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Einleitung und Übersicht

Dem Schweizer Pragmatismus würde eine Vision nicht schaden

Die Schweiz ist ein Kleinstaat mit einer spezifischen und einmaligen Politkultur und entsprechenden Strukturen. Mitbestimmung und demokratische Kontrolle sind zwei Schlüsselwörter. Eigenverantwortung und ein Misstrauen gegenüber übergeordneten Instanzen gehören ebenso zur Grundströmung, wie die unkritische und vertrauensbasierte Haltung gegenüber Personen, welche – politisch wie sozial - als Ingroup bezeichnet werden könnten.

Eine solche Ausgangslage verschreibt sich dem Pragmatismus, den Opportunitäten. Eine Beeinträchtigung der eigenen Freiheit und Autonomie wird nur akzeptiert, wenn es wirklich nicht anders geht. Visionen im Sinne einer politisch strategischen Weitsicht haben da kaum Platz. Ihnen wird mit Misstrauen oder oft einem süffisanten Lächeln begegnet. Da politische Entscheide der Prüfung von Experten und Expertinnen, von Kommissionen, der Verwaltung, in Vernehmlassungsverfahren und schlussendlich unter Umständen noch in einem Referendum bestehen müssen, bleibt für eine Vision und eine langfristige Strategie tatsächlich wenig Raum übrig.

Dies soll aber nicht verhindern, dass sich Bürger und Bürgerinnen, Philosophen und Philosophinnen oder ganz einfach denkende Personen Gedanken über die Zukunft machen. Dabei sind nicht einfach Intellektuelle gefordert. Ich erinnere mich: Als Halbwüchsiger hatte ich – für meine damalige Gefühlslage viel zu oft - die Gelegenheit, meine Verwandten in Brienz zu besuchen. Das oft sonntägliche Vergnügen war eine Qual. Der einzige Lichtblick war stets der Besuch bei einem Vetter meines Vaters. Er war Schnitzler und hat sein ganzes Leben an der Schnitzlerbank verbracht. Ob er je und, wenn ja, wie lange er zur Schule gegangen war, konnte ich nie in Erfahrung bringen. Das Erstaunliche für mich war, dass dieser Schnitzler Meissel und Hammer dazu verwendete, um über die Zukunft und über das politische Geschehen nachzudenken. Er kam zu Folgerungen auf Grund vertieften Nachdenkens, die

mich immer in Staunen versetzten. Noch heute denke ich mit Verwunderung und Bewunderung für meinen Onkel an diese Gespräche.

Das vorliegende Papier war ursprünglich als Manifest gedacht. Mit fortschreitender Arbeit kamen jedoch immer mehr Zweifel auf. Das Schwergewicht sollte doch mehr auf Fragen als auf Lösungen gelegt werden. Am liebsten hätte ich CICERO als Personifizierung republikanischer Werte auf die Frontseite gedruckt; gewissermassen als unbestechlicher Beobachter der politischen Szene. Auf der Frontseite steht nun ein Ausschnitt des Freskos von Ambrogio Lorenzetti aus dem Jahr 1337/38 in Siena. Das Bild entstand vor der Wiederentdeckung der antiken Denker und dem Hype, den die Humanisten daraus machten. Es entstand etwas später als das revolutionäre Gemälde, die Madonna mit Kind, von Duccio, welches die ganze Bürgerschaft des aufkommenden Siena in Begeisterung versetzte. Das Fresko von Ambrogio zeigt den Mitgliedern des Rates der Neun, was es braucht zur guten Regierungsführung. Es ist eines der ersten Bilder des ausgehenden Mittelalters, das nicht Maria, die Heiligen oder Szenen aus der Bibel darstellt. Das Wohl des Volkes, Gerechtigkeit und Tugend waren die Leitideen für seine Entstehung.

Die folgenden Ausführungen sind das Produkt eines interessierten Bürgers mit dem Hintergrund eines Historikers und den Erfahrungen einer Person, welche beruflich mit internationaler Zusammenarbeit viel unterwegs war. Das Schwergewicht des Historikers sollte auf der Analyse liegen. Dazu gehört in diesem Text eine Wertung, deren Ausgangspunkt aber nicht die Wissenschaft ist, sondern das Erlebte und damit auch das Subjektive und Emotionale. Allerdings würde aus dieser Haltung nicht ein Papier entstehen, wenn da nicht auch ein politisches Verantwortungsgefühl, die Sorge eines Bürgers aufblitzen würde: Wie wird sich unsere Welt, die Schweiz, aber auch das persönliche Umfeld verändern?

Es gibt deshalb durchaus Folgerungen, welche aufgrund der Analyse, der persönlichen Erfahrungen und Emotionen recht kategorisch und auch kontrovers ausfallen. Aus der Sicht des Schreibenden weisen die Aussagen aber über das persönlich Empfundene hinaus. Es soll sich hier

um einen Diskussionsbeitrag handeln. Dieser soll anregen und auf Widerstand stossen. Wenn es gelingt, eine Diskussion zu provozieren, ist das Ziel mehr als erreicht. Und der Schreiber glaubt, was er schreibt und will dies auch mitteilen. Seine Sicht soll manifest werden und deshalb trug das Papier zuerst den Titel «Manifest».

Das Magnetfeld für die Schweiz von morgen

Es gibt Treiber der Veränderung, welche schon lange wirken, aber jetzt einen neuen Grad von Wirksamkeit erreicht haben. Es gibt auch globale Herausforderungen, welche genügend erkannt sind, aber immer dringender einer Reaktion bedürfen und nach Handeln rufen. Es gibt zusätzlich kurzfristige politische Veränderungen mit potentiell langfristigen Folgen.

Der dominierende Vektor der Veränderung kann mit Globalisierung zusammengefasst werden. Diese hat sich beschleunigt und bringt uns heute mit der Digitalisierung neue, schnelle Problemlösungen, aber ebenso grosse Unsicherheiten. Neu sind seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Reaktionen auf diese Entwicklung.

Nicht direkt mit der Globalisierung verbunden, aber von ihr beschleunigt, sind die grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, mit denen die Menschheit bereits heute konfrontiert ist: Es geht um Klimawandel, demographische Veränderungen mit Migration, Armut, Zugang und Management von Ressourcen und Pandemien. Es sind dies globale Probleme mit starker lokaler Wirkung. Sie können nur im Verbund oder mindestens in enger Koordination der Staaten untereinander bewältigt werden. Sie verlangen aber auch Massnahmen, welche das herkömmliche staatliche und gesellschaftliche Gefüge unter Druck setzen. Unsere Demokratie mit Referendum, Föderalismus und Gemeindeautonomie ist in Zukunft ganz besonders gefordert.

Schliesslich gibt es politische Entscheide, deren Folgen wir heute nicht abschätzen können. Der Austritt Grossbritanniens aus der EU verkleinert den Wirtschaftsraum Europa und damit die politische Hebelwirkung Europas gegenüber den Grossmächten. Natürlich können wir insistieren, dass auch wir Europa sind und dass Europa nicht unbedingt mit der EU identisch ist. Es ist ein Argument, das nur für Politiker und Politikerinnen und nur kurzfristig von Belang ist. Geopolitisch wichtiger als Europa ist die Position der Vereinigten Staaten. Für den amerikanischen Präsidenten ist die NATO obsolet geworden. Er hat auch schon einmal die EU für die USA als schlimmer als China bezeichnet. Und es wäre ein Irrtum, diese Aussagen als blossen Gemütszustand einer Person zu ignorieren. In der globalisierten Welt hat Europa an Gewicht eingebüsst. Bereits nach 9/11 handelten die USA alleine, wenn auch mit einer grossen Anzahl williger Staaten im Schlepptau, was einen hohen Symbolgehalt aber kaum Wirkung zeigte. Die NATO-Staaten haben sich in Afghanistan nur für Ruhe und Ordnung interessiert und zum Irakkrieg haben sie sich mit Ausnahme von Grossbritannien ablehnend verhalten. Die USA konnten nicht mehr auf Europa zählen.

Die USA und Europa haben noch viele gemeinsame Interessen und die Amerikaner werden auch in Zukunft froh sei, sich in der Auseinandersetzung mit Russland und China auf Europa verlassen zu können. Wir dürfen uns dabei aber keine Illusionen machen: Die USA verlieren ihr Interesse an Europa und am Mittleren Osten (mit Ausnahme von Israel) und stützen sich nur noch auf Saudi-Arabien ab. Europa muss alleine zurechtkommen.

Die Jahre 2015/16 sind Schlüsseljahre. Deutschland öffnete den Flüchtlingen Tür und Tor und provozierte damit im eigenen Land und in der EU eine Krise. Die USA haben mit Herrn Trump einen antiliberalen Nationalisten gewählt und Grossbritannien stimmte für den Austritt aus der EU und träumt von einer glänzenden Zukunft als Juniorpartner der USA.

Für die Schweiz stellt sich die Frage, wie sie mit den globalen Herausforderungen umgehen soll. Wie sie sich in diesem veränderten Umfeld positionieren kann und welches die innenpolitischen Folgen sein werden. Ist die Schweiz fit für das 21. Jahrhundert? Am Schluss des Papiers werden Vorschläge für politische Anpassungen gemacht. Sie sind bescheiden und die Befürchtung ist berechtigt, dass sie nicht genügen werden.

Die Gliederung des Papiers

Im folgenden Text verwende ich meistens die Wir-Form. Ich gehe davon aus, dass wir als Bürger und Bürgerinnen angesprochen sind. Damit möchte ich uns alle auf die Reise einer gemeinsamen Reflexion mitnehmen.

Im ersten Kapitel versuche ich, die Ausgangslage der Schweiz zu beschreiben und die bestimmenden Faktoren für die innenpolitische Strömungen zu analysieren. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg hat Grundlagen gelegt, welche die Mentalität und das politische Denken bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts entscheidend beeinflusst haben.

In zweiten Teil werden die wichtigsten äusseren Veränderungen eingefangen, welche den Spielraum der Schweiz im neuen Jahrhundert beeinflussen. Ich verbleibe dabei gewissermassen auf der Metaebene der übergeordneten Faktoren. Ich konzentriere mich nicht auf die starken technisch-materiellen Entwicklungen, sondern auf die mächtigen Veränderungen geopolitischer und gedanklicher Art.

Kapitel drei versucht, die Kräfte der Gegenreaktion aufzuspüren.

Das Kapitel vier fokussiert die Schweiz. Ich will zeigen, wie sich die globalen Entwicklungen auf die Schweiz auswirken.

Das abschliessende Kapitel diskutiert den innenpolitischen Handlungsbedarf, wobei gleichzeitig die Frage gestellt wird, was für eine Schweiz eigentlich wünschbar wäre, und ob wir die Energie und den Willen haben, uns für das neue Jahrhundert fit zu machen.

Welche Schweiz für morgen?

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