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Wundersame Vorahnungen

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Die Fremdheit, die mich so lange von der Welt getrennt hatte, war mir auf einmal bewusst. Wer war ich? Und wie sollte ich mich selbst finden, wenn mir jeglicher Anhaltspunkt fehlte? Hinzu kam, dass mir der Identitätsverlust und meine Unsicherheit höchst unangenehm waren. Um schnellstmöglich wieder zu einem Bild zu kommen, begann ich bei Freunden nachzufragen: Was wussten sie von mir, und wie nahmen sie mich wahr? Wie bei einem Mosaik sammelte ich mühsam Steinchen für Steinchen, die Gespräche kosteten mich jedes Mal viel Kraft. Und meine Fragen mussten zwangsweise zu Irritationen führen – z. B. als ich mich bei einem Freund nach meiner Sexualität erkundigte. Seine Antwort verstärkte indes das Fragezeichen in meinem Herzen. Unsicherheit, gepaart mit dem Schmerz, den die offen geäußerten Wünsche meiner Mutter ausgelöst hatten, drängte mich in die Offensive. So öffnete ich mich ihr gegenüber und schilderte meinen seelischen Zustand. Ich holte sie mit an Bord, was es emotional nicht einfacher machte. Mit Verblüffung fand ich auch hier eine Parallele bei Jung; ein erneuter Anhaltspunkt, wie sagenhaft vorgeplant meine Durchgangszustände waren: Er schreibt, ein Erwachsener, dem zu viele Illusionen zerstoben seien, werde sich wohl nur gezwungenerweise zur inneren Erniedrigung und Preisgebung bequemen und die Ängste des Kindes nochmals über sich ergehen lassen. Es sei keine kleine Sache, zwischen einer Tagwelt von erschütterten Idealen und unglaubhaft gewordenen Werten und einer Nachtwelt von anscheinend sinnloser Fantastik zu stehen. Das Unheimliche dieses Standpunktes sei tatsächlich so groß, dass es wohl niemanden gebe, der nicht nach einer Sicherheit greifen würde, selbst wenn es ein „Griff rückwärts“ wäre – zum Beispiel zur Mutter. Was für ein unbeschreiblicher, bis zur Atemlosigkeit beklemmender und bedrückender Moment im Leben eines Kindes, in dem man fühlt, dass er die friedlichen Wünsche und Hoffnungen der Eltern zerbrechen und eine neue Zeitrechnung einleiten wird. Und tatsächlich: Es kostete mich viel Überwindung, mit meiner Mutter zu reden. Während des Gesprächs ließ ich dann die Intuition sprechen, die in entscheidenden Momenten Wahrhaftiges aus dem tiefsten Inneren hervorbringt. Ich sagte, es könne sein, dass ich eines Jahres mit einer Begleiterin oder einem Begleiter zum Weihnachtsfest komme.

Nach meiner Krankheit verstand ich das Leben endlich als Prozess, und ich fürchtete, dass erneutes Ignorieren zu wiederholter und noch gewaltsamerer Krankheit führen könnte. Und dieses neue Gefühl fühlte sich wie ein gewaltiger Fluss an, der es mir unmöglich machte, etwas auf den Punkt zu bringen. Denn ein Punkt war ein Ergebnis, einengend, und ein solches widersprach meiner neuen Auffassung vom Leben. In diesem Fall gab es eigentlich nichts zu erzählen, weil sich alles stets verändern kann – eine universale und lebenslange Dynamik, welche sich lediglich mit Entscheidungen des Verstandes einschränken, in Wege leiten und beeinflussen lässt. Wozu aber? Über Tätigkeiten lässt sich in dieser Dynamik einiges erzählen, und da konnte ich reich und ständig berichten, aber bereits die einfache Frage „Wie geht es dir?“ war in ihrer Ganzheit kaum zu beantworten, zumal sie von den meisten Menschen nicht ehrlich gemeint war, da jeder im Grunde mit sich selbst beschäftigt ist. Ein „Wie geht es dir?“ setzt der Gegenwart die Pistole auf die Brust. Vielleicht könnte ein „Was geht in dir vor?” mehr Auskünfte herauslocken. Wer war ich also? „Bin“ ist ein Ergebnis, „Sein“ ein Prozess. Ich stand vor der unfassbaren Vielfalt und Tiefe des Lebens. Wie in einem Supermarkt stand ich vor einem Regal mit unendlich vielen Produkten und sollte mich einschränken? Das war fatal. Ich konnte es mir weder vorstellen, noch hielt ich es für umsetzbar. Wer verlangte, dass ich ein einschränkendes Statement abgebe, der hatte das Leben nicht verstanden. Auf der Suche kommen viele Gedanken, einige davon bleiben, andere werden später ausgeschlossen – ein ewig fließendes Aussortieren und Profilschärfen. Und wo ginge dies besser als in der Opposition? Nur in einem war es mein Bestreben, eine Heimat zu finden: Ein statisches „Ich bin ich” und ein dynamisches „In mir fließt Sein”. Diese Nullposition ist die Schublade, in die ich mit meinem Wesen hineinpasse. Doch jetzt, wer bin ich jetzt? Ich weiß es nicht. Ich bin unterwegs. Was bringt es, immer wieder schwere „Ich bin“-Steine in den Lebensfluss zu werfen? Sie gehen sofort unter. Ist es nicht lohnenswerter – ja im Grunde alternativlos –, mit einem Boot auf ihm zu navigieren und in der Bewegung das Sein zu erfahren?

Meine Mutter reagierte im ersten Moment sensationell offen, aber wir wussten zu diesem Zeitpunkt beide nicht, was meine Worte noch für Auswirkungen haben sollten. Ich spürte, dass sie besorgt und betrübt war, verängstigt und verlegen um Antworten, nach denen ich wie ein bodenloses Fass Verlangen hatte. Ich hörte dies in jedem freudigen Lachen, das mich von nun an bedrücken sollte und meinem inneren Riss weitere Tiefe zufügte. Zu diesem Zeitpunkt verbannte ich sämtliche Familienfotos aus meiner Wohnung und stellte eines auf, wo ich als Kleinkind zu sehen bin. Hierauf erkannte ich mich wieder, im Gegensatz zu der Person auf den Familienbildern. Später verstand ich, wie natürlich die mütterliche Reaktion war. Auch sie hatte mich in all den Jahren nur mit meinem angepassten Selbst kennengelernt. Ich hingegen fühlte mich wie in einem offenen Zeitfenster und gab das Tempo vor. Nie zuvor hatte ich mein inhaltsschweres Inneres geteilt.

Ende Mai schrieb ich einen seitenlangen Brief, in dem ich unser Telefonat und vorsichtig herantastend mein bisheriges Leben reflektierte. Allerdings hoffte ich – beziehungsweise mein falsches Selbst –, dass sich das Zeitfenster bald wieder schließen würde, da es ermüdend sei und ohne möglichen Abschluss: „Eine Suche, die in der Daseinsform des menschlichen Seins nicht abgeschlossen werden kann, vielleicht.“ Wie konnte ich darüber hinaus etwas schriftlich machen, und dann auch noch zu diesem Thema! „Das bin eigentlich absolut nicht ich, aber in dieser Phase wohl gerade doch.“ Kein Schritt konnte mehr ungeschehen gemacht werden. Dieser erste Aderlass glich einer Bestandsaufnahme, einem Exposé, in dem wie von einem Orakel bereits diejenigen Themen wundersam skizziert wurden, die im Laufe der weiteren Monate während meines Rettungseinsatzes auf mich in ihrer Tiefe warten sollten.

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen

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