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ОглавлениеInzwischen ist es später Nachmittag. Nach Olgas Verschwinden habe ich eine Dose Erbsensuppe im Wasserbad erhitzt und dazu etwas Graubrot gegessen. Ich nahm mir vor gegen Abend bei der Telefonnummer durchzurufen, die Olga an ihrem ersten Arbeitstag hinterlegt hatte. So einfach sollte sie mir nicht davonkommen, Verpflichtungen müssen schließlich eingehalten werden!
Ich sitze am Esszimmertisch, der BROCKHAUS liegt vor mir. Ich lese: Grosny, Hauptstadt von Tschetschenien, im nördlichen Vorland des Großen Kaukasus; etwa 50.000 Einwohner; durch Luftangriffe und zwei russische Militärinvasionen sehr stark zerstört. Ich blättere zum Buchstaben T: Tschetschenien, Republik innerhalb Russlands, 781.000 Ew. - Seit dem 18.Jh. leisteten die muslimischen Tschetschenen Widerstand gegen die russische Kolonialpolitik; Unterdrückung des Islam; 1944 Deportation der Tschetschenen nach Zentralasien. Nach einseitiger Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens 1994 bis 1996 opferreiche militärische Auseinandersetzungen mit Russland.
Ich klappe die Bücher langsam zu und lege die Lesebrille auf den Tisch. Unfassbar. Seit Monaten geht bei mir eine Tschetschenin ein und aus, und ich weiß nichts davon. Ich streiche mit beiden Händen über die kümmerlichen Reste meines eisgrauen Haares und schlurfe zum Telefon. Die Nummer von Johannes ist eine der wenigen in meinem Adressbuch, die ich noch nicht durchgestrichen oder mit dem Vermerk ‚verstorben‘ versehen habe.
„Hallo Johannes, hier ist Richard.“
„Richard, alter Knabe, wie geht es dir, isst du immer noch Erbsensuppe aus der Dose?“
„Abgesehen davon, dass ich kaum noch laufen kann und heute beinahe umgebracht wurde, geht es mir gut. Und du, mal wieder Reis gefuttert?“ Johannes ist fünfundsiebzig und mit einer zwanzig Jahre jüngeren Vietnamesin verheiratet.
„Jeden Tag, jeden Tag, haha! Hat aber scheinbar nicht geklappt, das mit dem Umbringen, oder? Mich wundert sowieso, dass es noch keiner getan hat!“ Sein Gelächter geht in einen Hustenanfall über und ich nutze die Gelegenheit, um zur Sache zu kommen: „Sag mal, du alter Hühnerdieb, du warst es doch, der mir Olga B. als Haushaltshilfe empfohlen hat, nicht wahr?“
„Ja, eine ganz nette und zuverlässige Frau. Wieso fragst du, bist du nicht zufrieden mit ihr?“
„Zufrieden? Na, denn hör dir mal an was heute passiert ist.“ Und dann erzähle ich Johannes alles, nur unterbrochen von einem gelegentlichen aha oder ach was! und ich beende meine detailgetreue Nacherzählung der Ereignisse mit der Frage: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie Angehörige eines aufrührerischen, muslimischen Volkes ist?“ Und in Erwartung von so etwas wie entrüsteter Zustimmung beuge ich mich leicht nach vorne.
„Richard?“
„Ja, Johannes?“
„Du bist ein Trottel.“
Für eine kurze Ewigkeit ist nichts weiter als das röchelnde, asthmatische Atmen zweier alter Männer zu hören. Ich überlege, ob ich die Verbindung unterbrechen soll. Zwar kenne ich Johannes schon sehr lange, doch so darf er nicht mit mir reden. Niemand darf so mit mir reden. Andererseits ist es in meinem Alter töricht und dumm, den Beleidigten zu spielen. Ich bin dreiundachtzig. Ich habe keine Zeit mehr, beleidigt zu sein.
„Wie meinst du das?“, frage ich.
„Jetzt hör mir mal gut zu, Richard! Du wirst noch heute Abend bei Olga anrufen und dich entschuldigen, und dann wirst du morgen in die Stadt fahren, ein ordentliches Geschenk besorgen und es bei ihr abliefern, die Anschrift gebe ich dir gleich. Du solltest dich in Grund und Boden schämen, hast du überhaupt eine Ahnung, was diese Frau hinter sich hat?“
Ja ist denn die ganze Welt verrückt geworden! Jetzt wird es mir doch zu bunt und ich lege auf. Ächzend erhebe ich mich aus dem Armlehner meiner Mutter und gehe auf den Stock gestützt zum Fenster. Der Feierabendverkehr rollt zweispurig in die Innenstadt hinunter, Maschinen aus Stahl und Kunststoff, verzerrte Gesichter hinter den Windschutzscheiben. Mich überfällt ein Gefühl von Unausweichlichkeit. Die Worte von K. kommen mir in den Sinn: Mein Gott, Plonker, was erwarten Sie denn? Gern würde ich ein Fenster öffnen, aber alles, was dann hereinzieht, ist der Gestank der Abgase. Verpestete Luft. Erst in einer Stunde wird es besser. Und in die Küche mag ich nicht gehen, sie ist unaufgeräumt, in der Spüle türmt sich das dreckige Geschirr und auf dem Boden liegt immer noch Olgas Schürze. Olga. Hat sie einen Mann, hat sie Kinder? Ich weiß nichts über sie. Es hat mich auch nie interessiert. Und ich habe nicht vor, auf meine alten Tage noch sentimental zu werden. Nein, Johannes, sie wird mich anrufen und sich entschuldigen!