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Kapitel 1

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Meta Hallenga ließ ihren Blick durch das Refektorium schweifen. Keine der anderen Schwestern im Speiseraum des Klostervorwerks schien etwas gehört zu haben. Alle aßen schweigend weiter. Hatte sie sich den Schrei nur eingebildet?

Der Platz von Schwester Frauke war leer, wie so oft in letzter Zeit. Vorsteherin Meta Hallenga wusste, dass es gegen die überlieferten Regeln verstieß, aber in so bewegten Zeiten musste man gegen Regeln verstoßen, um die Ordnung bewahren zu können.

Meta Hallenga hatte ihr Klostervorwerk Oldekamp sicher durch diese stürmischen Zeiten gebracht. Zweiundzwanzig Nonnen lebten außer ihr noch in Oldekamp, und nur sieben Schwestern hatten im vergangenen Jahr das Kloster verlassen. Eine von ihnen war vor einigen Wochen sogar zurückgekommen: Schwester Frauke.

Die kurze Zeit im Leben da draußen hatte Schwester Frauke verändert. Die lebenslustige junge Frau war still geworden. Das Zusammensein mit den anderen war anstrengend für sie. Am liebsten tat sie ihren Dienst draußen bei den Hütten, in denen Kranke versorgt wurden. Schwester Frauke kümmerte sich hingebungsvoll um die beiden alten Frauen, die dort zurzeit gepflegt wurden. Und sie betreute die Bienenkörbe, die in der Nähe standen.

Wegen dieser Aufgaben hatte Schwester Frauke sich die Erlaubnis geben lassen, in Ausnahmefällen nicht zu den gemeinsamen Mahlzeiten erscheinen zu müssen und ihre Gebete auch dort draußen verrichten zu dürfen. Meta Hallenga hatte sich damit einverstanden erklärt, obwohl sie wusste, dass der Grund ein anderer war.

Warum mied Schwester Frauke die Gemeinschaft mit den anderen? Und was hatte sie in den Monaten außerhalb des Klosters erlebt? Vielleicht war es an der Zeit, Schwester Frauke darauf anzusprechen und ein längeres Ausweichen nicht mehr zu dulden. Sicher, alles hatte seine Zeit, das wusste Meta Hallenga. Aber manchmal musste die Liebe auch ungeduldig sein und ein wenig nachhelfen. Sie machte sich Sorgen um Frauke.

Vielleicht war der Schrei, den nur sie gehört hatte, keine Einbildung, sondern ein Zeichen Gottes, dass Schwester Frauke jetzt ihren Beistand brauchte.

Gleich nach der Mahlzeit verließ Meta Hallenga das Kloster und machte sich auf den Weg zu den Krankenhütten. Sie fand Schwester Frauke bei den Bienenkörben.

Meta Hallenga brauchte einen Moment, um das Bild aufzunehmen, das sich ihr bot.

Frauke lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, mitten in der Brust der Schaft eines Pfeiles. Die Wucht des Geschosses hatte sie in die Bienenkörbe geschleudert, und im Fall musste Frauke zwei Körbe mit umgerissen haben, sodass sie von Bienen umschwärmt wurde.

Langsam löste sich Meta Hallenga aus der Erstarrung, und vorsichtig näherte sie sich Frauke. Lebte die Schwester vielleicht noch?

Plötzlich hörte sie ein Geräusch aus den Büschen, ein Zweig knackte. Ein Tier? Oder hatte sich dort Fraukes Mörder versteckt?

Meta Hallenga war eine furchtlose Frau. Ihr war klar, dass der Mörder nicht zögern würde, auch auf sie zu schießen. Aber der Anblick von Schwester Frauke versetzte sie in Wut. Sie nahm den Knüppel, der an der Tür lehnte, ging schnurstracks auf die Büsche zu und schlug mit dem Stock auf sie ein. Zornig war sie, und sie fühlte sich hilflos. Und die Hilflosigkeit vermehrte ihren Zorn. Immer wieder drosch sie mit dem Knüppel in das dichte Buschwerk. Wenn der Mörder wirklich noch hier wäre, hätte er längst auch auf sie geschossen. Sicher hatte er sich davongemacht.

Meta Hallenga ließ den Stock sinken. Sie sprach mit erhobener Stimme: »Das verspreche ich Euch, wer auch immer Ihr seid: Ich werde nicht Ruhe geben, bis ich Euch von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und Rechenschaft von Euch verlange. Darauf gebe ich Euch mein Wort!«

Sie wusste, dass diese Drohung an eine abwesende Person genauso sinnlos war wie ihre Suche mit dem Knüppel im Unterholz. Sie wandte sich ab, um ihre Mitschwestern zu holen.

Atemlos hatte er jedes Wort gehört, das die Vorsteherin in seine Richtung gesprochen hatte. Sein Herz klopfte so laut, dass er dachte, sie müsste es hören. Er hatte keinen zweiten Pfeil für seine Armbrust mitgenommen, nur diesen einen, der für Frauke bestimmt war und seinen Zweck erfüllt hatte. Niemandem sonst wollte er ein Leid zufügen.

Er war erleichtert, als die Frau endlich ging. Ihm würde nicht viel Zeit bleiben. Schon bald würde sie mit den anderen Nonnen hier sein.

Rasch kehrte er zu seinem Opfer zurück, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Vorsteherin wirklich gegangen war. Nun musste er vollenden, was er sich vorgenommen hatte und wobei er von der Vorsteherin gestört worden war. Was er zu tun hatte, war schnell erledigt. Nur wegen der vielen Bienen musste er behutsam sein.

Er nahm einen kleinen Lederbeutel, schnürte ihn auf und schüttete den Inhalt auf die Tote. Salz.

»Salz!«, sagte Evert Bruns, der neben der toten Nonne kniete. Bruns war als Stellvertreter für seinen kranken Drosten ins Klostervorwerk Oldekamp gekommen und sah sich die getötete Schwester Frauke und den Fundort der Leiche an. Vorsteherin Meta Hallenga stand stumm neben ihm, während Bruns’ Männer das Unterholz durchsuchten.

»Arcubalista!«, bemerkte Häuptling Ulfert Fockena, der gerade einen Krankenbesuch beim Drosten gemacht hatte, als die Nachricht von der Ermordung einer Nonne eingetroffen war. Er hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, Evert Bruns auf der Jagd nach dem Mörder zu begleiten. Zwei Männer hatten inzwischen die Bienenkörbe beiseitegeschafft, und die Bienen beruhigten sich langsam.

»Arcu … ja, ja, und überall ist es verstreut«, erwiderte Bruns.

»Eure Lateinkenntnisse sind so enorm wie Euer ganzer Verstand!«, foppte Fockena den ratlosen Mann.

»Warum streut denn jemand Salz auf eine Tote?«, murmelte Bruns.

»Und warum ist sie überhaupt ermordet worden?«, fragte Meta Hallenga. »Wer schießt mit einem Bogen auf eine Braut Christi?« Ihre Stimme hatte nicht den sonst üblichen Nachdruck.

»Arcubalista«, wiederholte Ulfert Fockena und hob die Augenbrauen. »Dies ist der Bolzen einer Armbrust. Diese Waffe ist etwas aus der Mode gekommen in den letzten Jahren.«

»Es geht hier nicht um Mode, sondern um Mord, lieber Herr Ulfert!«, gab Evert Bruns zurück.

Ulfert Fockena hörte schon gar nicht mehr hin und sah sich um. Er ging an der Stelle auf das Unterholz zu, wo er den Standort des Schützen vermutete. Der große, schwergewichtige Mann schritt leichtfüßig um die Bienenkörbe herum in das Gebüsch.

»Kommt hierher, aber vorsichtig, tretet nicht alles platt«, forderte er die anderen auf. Bruns gab seinen Männern mit umständlichen Handbewegungen zu verstehen, dass sie bleiben sollten, wo sie waren, und dass er den Fundort der Leiche allein besichtigen wollte.

Meta Hallenga dachte gar nicht daran, diese Anweisung auf sich zu beziehen, und schob Bruns beiseite. Noch ehe er sie zurechtweisen konnte, packte sie ihn am Arm: »Na los, Bruns! Wollt Ihr hier Wurzeln schlagen?« Vorsichtig ging sie zu der Stelle, wo Ulfert Fockena kniete.

»Und was soll hier sein?«, fragte Evert Bruns enttäuscht, als er nur Büsche und Gras vorfand.

»Hier ist gleich gar nichts mehr, wenn Ihr so weitertrampelt«, antwortete Fockena gereizt. »Von hier ist der Schuss auf Schwester Frauke abgegeben worden. Dazu passt auch, wie sie auf dem Boden liegt. Ihr Mörder muss lange gewartet haben. Das Gras ist so platt gedrückt, dass er eine ganze Zeit gesessen haben muss. Man hat durch das Gebüsch einen ausgezeichneten Blick auf das Haus und den Stall. Er musste nur auf die Schwester warten. Vielleicht hatte er es direkt auf sie abgesehen und wusste, dass sie an diesem Ort anzutreffen war.«

»Schwester Frauke hielt sich gern draußen auf«, bestätigte Meta Hallinga. »Seit sie zu uns zurückgekehrt war, brauchte sie immer Abstand zu uns anderen. Sie hatte ein besonders enges Verhältnis zu Schwester Idje, unserer Imkerin. Idje ist vor einem halben Jahr verstorben, und war immer so etwas wie eine Mutter für sie. Als Frauke zurückkam, hatte ich gehofft, dass ich Schwester Idje ein wenig für sie ersetzen könnte. Aber Frauke war so anders geworden in dieser kurzen Zeit …«

»Das ist doch unwichtig, Frau Meta«, polterte Evert Bruns. »Langweilt uns doch nicht mit solchen Plaudereien. Es war sicher ein Dieb, der etwas holen wollte und den Frauke überrascht hat.«

»Sie war so seltsam bedrückt. Da stimmte etwas nicht mit ihr«, wandte Meta Hallenga ein.

»Geht, und lasst uns das machen. Das ist nichts für Frauen. Kümmert Euch um Eure anderen Lämmlein besser als um dieses!«, forderte Bruns sie auf.

Meta Hallenga drehte sich zu ihm um und maß ihn von oben bis unten mit einem durchdringenden Blick, dass Bruns ein wenig mulmig wurde. Dann sagte sie leise und bestimmt: »Jeder gepökelte Schweinskopf hat mehr Verstand als Ihr, Amtmann Bruns. Nur Euer Benehmen ist noch schlechter als Euer Denkvermögen. Wie übel muss es um uns bestellt sein, wenn der Graf Leute wie Euch das Land führen lässt.«

Evert Bruns stand mit offenem Mund vor ihr und glotzte sie an. Bevor er überhaupt daran denken konnte, ob und wie er darauf passend antworten wollte, fuhr die Vorsteherin fort: »Ich verstehe nichts vom Waffenhandwerk. Aber es wurde nicht der Mörder überrascht, sondern die arme Frauke. Der Mörder hat hier seelenruhig gesessen und gewartet. Ein überraschter Räuber schlägt vielleicht jemanden nieder oder geht mit dem Messer auf ihn los. Aber dieser Schuss wurde gezielt auf etwa zehn Schritte aus einem sicheren Versteck abgegeben.«

»Da ist vielleicht was dran, also … wenn Ihr meint …«, wollte Bruns einlenken.

»Ich meine gar nichts!« Meta Hallengas Stimme wurde lauter. »Als ich eintraf, war der Mörder noch da. Ich hörte es rascheln im Gebüsch. Und wenn ich ein Mann gewesen wäre, dann …« Sie hatte Tränen in den Augen und schluckte. »Ich werde jetzt zu den anderen gehen und sie trösten.«

Mit erhobenem Haupt und kleinen, tippelnden Schritten ging sie davon. Ulfert Fockena sah ihr mit großen Augen hinterher.

Das Salz der Friesen

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