Читать книгу Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen - Andreas Tank - Страница 10
Kriegserklärung
ОглавлениеMeine Krankheit, so spürte ich, war keine normale, sondern wie sich später herausstellte, der evolutionäre Moment meiner Selbsterkenntnis; eine Art von Berufung, mich bewusst mit dem eigenen Seelenzentrum auseinanderzusetzen. Die Nähe zum Tod, gleichsam das Bewusstsein des Todes, war das einzige Medikament, die einzige Heilmethode, um das Bewusstsein des Lebens zu reanimieren, und die Wochen der wortwörtlichen Rekreation wären vergeblich gewesen, hätte nicht das Leben bereits die nächste Szene des Theaterstücks, dessen Hauptakteur ich selbst bin, vorab geplant. In der empfundenen weiten Leere, diesem kraftlosen Nichts, stellte mich das Leben vor die nächste und wohl größte Prüfung. Kaum hatte ich ein Fenster meines Elfenbeinturms geöffnet, wehte draußen kein Frühlingslüftchen, sondern stürmte ein Orkan und das einmal geöffnete Fenster ließ sich nicht mehr schließen. Nicht als Bach wollte das Wasser ins Meer einlaufen, sondern als weites, mächtiges Delta. Ich wurde Teil der Empirie für die „Doktorarbeit Leben – Dr. rer. vit.”, also eines Themas, das sich zuvor nie aufgedrängt hatte. Mein Leben war im Begriff, erneut zu zerreißen. Doch nicht mehr körperlich, wie wenige Wochen zuvor, sondern geistig: Meine innere Parallelwelt kollidierte unausweichlich mit der Realität. Auslöser war eine SMS von Tao, den ich wenige Monate zuvor kennengelernt hatte. So direkt hatte ich diese Frage niemals zuvor gehört: Ob ich mir vorstellen könne, ihn zu „daten“.
Was sollte ich antworten? Die SMS stand im diametralen Gegensatz zu allem, wie ich mir mein Leben vorstellte. Was ich bislang im Sinn hatte, war, die Traumfrau fürs Leben zu treffen, und bitte gleich im ersten Anlauf. Ein Date mit einem Mann? Vielleicht sogar eine Beziehung aufbauen? Nie hatte ich einen Gedanken an einen Prozess verschwendet! Wie funktioniert das überhaupt mit der Anbahnung? Ganz zu schweigen von Verlauf und Trennung. Ein Kollege empfahl mir einst, erst mindestens sieben oder acht Freundinnen zu „probieren“, um zu wissen, was ich wolle und welche die richtige sei. Und eine Freundin erzählte, sie habe bei manchen ihrer Beziehungen schon von Anfang an gewusst, dass sie nicht von langer Dauer sein würden. Was sollte ich tun? Meine Antwort lautete Nein. Ich erwiderte Tao, dass dies vollends jenseits des Vorstellbaren sei.
Es blieb indes die Frage, ob eine positive Antwort meinem Alleinsein vielleicht ein Ende setzen könnte. Außerdem verlangte mein Verstand nach Definitionen und Fakten. Was genau meinte er? Wie lange war er noch vor Ort? Auch: Hatte er ein vergleichbares Gehalt? Doch vor allem beschäftigte mich eines: Wie sollte ich sein beharrliches „Warum nicht?” beantworten? Ihm und nicht zuletzt mir selbst gegenüber.
Während eines Wochenendausflugs mit Freunden war ich mit dem Enneagramm in Berührung gekommen. Hier hoffte ich nun Antworten zu finden und analysierte mit Feuer und Flamme meinen und daneben auch gleich Taos Typ, das Atmosphärische wurde somit einer vom Verstand kontrollierten Analyse unterzogen. Mich selbst betreffend, kam ich zu dem Urteil, dass ich bislang am ehesten einer Sieben, einem „lustigen Entertainer und Optimisten“, glich und vor allem wohl auch so wahrgenommen wurde. Doch emotional spürte ich, war ich eigentlich eine Fünf, der „Beobachter und Denker“. Hier tauchte ein weiteres Stück des Puzzles auf: Mir wurde bewusst, dass ich einen vollends entgegengesetzten Typus gelebt hatte! Und das hatte mich körperlich ruiniert, weil es meiner Schöpfung widersprach. Ich hatte doch tatsächlich probiert, einen anderen Grund zu legen als den, der gelegt ist – und damit auf Sand gebaut. Für Fünfen, so hieß es, von Gefühlen getrennt und nach persönlichen Beziehungen hungernd, sei es nicht unnormal, viel Zeit und Mühe damit zu verbringen, ein intellektuelles Band zurück zum eigenen Menschsein zu finden. Weil sie ihren Verstand in den Mittelpunkt ihres Daseins gerückt hätten, versuchten sie, diese Verbindung durch Modelle, Systeme, die allgemeingültige, universelle Prinzipien der Interaktion und insbesondere des menschlichen Verhaltens erklären, herzustellen. Für Fünfen sei es charakteristisch, dass sie sich zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Gefühl verpflichteten (Palmer).
Tao hingegen war meiner Recherche nach tatsächlich eine Sieben und verkörperte somit das Ideal, den Mustermenschen, dem ich noch immer hinterher hing: Ich beneidete ihn um sein Wesen, wie tief er in sich ruhte, zufrieden und rundum ausgeglichen. Sehnsucht danach, ebenfalls über ein solches Gemüt zu verfügen, kam in mir auf – ein Ziel in unendlich weiter Ferne.
Siebenen und Fünfen ergänzen sich und sind reziprok. Was der eine nicht hat, bringt der andere mit. Während die Fünf auf der positiven Seite Tiefe, Beobachtungsschärfe, objektive Urteilskraft, Unabhängigkeit, Autarkie und oftmals einen skurrilen Humor mitbringt, sind es bei der Sieben Flinkheit und Spontanität, von einen auf den anderen Moment etwas zu beginnen, sei es eine Theaterkarte zu buchen oder die Möbel in der Wohnung zu verrücken. Siebenen sind unabhängig, obwohl sie gerne Menschen um sich haben, mit denen sie Spaß und ein stetiges Streben nach Freude teilen. Sie sind großzügig, extravagant, optimistisch, gesellig, aus sich herausgehend auch gegenüber Fremden, oftmals der Angelpunkt von Feiern. Fünfen sind dagegen privat und ruhig im Umgang mit Fremden, obwohl sie auch sehr lustig sein können, wenn sie sich sicher fühlen und die andere Person besser kennen. Fünfen geben Siebenen Tiefe, Seriosität, während sie umgekehrt lernen, Neues auszuprobieren und mehr soziale Kontakte zu knüpfen. Kurz ausgedrückt, liegt hier eine gegensätzliche, aber sich ausgleichende Konstellation mit abweichenden Vorstellungen über das Leben vor, auch bezüglich der Frage, wie man sich am besten selbst realisieren kann. Fünfen sagen: „Das Leben ist kurz, erwarte nicht zu viel“, Siebenen: „Das Leben ist kurz, versuche alles“.
Bald formulierte Tao die Hoffnung, dass ich ihn eines Tages voll Vertrauen und Offenheit so lieben könnte wie er mich, dass mein Entkommen aus dem Alleinsein nicht der einzige Grund unseres Zusammenseins bliebe und ich mich nicht erneut verschließen würde. Was erwartete er? Woher sollten denn auf einmal solche Gefühle kommen? Mein Leben hatte bis dato aus Büchern bestanden, und meine Emotionen waren nicht mehr als ein zu studierendes Phänomen in diesem Forscher- und Beobachterdasein. Unter anderem hatte ich ein Lexikon gestartet, in dem ich alle Gedanken mit Datum unter bestimmten Stichwörtern sortierte. So konnte ich bei Bedarf nachschlagen, wozu ich mir welche Gedanken gemacht hatte und wie sich diese eventuell wandelten. Mir war dabei bewusst, dass Emotionen zwangsweise kalt und geerdet erscheinen mussten. War ich in diesen Belangen wirklich unfähig? Teilte ich nicht eher mit Balzac die Furcht vor dem eigenen Ungestüm, mit Tolstoi vor dem Übermaß der eigenen Blutüberfüllung? Als Tao kurze Zeit später für drei Wochen ins Ausland flog, fühlte ich mich allein und wünschte, er wäre da.
Ehe ich mich versehen konnte, war er bei mir eingezogen, und damit beendete ich nicht nur mein Alleinsein, sondern ließ mich von der Realität überrennen. Zwar zog ich alle Register eines Menschen mit Beziehungsangst, provozierte und testete, wie weit ich gehen konnte, doch mein auf Distanz ausgelegtes Weltbild zerbrach: Ohne Grenze fiel das zuvor Gegenüberstehende in mich hinein und fusionierte mit mir. Die Diskrepanz ging verloren, und mein Gehirn war nicht mehr in der Lage, Informationen stimmig zu verarbeiten: Wieder einmal von einem Extrem ins andere. Ließen sich Extreme auf der einen Seite nur durch Extreme auf der anderen kompensieren?
Mein Inneres war zugleich zerrissen und wie eine stark befestigte Burg mit vielen Mauern umgeben. Versuchte jemand einzudringen, dann ergänzte ich den Wall und fühlte mich in meiner Stärke bestätigt. Doch was beschützte diese Burg? Innere Leere? Und aus den Luken schoss ich mit Kanonen auf Spatzen und sah den Balken im eigenen Auge nicht, dass meine Mauern mein emotionales Wachstum erschwerten oder verhinderten. So kritisierte ich Tao für Begebenheiten seiner Welt, mit der er im Einklang war und die ich selbst nicht nachempfinden konnte. Zeigte sich in dieser Kritik nicht vielmehr meine eigene Unvollkommenheit? Nach all dem, was ich ihm in jenen Wochen vor die Stirn schleuderte, war es ein Wunder, dass er mich nicht fallen ließ. Ein weiteres Indiz, dass gerade er und nicht ein anderer Mensch zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben auftauchen sollte. Ein rebellischer Verstand versuchte sich im Dolchstoß und setzte alles daran, wieder allein zu sein und den Fokus von Herz und Seele abzulenken – wohl aus Angst, dass ich aufdeckte, was der wahre Grund meines und seines Verhaltens war: fehlende Selbstliebe. Hier lag der zentrale Machtkampf mit mir selbst. Verlor ich ihn, hätte der Verstand weiterhin die Oberhand, lernte ich Gefühle, würde ich ein vollständig neuer, glücklicher Mensch, mein Körper würde gesunden, und die alte Herrschaft wäre Geschichte.
Die Kriegserklärung meinem Verstand gegenüber war ausgesprochen, und ab diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich soweit wie möglich das Gegenteil von dem tun musste, was er sich wünschte, ich musste ihn dehnen und foltern, bis er in seinem persönlichen Waterloo kapitulieren würde. Wie ein Hase würde er durch die Buxtehuder Heide rennen, vom Igel verschmitzt mit „Ick bün al dor!“ begrüßt, und schließlich bei der 74. Revanche erschöpft zusammenbrechen. Ein für allemal hieß es, den königlichen Höhenflug des Spatzen im Adlerkostüm zu beenden. Ich musste mit der Zerstörung dessen, was ich früher für meine Persönlichkeit hielt, fortschreiten. Ohnehin war das, womit ich mich früher fraglos identifiziert hatte, schon tot. Doch unterschätzte ich naiv die Stabilität meiner alten Sinnstrukturen. Dabei spürte ich, dass mein Geist keinem Kleingewehrfeuer erliegen würde, sondern dass hier schwerere Geschütze aufgefahren werden mussten, um den Granitbunker zu sprengen.
Meine strikte Ablehnung damals auf Taos Frage per SMS lag vor allem in mangelnder Selbstliebe und geringem Selbstwertgefühl begründet, das typisch ist für narzisstisch Verwundete, die sich in der Tiefe nicht annehmen können und Schwierigkeiten haben, sich mit sich selber identisch zu fühlen und der eigenen Identität habhaft zu werden. Dies Phänomen war das erste, wonach ich im Internet suchte – meine Intuition hatte mich zum Kern geführt: Wie sollte ich Liebe geben, wenn ich sie für mich selbst nicht spürte? Und wie sollte ich Liebe annehmen für eine Existenz, die ich nicht als liebenswert erachtete?
Was für ein seltsamer Mensch, so dachte ich, war Tao, der mir so viel Liebe schenkte, nicht mehr von meiner Seite wich, im Urlaub Postkarten schickte und mir riet, weder mich noch die Welt zu hassen! Ich müsse mich lieben und akzeptieren, so wie ich sei. Was gäbe ich dafür! Während in der Bibel die Rede davon ist, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, wirft ein Blick auf die Gesellschaft und das niedrige Niveau an Nächstenliebe die Frage auf, wer sich denn selbst liebt. Das scheinen ja die wenigsten zu sein! Aber wie kann man dann anderen Liebe geben? Das Bibelgebot, diese Gleichung, klingt so leicht, aber sie geht sehr schwer auf. Leider war ich einer von denen, die dies beweisen. Nie hatte ich so sein wollen, wie ich bin, und habe stets etwas Neues zum Ablehnen gesucht. „Mein Herr“, schreibt Goethe in Wilhelm Meister, „wie selten ist der Mensch mit dem Zustande zufrieden, in dem er sich befindet! Er wünscht sich immer den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnt.“ Glück ist aber genau das Gegenteil, und um dorthin zu gelangen, bedurfte es einer Korrektur, wie folgende Sätze aus dem Film Phoebe im Wunderland darlegen: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt in deinem Leben, wahrscheinlich, wenn zu viele Jahre schon dahin gezogen sind, wirst du deine Augen öffnen und sehen, wer du wirklich bist. Insbesondere in Bezug auf alles, was dich von den furchtbar Normalen unterschieden hat. Und dann wirst du zu dir sagen: Aber diese Person bin ich. Und in dieser Stellungnahme, dieser Korrektur, wird eine Art von Liebe mitschwingen.“
Ein Mensch, der für sich keine Emotionen empfindet, ist zu allem fähig und schreckt auch nicht davor zurück, sich Schmerzen zuzufügen. Ist das Innen tot, dann ist der Körper nur die äußere wertlose Hülle. Der gehinderte Lebensfluss in mir staute sich nicht nur an, sondern drängte wie ein Bumerang mit Gewalt zurück und nahm die Richtung der Selbstzerstörung. Schon in jungen Jahren hatte ich keine gesunde Einstellung zu meinem Körper, und besonders die Veränderungen während der Pubertät brachten keine Genesung. Wackelten Zähne, so zog ich sie über dem Waschbecken mit der Eisenzange raus, wobei ich ärgerlich wurde, wenn ich ausrutschte und meine Zunge oder die Wangenhaut schmerzte oder blutete. Ich hatte ein so distanziertes Verhältnis zu meinem Körper, dass ich in einer ärztlichen Konsultation um operative Eingriffe bat. Doch dazu kam es nicht, war ich für den Mediziner schließlich äußerlich vollends gesund.
Mein niedriges Selbstwertgefühl drückte sich auch und vor allem in Essstörungen aus. Allein nach meiner ersten „Bestandsaufnahme“ in Bhutan hatte ich innerhalb von vier Monaten fast 15 Kilogramm durch willensstarkes Ignorieren des Hungergefühls und Nahrungsrestriktion abgenommen. Meine Hosen musste ich vier Nummern kleiner kaufen, diese Größe trug ich zuletzt, als ich 15 war. Regelmäßig, wenn ich mit mir unzufrieden war, stellte ich die Nahrungszufuhr ein, wobei sich bei längerer Dauer Probleme der Verträglichkeit häuften. Am Ende reagierte mein Magen auf fast alles empfindlich. Oder wenn ich voller Antrieb mit einer Aufgabe beschäftigt war, wie in der Endphase des Schreibens meiner Dissertation, dann ernährte ich mich buchstäblich von Literatur: Buchstabensuppe, geistreich, doch kalorienarm. Der Kühlschrank war leer, der Magen schmerzte, und nur der beherzte „Lieferservice“ einer Freundin brachte Abhilfe.
In einer späteren Phase war es erneut Hesse, der mich aus geistigem Alleinsein befreite. Auch er habe sich selbst Gewalt angetan, und im Siddhartha spricht er von einem sich in die Geistigkeit verkrochenen Ich, das dort saß und wuchs, während er es mit Fasten und Buße zu töten meinte. Schaffer-Suchomel schreibt in Spuren unseres Menschseins in der Sprache, Magersüchtige seien „Mögen-Süchtige“. Der Magersüchtige wolle, dass man ihn liebt. Ein wesentliches Merkmal von Liebe sei Wachsen, Vermehren, also das Zunehmen, wobei die Magersucht die Umkehrung hiervon sei. Essen, so ergänzt Preiter, lege die Bedürftigkeit gegenüber dem Außen bloß. Ein weiterer Grund, es zu meiden. Es zeigt sich sehr deutlich, dass der Kopf hier den Leib töten wollte. Doch der Leib ist am Leben geblieben, indem er wie ein „Kaltblüter seine Temperatur gesenkt und seinen Lebensrhythmus reduziert hat“ (Schellenbaum).
Dort, wo die Suche missglückt, hängt man in der Sucht. Und erneut ist der Zeitpunkt, an dem sie verstärkt auftrat, kein Zufall. Pure Selbstliebe hätte sich unter dem Regime des falschen Selbst gar nicht aufbauen können, denn die Seele ist intelligent und weiß, dass hier die Kopfliebe eines Diktators namens Verstand am Werk ist. Damit hätte man mich unter ganz falschen Vorzeichen geliebt, was keine glückliche Ausgangslage für eine Beziehung darstellen konnte. Und die Seele muss dies gespürt haben, sonst hätte ich Avancen nicht abgelehnt. Resistent. Immun. Doch interessanterweise gab es auch immer wieder Lichtblicke, in denen ich mich verliebt hatte und das harte Herz weich wurde. Auch wenn dies höchst selten vorkam und mir der Mut für offenbarende Folgeschritte fehlte. Heute frage ich mich, ob diese Gefühle echt oder Einbildung waren und nicht im Entmystifizieren des anderen das größte Interesse lag. Während der Tanzstundenzeit stellte ich sogar ein Foto auf dem Schreibtisch auf und erfreute mich daran, wenn ich Hausaufgaben machte. Nur: Das abgelichtete Mädchen wusste davon nichts. Typisch für eine Fünf im Enneagramm, die eine starke geistige Verbindung aufbauen kann, ohne dass die betroffene Partei weiß, wie zentral sie im Innenleben der Fünf ist. Und so ging es reihenweise. Manche innerlich gefühlte Beziehung – intellektualisiert und abstrakt, aber dadurch nicht weniger real –
dauerte über Jahre, doch obschon in der Realität nichts ersichtlich war, hatten „Trennungen” oder wenn diese mentalen Partnerinnen mit anderen Jungen etwas anfingen, physische Auswirkungen. Gleiches galt, wenn ich eine geistige Abtreibung vornahm und die Luft aus dem mentalen Ballon abließ. Es ist Schicksal, dass die meisten heute glücklich verheiratet sind. Woher sollten sie damals wissen, was in meinem Kopf vorging? Und was war echt? Ein Verstand kann so gut wie alles denken und Theorien aufbauen, er ist emotionslos naiv und billig, was zu irrwitzigen Situationen führen kann. Wie als ich einem Freund eine Packung Schokolade mit Rosenmuster schenkte, als er krank war. Ich hatte die Packung selbst geschenkt bekommen und gab sie ohne Gedanken weiter – bestes Beispiel dafür, wie die Intention beim Sender und die Rezeption beim Empfänger grundverschieden sein können. Gott machte Witze mit mir, denn dieser Freund war Tao, der geschickt worden war, mein Leben aus den Angeln zu heben. Dass das Schicksal den Unbedachten gern einen Streich spielt, hatte ich prägend zur Zeit der ersten Schmetterlinge im Bauch erfahren: Beim öffentlichen Vorlesen des in Lettern gesetzten Flatterns durch den Lehrer und dem anschließenden gemeinsamen Rausschmiss aus dem Unterricht.
Irgendwann wurde ich hart und herzlos gegen mich und auch gegenüber den Menschen, die mehr als Bekanntschaft erhofften. Ich war kalt, emotionslos, tot, Gefühle wurden durch den Kopf gesteuert. Ich lehnte mich ab – alles oder nur Teile? Nicht lieben zu können war am Ende identisch mit nicht zu sein. Im Rückspiegel sehe ich manch eine schmerzende Erinnerung, doch der Fuß auf dem Gaspedal war aus Blei. Ich hatte mich soweit von Emotionen entfernt, dass ich selbst eine liebe Freundin nicht umarmen konnte, als sie einmal in Tränen ausbrach. Dabei war und ist sie ein so bedeutender Mensch für mich. Heute fühle ich mich abscheulich, wenn ich daran zurückdenke, dass ich mich in dem ABBA-Lied The Name of the Game wiederfand: „I was an impossible case, no one ever could reach me.“ Später fand ich viele Gespräche im Rahmen von Rendezvous sehr langweilig und stellte mir vor, was ich in der Zwischenzeit alles hätte machen können.
Im Grunde ist es gefährlich, wenn Emotionen intellektualisiert werden. Es erstickt aufkeimendes Leben im Kern. Osho formulierte es in seinem Aufsatz „Weißt Du wirklich, was Liebe ist?” noch drastischer: Die Liebe, die aus dem Ego kommt, sei absolut unecht und gefährlicher als der Hass. Denn der Hass sei unmissverständlich, unmittelbar und unkompliziert, aber Liebe, die mit einer Maske auftrete, sei schwer zu erkennen. Nicht meine Gefühle, sondern der Verstand musste dann überlegen, was andere in dieser oder jener Situation machten. Zwangsweise erfolgte der Blick nach außen, und jeder weitere Schritt war Kopie. Doch gute soziale Anpassung von frühester Kindheit an und die Herausforderung, sich selbst nicht fühlen zu müssen, sind keine Wahl, sondern eine Überlebensstrategie, um mit dem Selbstverlust fertig zu werden (Asper).
Gleichzeitig ahnte ich, dass Menschen mit emotionalem Richtungsweiser klar im Vorteil waren. Doch wenn dieser überlagert wird, dann fehlt eine wichtige Orientierungshilfe. Wie konnte ich Herz und Verstand voneinander unterscheiden? Mir fehlte der Zugang zu meinen wahren Gefühlen, die Fähigkeit, mit Irrationalität umzugehen, und der Mut, mich nichtsdestotrotz damit auseinanderzusetzen. Dies ist sprachlich gesehen vielleicht wenig verwunderlich, steckt doch im Wort Courage das französische cœur, Herz. Ich befürchtete Enge durch eine Entscheidung, zu sehr sah ich nur das Ergebnis, doch nicht den Prozess. Ich konnte Liebe – egal aus welcher Quelle sie strömte – nicht annehmen. Doch gleichzeitig stieg die Angst vor Menschen, die mich genauso behandeln würden wie ich sie. Mein Verstand hat viele verletzt, auch mich selbst. Heute lasse ich ihn bewusst leiden, und das kann ich mit Gewissheit sagen: Er leidet! War die gewählte Methodik richtig, um zu lernen, meine Kuhhaut zu lieben? Mehr und mehr weiß ich, wer ich bin, und das macht es einfacher zu wissen, was zu mir passt. Das war vorab niemals möglich.
Ich hielt mir Menschen auf Distanz, dies drückte sich auch in meiner Sprache aus. Mathematisch könnte man es mit x-1 benennen: Für Menschen, die mich umgaben, verwendete ich nie den Ausdruck „Freund“ oder „Freundin“, immer sprach ich von „Bekannten“. Waren andere in einer Partnerschaft, hieß es bei mir Freundschaft oder Zusammenleben. Während andere den Ausdruck Liebe benutzten, konnte ich es lediglich auf den Terminus Gefühle bringen – oder, noch geringer: Da war „etwas“. Und um mich selbst über diesen Mangel hinwegzutäuschen, leitete ich meine Gedanken nicht selten mit einem „wir“ anstatt eines „ich“ ein.
Meine Leidenschaft beschwerte sich beim Verstand, dass ich nicht tief liebte, mein Körper hielt ihm mein negatives Körpergefühl vor, mein Bewusstsein das geringe Selbstvertrauen und die niedrige Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten. Was konnte ich schon? Welch geringen Bruchteil an Wissen konnte ich mein Eigen nennen? Wie wenig förderwürdig war ich, um mich für ein Stipendium zu qualifizieren? Wie oberflächlich war die Welt, sich in den Himmel zu loben, wo ich mich selbst über mein Diplom oder meine Doktorarbeit mit Höchstnote nicht freute und mir für Letztere die Urkunde zuschicken ließ, anstatt an der feierlichen Verleihung teilzunehmen. Ein Hoch auf Jungs Tirade über „die Menschen in ihren lächerlichen Kleidern, in ihrer Gemeinheit, Dummheit, Eitelkeit, Lügenhaftigkeit und ihrer abscheulichen Eigenliebe“! Die nachfolgenden Generationen werden, selbst wenn die Mauer in den Köpfen ewig stehen wird, zurückblicken und unseren Entwicklungsstand bemitleiden – was machte ich mir Hoffnungen? Wie selbstgerecht und limitiert sind Erwachsene, wenn sie meinen, vor Kindern die sprachliche Finesse zwischen Größe und Länge zum Besten geben zu müssen! In solch einer selbstherrlichen Gesellschaft leben wir, die Bildung im Grunde nicht fördert; aus Angst, jemand könne am Ende über mehr Wissen und Fähigkeiten verfügen und damit zum gefährlichen Rivalen werden – eine Entwicklung, die es möglichst früh zu unterdrücken gilt. Abgesehen von dem Fall, in dem fremde Förderung gewährt wird, wenn sie der eigenen Eitelkeit von Nutzen ist. Erst am Tagesende finden wir – nach dem altbekannten Abendlied – zurück zur Demut und gestehen, dass wir stolzen Menschenkinder eitel arme Sünder sind und gar nicht viel wissen, Luftgespinste spinnen, viele Künste suchen und weiter vom Ziel abkommen. Mit dem ständigen Bestreben nach Mittelmaß, nicht abzuheben und auf dem Teppich zu bleiben, stehlen wir der Zukunft die heute lebenden Kleists, Goethes oder Nietzsches. Wie schizophren ist es dann, dass Erwachsene – aus dem Gröbsten raus – nur zu oft Frank Sinatra hochhalten und fern jeder Contenance und mit Schaueinlagen geflankt beim Karaoke ein I did it my way zum Besten geben. Eine späte Freiheit, die man Kindern zuvor aberziehen muss, damit sie in dieser Gesellschaft lebensfähig sind? Edgar Allan Poe fragte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, warum man die Flügel der Adler beschneiden müsse, nur weil die Schildkröte einen sicheren Gang habe. Und die Antwort lautet noch heute, dass der Schwächere, statt am Stärkeren zu wachsen, (un-)bewusst versucht, den Stärkeren auf sein Maß zurückzustutzen. Schließlich wird seine Überlegenheit als Gefahr wahrgenommen. Als Erwachsene sehnen wir uns dann zurück in die „guten alten Zeiten“ und singen mit Mary Hopkin Those were the days: „Oh my friend we’re older but no wiser, for in our hearts the dreams are still the same. Those were the days, my friend, we thought they’d never end.“ Und ist es nicht die gleiche Altersgruppe, die Konzerte von Udo Jürgens stürmt und sich von Liedern wie Ich war noch niemals in New York angesprochen fühlt? Sich aus der Enge und Spießigkeit befreien, noch einmal voller Träume, noch einmal verrückt sein, aus allen Zwängen fliehen, einfach gehen für alle Zeit und als Krönung in zerrissenen Jeans die Bürgersteige von San Francisco bevölkern!
Antiproportional zur Selbstliebe verhielt es sich mit meiner Sehnsucht. Sie träumte von Schutz und einer anderen Welt wie in dem Buch Der geheime Garten von Frances H. Burnett. Wann dürfte ich noch einmal diese Verliebtheit, dieses Fallenlassen und Wohlgefühl spüren wie früher? Wie krank war ich, dass ich nicht mehr nach Hause gehen wollte, weil ich dort genau mit diesem Thema konfrontiert wurde! Die Wurzeln des Problems steckten tief in mir. So hatte ich etwa Mitte der Grundschulzeit meiner Mutter einen Briefumschlag aufs Bett gelegt, darin ein Zettel mit der Frage, ob sie mich noch liebe. Ich erinnere mich genau, wie traurig ich war, als ich den Flur entlang lief. Sollte ich den Zettel wieder zurücknehmen, sollte ich ihn liegen lassen? Vielleicht war es eine drastische Maßnahme, doch sie zeugt schon früh davon, dass es ein gesundes Mittelmaß für mich nicht gab. Auf der heutigen Suche definiere ich vom Minimum kommend: Liebe muss mehr sein als die Angst vor Alleinsein, und Selbstliebe muss mehr sein als die Abwesenheit der Selbstablehnung. War Liebe denn überhaupt deduktiv ableitbar? Ich brauchte kein „Ich liebe dich“ hören, wie komplett wäre die Welt mit einem „Ich liebe mich“! War ein „Ich liebe dich“ am Ende überhaupt eine Liebesbekundung und nicht vielmehr ein Bitten um Liebe? Anstatt in uns nach Liebe zu suchen, begeben wir uns außerhalb auf die Suche. Auf Facebook versuchte ich später, in der Rubrik „in Beziehung mit …“ mich selbst anzuklicken, doch dies war technisch nicht möglich. In meiner Klage über das Leben erhielt ich Fürsprache von Freunden, dass nichts ausweglos sei, und sie rieten, dass ich Liebe annehmen solle, auch wenn ich sie für mich nicht spürte. Und darüber hinaus solle ich die Balance nicht vergessen – doch das Moderate war bislang nun wirklich nicht meins gewesen.
Inmitten dieses ntwicklungsstadiums teilte mir meine Mutter mit, welchen Typ von Partnerin sie für mich passend fände und dass es schade sei, dass ich noch nicht bereit für eine feste Beziehung sei. Es war ein von Herzen gut gemeinter Wunsch, doch angesichts meiner inneren Konstitution traf er mein Herz wie ein Dolch.