspielraum mehr. Der neue Erreger ist zu schnell.«

Die Art und Weise, wie sich der Referent in seinem Sessel zurücksinken ließ, zeugte zweifelsohne von Alarmstimmung, gab dem Agenten jedoch auch das Gefühl, dass Entscheidendes noch immer zurückgehalten wurde.

Abgeklärt ergriff Katrin Kaster das Wort: »Wir denken, es ist absolut verständlich und richtig, dass alle Involvierten von Regierung bis Weltgesundheitsorganisation das Ausmaß der Epidemie herunterspielen. Eine weltweite Massenpanik hätte unvorhersehbare globale Folgen.«

„Shango“ nickte nur verhalten: »Wenn es eine echte zeitnahe Chance gibt, die Seuche örtlich zu begrenzen oder zurückzudrängen, dann ja. Gibt es eine solche Chance?«

»Damit kommen wir genau zu dem Teil der Geschichte, der uns hellhörig werden ließ«, fuhr Konstantin fort, als hätte er auf diesen Einwurf bereits gewartet. »Als Glück im Unglück scheint sich nämlich das Ausbruchsgebiet zu erweisen. Betroffen ist der Nationalpark von Pendjari – ein UNESCO-Biosphärenreservat zwischen der Atakora-Bergkette und der Grenze zu Burkina Faso – außerdem noch angrenzende Jagdgebiete und Ackerbauflächen. Die ersten Opfer in diesem dünn besiedelten Gebiet waren die Landbevölkerung, Wildhüter, Ökotouristen und Hobbyjäger. Vermutlich durch Jäger und Touristen gelangte der Krankheitserreger bis nach Natitingou, der Hauptstadt des Departement Atakora mit 35.000 Einwohnern. Dass das betroffene Departement eine geringe Bevölkerungsdichte hat und darüber hinaus geographisch abgelegen ist, half sicher dabei, den Supergau zu verhindern.«

Komm schon, Mann, ich will nicht wissen was hilfreich wahr, sondern was so zwingend ist, dass die „Wächter der Schöpfung“ mich da runter schicken. Vielleicht ist es ja sogar der Schlüssel zu meiner Traumbotschaft.

»Für uns entscheidend ist aber das sehr schnelle Eingreifen des US-Pharmaunternehmens ERHC, das sich in Afrika bereits seit über zwanzig Jahren auf dem Gebiet der Krankheits- und Arzneimittelforschung engagiert. Deren offizielles Leitmotiv ist es, dort zu forschen, zu testen und zu entwickeln, wo entsprechende Medikamente den betroffenen Menschen auch helfen sollen. Dieser Grundsatz ist im Übrigen auch in den Buchstaben ERHC enthalten: „Environmental Research for Human Care“, also übersetzt so viel wie „Umweltforschung zum Wohle des Menschen“. - Diese Leute haben strengste Quarantäne-Bestimmungen im nördlichen Teil des Departement durchgesetzt, die von beninischem und französischem Militär umgesetzt werden. Alle Zugangswege einschließlich des Luftraumes wurden hermetisch abgeriegelt. Nun zum spannendsten Teil: Die ERHC hat einen experimentellen Impfstoff eingesetzt, der noch nach Krankheitsausbruch wirksam zu sein scheint. Die Quarantäne soll so lange bestehen bleiben, bis keine Neuerkrankungen mehr gemeldet werden und alle verbliebenen Opfer geheilt sind.«

Kaster und Konstantin sahen zu, wie ihr Agent sich erhob, um sich seine Meinung ziellos auf und ab gehend zu bilden. Als er sich mit dem Rücken an eine der Wände gelehnt hatte, suchte er abwechselnd Blickkontakt zu den Gesprächspartnern: »Es dauert doch Monate, bis man genügend Impfstoff kultivieren und herstellen kann – vorausgesetzt man hatte vorher ausreichend Zeit, um Herkunft, Charakter und Wirkungsweise des Erregers zu entschlüsseln. Im Fall der ERHC würde das also heißen, man hätte schon viel länger von der Existenz exakt dieses Erregers gewusst. Und dann ginge es in Benin nicht um eine neue Krankheit. Und warum greift diese Seuche gerade dort um sich, wo verhältnismäßig wenig Menschen leben und kaum Bevölkerungsaustausch stattfindet? Das Departement Atakora ist ja nicht gerade ein internationaler Knotenpunkt. Außerdem, na ja ohne Experte zu sein, ich würde so einen Erreger eher im Regenwaldgebiet des Kongobeckens vermuten – Demokratische Republik Kongo, Kamerun, …«

»… oder Gabun«, führte der Verlagschef zu Ende. »Ja, das hat uns auch beschäftigt. Und siehe da, unser Netzwerk in Benin hat uns Informationen geliefert, wonach das besagte Pharmaunternehmen nicht nur eine Afrikazentrale in Benins Wirtschaftszentrum Cotonou unterhält, sondern auch kleinere Niederlassungen und Büros in Ländern des Kongobeckens – nicht unter der Firmierung ERHC, wohlgemerkt. In einer halboffiziellen Unternehmensinformation heißt es knapp, man sei dort bereits vor drei Jahren auf dieses neuartige Virus gestoßen. Man sei außerdem in der Holzwirtschaft vor Ort aktiv, quasi als stiller Teilhaber. So wolle man die Chance nutzen, in neu erschlossenen Gebieten nach unbekannten tropischen Heilpflanzen und Krankheitserregern zu forschen …«

»Mit Verlaub, das stinkt doch zum Himmel«, fiel Bonifacius ihm höhnisch auflachend ins Wort. »Zum Wohle der Afrikaner rodet ein US-Pharmariese afrikanischen Regenwald. Wer kauft denn so was?!«

»Na zunächst einmal jeder, der davon profitiert«, übernahm Katrin Kaster das Wort. »Folgenden Vorfall haben wir recherchiert: In einem der Holzfäller-Camps tief in den Regenwäldern Gabuns – die Einheimischen nennen das Gebiet Bienenwald und meiden es, weil angeblich nie ein Mensch von dort zurückgekehrt ist – ist der jetzt wieder aktive Erreger erstmals ausgebrochen. Alle Infizierten sind damals noch vor Ort verstorben. Aufgrund der akuten und absolut tödlichen Ansteckungsgefahr hat man Leichen und Camp restlos verbrannt und das Gebiet zur Todeszone erklärt – inklusive Nachrichtensperre. Zuvor hatte die ERHC noch Blut- und Gewebeproben entnommen, um mit der Erforschung beginnen zu können. – Wir haben die Geschichte mit unseren Kontaktleuten in Benin und Zentralafrika abgeglichen. Es ist tatsächlich passiert, und die ERHC hat diese Information unter dem Eindruck der aktuellen Krisensituation auch so an die Regierung Benins und die WHO kommuniziert – als Geheimdossier.«

Andreas Konstantin wartete ab, bis sich „Shango“ wieder gesetzt und den Rest seines Fruchtsaftes ausgetrunken hatte. In der Tat schien alles an der ERHC koscher zu sein. Aber alles, was in einer Krise zu perfekt daherkam, ließ auch ihn zweifeln. Nichtsdestotrotz waren Zweifel zunächst nur Vermutungen.

»Fakt ist, mit der Unternehmensinfrastruktur und einem Zeitfenster von drei Jahren hätte man einen wirksamen Impfstoff herstellen können. Und der Krankheitserreger könnte durchaus natürlichen Ursprungs sein. Nicht umsonst sagen Experten dieses Jahrhundert als das der unbekannten Krankheiten voraus. Schauen wir uns doch die fortschreitende Regenwaldvernichtung an. Mit Eindringen in unberührte Urwaldgebiete nimmt das Phänomen zwangsläufig zu.«

»Trotzdem sitzen wir hier zusammen«, ließ sich Bonifacius nicht beirren. Er spürte, dass das Wesentliche noch immer nicht gesagt worden war.

Darüber musste nun das Ratsmitglied lachen. »Sehr richtig, das tun wir. – Weil sich die ERHC gerade so erfolgreich als alleiniger Lebensretter und Heilsbringer inszenieren kann, wird sie niemand in Frage stellen. Aber Pharmariesen streben letztlich immer nach Gewinnmaximierung. Diese Zunft hat schon die Lebensmittelindustrie erobert, und verbrecherische Arzneimittelforschung an lebenden Testpersonen in Ländern Afrikas ist ein offenes Geheimnis. Weshalb sollte der nächste Schritt also nicht sein, Menschen gezielt krank zu machen, um sie anschließend mit exorbitantem Profit wieder zu heilen? Ein Szenario wie jetzt in Benin gibt der ERHC alle Trümpfe in die Hand. Und was könnte die Verantwortlichen davon abhalten, die biologische Bombe als nächstes in Cotonou, Kapstadt oder überall auf der Welt zu zünden? Monopolstellung und beste Reputation lässt sie über jeden Zweifel erhaben erscheinen.«

»Und was noch?«

Konstantin sah zur Sicherheitschefin hinüber, um ihr das letzte Wort zu überlassen. Ein Spiel, welches beide bestens beherrschten. »Innerhalb der letzten zwei Jahre sind zwei leitende Angestellte von ERHC Afrika und ein hoher Beamter des beninischen Gesundheitsministeriums ums Leben gekommen. Der Regierungsbeamte war für alle ausländischen Unternehmen und Organisationen zuständig, die in Benin im Gesundheitsbereich tätig sind – also auch für die ERHC. Eine weitere Verbindung sind die mysteriösen Todesumstände. Der Regierungsmann sprang aus dem sechsten Stock seines Bürofensters, kurz nachdem er gutgelaunt eine Besprechung mit Repräsentanten verschiedener Firmen verlassen hatte. Er stand kurz vor der Nominierung für ein höheres Regierungsamt, war beliebt und galt als unbestechlich. Laut Sekretärin war niemand bei ihm im Zimmer, als es geschah. Der erste Angestellte unseres Pharmaunternehmens brach urplötzlich mit Schmerzen im Bauchbereich zusammen. Während der Fahrt in eine Privatklinik hat er sich unter Krämpfen die eigene Zunge abgebissen. Kurz darauf ist er verstorben. Zur Todesursache konnte oder wollte das Klinikpersonal keine genauen Angaben machen. Dann der zweite ERHC-Angestellte, der dem Wahnsinn verfallen sein soll. Es begann wohl damit, dass er nur noch mit imaginären Wesenheiten sprach. Er wurde schreckhaft und nervös, bekam Schweißausbrüche und zitterte. Nach wenigen Tagen war seine Sprache für niemanden mehr verständlich. Am Ende fand ihn seine Ehefrau Tod und unnatürlich verkrampft auf dem Schlafzimmerboden.«

Das Gehörte war Bonifacius nicht fremd, unabhängig von seinem jüngsten Traum. Die Angst davor gehörte in Westafrika zum alltäglichen Leben. Von seinem beninischen Adoptivvater wusste er, dass man hinter vorgehaltener Hand auch von der „Afrikanischen Krankheit“ sprach. Doch was hatten Aberglaube und spirituelle Kräfte mit einem westlichen Pharmaunternehmen und einer tödlichen Seuche zu tun?

Mit dem an die Wand projizierten Foto einer äußerst charismatischen Schwarzafrikanerin gewann Kaster seine Aufmerksamkeit zurück: »Das ist Dr. Djayéola Biassou. Sie hat in Deutschland Mikrobiologie und Virologie studiert und arbeitet für das beninische Gesundheitsministerium. Genau wie du, gehört sie außerdem einer Geheimgesellschaft an. Mit ihr wirst du zusammenarbeiten.«

Es war ein natürliches Gesicht, frei von sichtbarer Kosmetik, mit harten Zügen wie aus Ebenholz gefertigt. Die Augen, katzenhaft geschwungen und groß, entfalteten hypnotische Wirkung und hinterließen den Eindruck, als hätten sie schon weitaus mehr gesehen, als was ein einzelnes Menschenleben herzugeben imstande war. Zusammen mit der schmucklosen Kurzhaarfrisur löste der Anblick ein Déjà-vu-Erlebnis in ihm aus, das er nicht zuzuordnen wusste.

»Eine Kriegerin«, entfuhr es ihm, ohne zu begreifen weshalb.

Für einen Augenblick war auch die Sicherheitschefin der „Wächter der Schöpfung“ verwirrt, die jedoch nicht weiter darauf einging. »Deine Führerschaft ist dringend gewünscht. Für unsere neuen Partner in Benin ist deine Rolle eine spirituelle Notwendigkeit, um die göttliche Ordnung wieder herzustellen. Deshalb wird dir Dr. Biassou als „Kopilotin“ untergeordnet sein. – Morgen fliegst du nach Cotonou.«

Auf dem Weg aus den geheimen Eingeweiden des Konstantin Verlages war es an der Zeit, sich endlich auch musikalisch auf die gefahrvolle Mission vorzubereiten. Einem unverzichtbaren Ritual folgend, wählte der Agent ein Stück aus seiner persönlichen Favoritenliste aus. Kurz darauf erklang Curtis Mayfield mit „Right on for darkness“ in seinen Ohren. – Oh ja, wenn sich die gebildete Oberschicht an der Spitze der Pyramide mit gierigen Fingern an den Rechten auf körperliche und seelische Unversehrtheit anderer bediente, war massive Gegenwehr angesagt. Das hatte 1973 zu Zeiten dieses politischen Soul-Funk-Leckerbissens ebenso gegolten, wie es nach wie vor noch immer gelten musste – selbstverständlich auch in einem Land Afrikas.

Blutpharmazie - Im Bannkreis des Voodoo

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