Читать книгу Young Agents - Andreas Schluter - Страница 8
ENTFÜHRT
ОглавлениеZwei Stunden haben wir mit der Band geprobt. Es hat sogar Spaß gemacht, obwohl ich eigentlich keine Zeit dafür hatte. Gut, natürlich habe ich Zeit, denn es gehört zu unserem Auftrag, die Band weiter am Leben zu halten. Aber ehrlich gesagt hatte ich gehofft, nach der Verhaftung von Shionas Vater eine Weile etwas mehr Ruhe und mal Zeit für mich zu haben. Besser gesagt: für die Schule. Ich bin zwar ein hervorragender Spitzenagent, aber kein Wunderkind. Für den Unterricht muss ich genauso viel lernen wie meine Mitschüler. Außer, dass ich mit Hilfe spezieller Methoden und ausgeklügelter technischer Hilfssysteme der Agentenakademie schon einige Fremdsprachen gelernt habe und gerade noch Arabisch und Türkisch dazukommen, weiß ich vom meisten Stoff, den wir in der Schule durchnehmen, auch nicht viel mehr als die anderen. Mathematik zum Beispiel haben wir in der Agentenakademie so gut wie überhaupt nicht durchgenommen. Meine Eltern können mir auch nicht helfen. Die haben beide keinen höheren Schulabschluss und von Mathe keine Ahnung. Natürlich habe ich beim Prof nachgefragt, wieso sie mir nicht mit dem Autosuggestionstraining Mathe eintrichtern können, denn so habe ich schließlich auch die Fremdsprachen und im Rekordtempo das Gitarrespielen gelernt. Aber der Geheimdienst hat einfach abgelehnt. Ist das zu fassen? Da verbringt man den größten Teil seiner Schulzeit damit, Verbrecher zu jagen und das Land zu schützen, aber wenn man selbst etwas braucht, heißt es Nein. Meine Empörung hat natürlich nichts gebracht. In zwei Tagen schreiben wir eine Mathearbeit, und der Prof erwartet, dass ich mindestens mit einer Drei abschneide. Na toll! Also muss ich lernen. Bloß: Wann?
Heute Abend also.
Am Nachmittag komme ich zu Hause an. Wie immer steht ein Topf mit Gulasch auf dem Herd. Meine Eltern wissen, dass ich ein YOUNG AGENT bin, aber sie kennen keine Details meiner Aufträge und wissen deshalb auch nie, ob und wann ich nach Hause komme. Deshalb sorgt meine Mutter dafür, dass wirklich immer etwas zu essen auf dem Herd steht. Nur für mich. Mein Vater darf das Gulasch nicht anrühren.
Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, und wenn es nur aus der Schule ist, freut meine Mutter sich, als wäre ich wochenlang auf Reisen gewesen. Manchmal bin ich das ja auch. Meine Mutter freut sich also vor allem darüber, dass ich da bin und nicht irgendwo durch die Stadt, durch Deutschland oder Europa düse, um gefährliche Verbrecher zu jagen.
Auch jetzt springt sie vom Küchentisch auf, nimmt mich in den Arm und drückt mich wie einen Verschollenen, der soeben wie durch ein Wunder durch die Tür hereinspaziert kommt. Und sie sagt, was sie immer zur Begrüßung sagt: »Schön, dass du da bist. Es steht Gulasch auf dem Herd.«
Über ihre Schulter hinweg sehe ich, womit sie sich am Küchentisch beschäftigt: offene Rechnungen!
»Kommt ihr klar, Mama?«, frage ich.
Sie nickt. »Ja.«
»Das Geld, das ich euch für die Mietschulden gegeben habe, habt ihr doch noch, oder?«, frage ich nach. Ich hatte ihnen eine größere Menge Geld besorgt, um in Raten einen dreijährigen Mietrückstand abzuzahlen.
Meine Mutter nickt wieder. »Ja.«
»Bestimmt?«, hake ich nach. Bei meinen Eltern weiß man nie. Ich schaue mich unauffällig um, ob ich etwas Neues in der Wohnung entdecke: eine teure Küchenmaschine etwa oder einen neuen Riesenfernseher. Irgendetwas, wofür sie das Mietgeld verschleudert haben könnten. Aber ich entdecke zum Glück nichts.
»Das sind nur die üblichen Abrechnungen«, teilt meine Mutter mir mit. »Strom, Gas, Heizung, Wasser, Müll … Seit Papa wieder arbeitet, kommen wir zurecht.«
»Schön«, sage ich. »Wo steckt er denn?«
»Im Keller«, antwortet meine Mutter. »Er hat schon wieder etwas mitgebracht.«
Mein Vater arbeitet seit Kurzem als Hilfsarbeiter bei der Stadtreinigung und ist momentan auf einem Recyclinghof beschäftigt. Er kann überhaupt nicht fassen, was die Leute alles an funktionierenden Geräten, intakten Möbeln und so weiter in den Müll werfen. Ständig bringt er davon etwas mit nach Hause.
»Aber das ist illegal«, sage ich. »Dafür kann er entlassen werden.«
»Nur weil er rettet, was andere Leute achtlos wegwerfen?«, fragt meine Mutter entsetzt. »Das ist doch absurd.«
Da hat sie recht. Trotzdem: Die Gesetze sind, wie sie sind. Nimmt mein Vater sich etwas von dem Müll mit, so gilt das offiziell als Diebstahl. Als würde man in ein Kaufhaus einbrechen und von dort etwas mitgehen lassen. Das ist völlig bescheuert, aber Gesetz!
Ich gehe in mein Zimmer, um Mathe zu lernen.
Während ich meine Mathesachen aus der Tasche krame, muss ich ständig hinüberschauen zu meinem eingerahmten Ronaldo-Poster. Es sieht nur so aus, als wäre ich ein begeisterter Fußballfan. In Wahrheit stecken im Rahmen ein Hochleistungscomputer, in Ronaldos Augen zwei Kameras und in seinem Mund ein Mikro. Über dieses Bild kann mich der Prof nicht nur jederzeit über einen geheimen Kanal erreichen, sondern auch nonstop überwachen, wenn er will.
Ehrlich, Mathe lernen an sich ist ja schon doof, aber wenn man dabei noch das Gefühl hat, ununterbrochen vom Geheimdienstchef beobachtet zu werden, geht es gar nicht. Da fällt mir etwas ein. Einen Hauseingang weiter wohnt Zehra. Sie geht in meine Parallelklasse, und soweit ich weiß, haben die ihre Mathearbeit letzte Woche geschrieben. Interessanterweise bei demselben Mathelehrer. Ich wette, wir werden in unserer Klausur zumindest ein paar der Aufgaben bekommen, die auch ihrer Klasse gestellt wurden. Blitzschnell packe ich meine Sachen zusammen, rufe meiner Mutter zu, dass ich rübergehe in die Nachbarschaft, renne aus der Tür, runter aus dem Haus, will rüber zu Zehra und – pralle fast gegen Gonzo.
Oh verdammt! Was macht der denn hier? Okay, er ist der Neffe unseres Hausmeisters und treibt sich deshalb öfter hier herum, als mir lieb ist. Aber wieso muss ich ihm dann auch noch ständig begegnen?
»Hab ich’s mir doch gedacht«, sagt Gonzo und kommt auf mich zu, als hätte er auf mich gewartet.
»Was?«, frage ich und kann mir wirklich überhaupt nicht denken, wovon er spricht.
»Tu nicht so!«, blafft Gonzo mich an. »Dass du dich heimlich mit Abena triffst.«
»Hä?« Wie kommt er darauf? Und überhaupt: »Wieso heimlich? Abena und ich können uns auch nicht-heimlich treffen, so oft wir wollen.«
»Aha!«, ruft Gonzo, als hätte er mich entlarvt. »Das wollte ich nur von dir hören. Also doch. Jetzt hast du’s selbst zugegeben.«
»Du spinnst doch«, sage ich und will an Gonzo vorbeigehen.
Doch er packt mich am Arm und hält mich fest.
»Ich hab dich im Auge«, droht er mir. »Lass deine Finger von Abena. Verstanden?«
»Du kannst mich mal«, antworte ich, stoße ihn beiseite und gehe weiter.
Vermutlich hätte Gonzo mich wieder aufgehalten und möglicherweise sogar eine Prügelei begonnen. Doch unverhofft kommt meine Rettung um die Ecke: Murat. Einer von Zehras älteren Brüdern. Weil ich ihm gegenüber mal behauptet habe, Gonzo würde Zehra in der Schule mobben, ist Murat überhaupt nicht gut auf Gonzo zu sprechen. Gonzo weiß das und verzieht sich stets sofort, sobald er Murat nur aus der Ferne sieht. So wie jetzt.
»Glück gehabt«, sagt Gonzo. Ein Satz, den er immer sagt, wenn er mir bei einer Auseinandersetzung unterlegen ist.
Er lässt von mir ab und verschwindet eilig im Hauseingang, in dem sein Onkel sein Hausmeisterbüro hat. Murat ist zwar wirklich nicht der hellste Kopf unter der Sonne, oft auch ziemlich rüpelhaft und ein Angeber, wie er im Buche steht. Aber seit er weiß, dass Zehra und ich uns gegenseitig in der Schule unterstützen, komme ich mit ihm ganz gut klar. Allerdings überwacht auch er mich mit Argusaugen. Gemeinsam für die Schule zu lernen, ist in Ordnung. Aber auf keinen Fall mehr, fordert Murat. Als ob er seiner Schwester irgendetwas zu sagen hätte. Das hätte er wohl gern. Und so sieht er auch seine Rolle als großer Bruder. Aber seine Eltern sehen das ganz anders. Die sind nämlich viel fortschrittlicher als Murat und halten sein Großer-Bruder-Gebaren für genauso aufgeplustert, wie es Zehra auf die Nerven geht.
»Merhaba Murat! Nasılsın? Seninle her şey net?«, frage ich. Ich warte schon lange darauf, meine ersten türkischen Sätze anbringen zu können. Besonders bei Murat. Denn das Kuriose ist, dass Murat von seiner gesamten Familie am meisten den Türken mimt, aber – ich glaube sogar, als einziger – so gut wie kein Wort Türkisch spricht. Er und alle seine Geschwister sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Aber während die anderen die Sprache ihrer Eltern, vor allem aber ihrer Großeltern, fleißig gelernt und gepflegt haben, hat Murat das irgendwie versäumt.
Murat bleibt stehen und sieht mich entsprechend verblüfft an: »Was laberst du da?«
Ich wiederhole die Sätze, mit denen ich mich einfach nur erkundige, wie es ihm geht und ob mit ihm alles klar ist.
Ich weiß nicht, ob Murat es verstanden hat. Zumindest hat er die Sprache erkannt.
Er kommt drohend auf mich zu, packt mich am Kragen, schiebt sein grimmiges Gesicht dicht vor meines und fragt: »Seit wann sprichst du Türkisch, du Opfer?«
»Äh, ich lerne es gerade nur ein bisschen. Von Zehra.«
Was nicht gelogen ist. Ich lerne zwar Türkisch für den Geheimdienst, und zwar per Autosuggestionstraining, aber ich nutze meine Bekanntschaft zu Zehra, um das Gelernte in der Praxis zu testen.
»Lass das sein, Digga!«, warnt Murat mich und lässt mich los. »Niemand will, dass du Türkisch laberst.«
»Zehra gefällt das«, sage ich.
Und schon hat Murat mich wieder am Kragen. »Finger weg von meine Schwesta!«
»Ja, Murat. Alles gut. Wir lernen nur für Mathe. Wenn du willst, kannst du mitmachen.«
Murat lacht kurz und trocken auf, gibt mir einen Klaps gegen den Hinterkopf und sagt: »Bissu blöd? Ich lern nicht Mathe, ich lern höchstens Geldzählen. Hast du verstanden, Schwachkopf?«
»Ne, is klar, Murat. Guter Plan. Weiter als bis hundert musst du dann auch nicht zählen können.«
Diesen Witz voll auf seine Kosten versteht er zum Glück nicht. Wir gehen gemeinsam zu ihm in die Wohnung, wo es reichlich, reichlich eng ist. Zwar hat die Familie eine Vierzimmerwohnung, aber eben auch fünf Kinder, drei Jungs und zwei Mädchen. Zehra belegt ein Zimmer mit ihrer älteren Schwester. Die macht gerade ein Schülerpraktikum in einer Tierarztpraxis, sodass Zehra und ich Zeit und Ruhe für uns haben, um Mathe zu lernen. Ohne dass ich etwas sagen muss, zieht Zehra einen Zettel aus ihrer Schultasche. »Ich habe mir aus der Erinnerung die Aufgaben aus unserer Mathearbeit notiert. Ich dachte, das könnte dir nützen.«
»Und ob!«, rufe ich freudig aus. »Zehra, du bist ein Engel.«
»Oh, wäre ich ein Engel nach dem Islam, könntest du mich gar nicht sehen. Und du dürftest mich auch nicht anbeten. Also bleib lieber dabei, dass ich deine nette Nachbarin bin, und überschütte mich mit irdischem Lob«, antwortet Zehra und lacht.
»Mache ich«, verspreche ich. »Zehra, du bist … äh … super.«
Zehra lacht erneut. »Ein Poet wird aus dir auch nicht mehr.«
Dann widmen wir uns den Matheaufgaben.
Am nächsten Morgen merke ich, wie viel mir der Nachmittag mit Zehra gebracht hat. Zehn Aufgaben müssen wir in der Matheklausur lösen. Fünf davon stammen aus der Klausur der Parallelklasse, die ich gestern mit Zehra durchgegangen bin. Die halbe Miete habe ich also schon in der Tasche. Gonzo hat sich krankgemeldet. Offenbar hat er noch größere Angst vor der Matheklausur als ich und keinen zum Lernen gefunden. Wen wundert’s?
Mathe geschafft und Gonzo nicht da – besser kann der Tag eigentlich nicht laufen. Hinzu kommt, dass wir heute keine Bandprobe haben. Ich kann es gar nicht glauben, aber so wie es aussieht, habe ich nach der Schule frei! Frei, so wie alle anderen Schüler auch.
Draußen ist ein herrlicher Spätsommertag. Ende August. Blauer Himmel. 24 Grad warm. Dieser Tag ist ein Traum! Was fange ich nur mit diesem Tag an? Auf so viel Freizeit bin ich gar nicht vorbereitet.
Jetzt nach Schulschluss schlendere ich über den Hof, schaue mich um, ob ich Nelly irgendwo entdecke. Nelly ist eines der nettesten Mädchen in der Klasse. Sie und ihre Freunde treffen sich oft im Schwimmbad. Schon öfter hätte ich mitgehen können, wurde sogar ausdrücklich von ihr eingeladen. Aber jedes Mal kam etwas mit den YOUNG AGENTS dazwischen. Das konnte ich Nelly natürlich nie sagen, sondern musste mir immer irgendwelche Ausreden einfallen lassen. Inzwischen fragt sie mich schon gar nicht mehr. Ich sehe sie auch jetzt leider nirgends. Ich weiß nicht einmal, ob die Freibäder überhaupt noch geöffnet haben. Vermutlich ist die Badesaison schon vorbei.
Ich gehe ein paar Schritte weiter, bleibe wieder stehen und schaue mich erneut um. Dieses Mal nach Abena. Auch sie kann ich nirgends entdecken. Mist! Ich hab verpasst, sie zu fragen, was sie heute Nachmittag vorhat, als sie eben in der Klasse noch neben mir saß. Das ist mal wieder typisch für mich. Da habe ich nach ich weiß nicht wie langer Zeit mal wieder einen ganzen Nachmittag frei, und dann ist niemand da, mit dem ich den Tag verbringen kann. Klar, ich könnte Charles und Naomi anrufen. Aber mit denen meine Freizeit verbringen? Das klappt nie. Sofort würden wir wieder in unsere Agentenrollen fallen und irgendetwas für den Geheimdienst tun. Aber bei dem schönen Wetter allein zu Hause rumzuhocken – nein, das will ich auf gar keinen Fall.
Ich schlurfe weiter über den Schulhof und überlege, was ich mit dem Nachmittag anstellen könnte, da – steht plötzlich Shiona vor mir.
»Was machst du denn hier?«, frage ich sie. Gleichzeitig sehe ich mich unauffällig um. Ist jemand hier, der uns zusammen sieht? Das wäre zwar einerseits nicht so schlimm, würde aber andererseits zu Fragen meiner Mitschüler führen, vermutlich bis hin zum Gerücht, ich hätte eine Freundin, die älter ist als ich. Gegen den Klatsch und Tratsch auf einem Schulhof sind die Paparazzi-Storys der TV-Promisendungen ja schon fast seriöse Nachrichten.
Aber die Luft scheint rein zu sein.
»Ich hatte gehofft, euch hier zu treffen«, antwortet Shiona.
»Euch?«, entfährt mir die Frage, noch ehe mir einfällt, dass Shiona ja davon ausgeht, Charles, Naomi und ich würden in dieselbe Klasse gehen. »Ich meine … äh … ach ja?«
»Ja«, sagt Shiona. »Wo sind denn die anderen?«
»Schon nach Hause«, antworte ich schnell. »Wir hatten früher Schluss. Ich musste nur noch etwas mit dem Lehrer besprechen.«
»Ach, Mist!«, sagt Shiona. »Wollen wir sie schnell anrufen? Weit können sie ja noch nicht sein.«
»NEIN!«, sage ich lauter, als ich wollte. »Ich meine … äh … Wieso? Was ist denn los?«
Meinen freien Nachmittag sehe ich vor meinem geistigen Auge schon dahinschmelzen wie Eis in der prallen Mittagssonne. Aber was soll’s? Hatte ja sowieso nichts vor.
»Ich will neue Noten kaufen. Und ich dachte, wir suchen die am besten gemeinsam aus.«
»Noten?«, frage ich ehrlich verwundert. »Wo?«
»Na, wo schon?«, fragt Shiona zurück. »Im Musikgeschäft natürlich.«
»Ich hätte jetzt eher aufs Internet getippt«, gebe ich ehrlich zu.
Doch Shiona winkt ab. »Bei den meisten Anbietern muss man sich erst registrieren, anmelden und so. Hab ich keine Lust zu. Und auch nicht, die Noten selbst auszudrucken«, erklärt mir Shiona. »Ich will richtige Notenhefte von den aktuellen Charts.«
»Na schön«, seufze ich. Das war’s dann wirklich mit meinem freiem Nachmittag. Denn ich darf eines nicht vergessen: In Gegenwart von Shiona bin ich immer ein YOUNG AGENT. Kein Freund, kein Musiker ihrer Band, sondern immer ein Agent im Einsatz. Das ist der einzige Grund, sie überhaupt zu kennen und zu treffen. Das darf ich nie vergessen. Das ist übrigens fast das Schwierigste an der ganzen Agententätigkeit. Dass man Freundschaften, persönliche Beziehungen, seine Empfindungen und so weiter vollständig hintenanstellt und sich auf seine Aufgabe konzentriert.
Ich zeige zum Parkplatz, wo mein Rad steht.
»Kannst du mich auf dem Rad mitnehmen?«, fragt Shiona.
»Klar«, antworte ich. »Gehen wir.«
Shiona geht voraus, sodass ich den kurzen Moment hinter ihrem Rücken nutzen kann, um Naomi per Nachricht zu informieren, ohne dass Shiona es mitbekommt.
Kurz darauf steigen wir beide auf mein E-Bike, und ich düse los.
Ich habe ehrlich gesagt gar keine Ahnung, wo sich das nächste Musikgeschäft befindet. Aber Shiona hat mich als Gitarristen kennengelernt, der Musik über alles liebt. Also muss ich meine Unkenntnis ein wenig überspielen.
»In welchen Laden gehst du denn am liebsten?«, frage ich.
»Na, in welchen wohl?«, fragt sie zurück, als gäbe es in der knapp Zweimillionenstadt Hamburg nur ein einziges Musikgeschäft. »In den Bunker.«
Glück gehabt. So muss ich nicht peinlich nach der Adresse fragen. Jeder in Hamburg weiß, was mit »Bunker« gemeint ist: der große Bunker gleich neben dem Fußballstadion des FC St. Pauli. Bis dorthin ist es mit dem Rad eine ganz ordentliche Strecke.
»Sitzt du gut?«, frage ich.
»Ja, bestens«, kommt die Antwort hinten vom Gepäckträger. »Und du? Geht’s?«
»Klar!«, rufe ich nach hinten. »Das ist ein E-Bike, da muss ich ja selbst kaum treten.«
Auch die Strecke ist okay. Zuerst einmal quer durch den Stadtpark, dann an der Alster entlang, kurz durch den Innenstadtbereich, und nach 35 Minuten sind wir da.
»Hier ist es!«, ruft Shiona mir ins Ohr, als ob man den riesigen Bunker übersehen könnte.
Ich schließe das Rad an den Fahrradständern an, während Shiona schon ein paar Schritte vorausgeht zum Bunker. Eigentlich brauche ich das Rad nirgends anzuschließen, denn ohne dass ich es mit meinem Daumenabdruck freischalte, kann es niemand fortbewegen. Aber diese technische Feinheit meines Agentenrads will ich Shiona nicht offenbaren. Während ich also pro forma mein Rad anschließe, hopst Shiona fröhlich auf das Geschäft zu. Ihre Trauer darüber, dass ihr Vater in U-Haft sitzt, scheint sie – zumindest für diesen Moment – recht gut verarbeitet zu haben. Ich sehe noch schnell nach, ob es eine Antwort von Naomi gibt.
In dem Augenblick höre ich hinter mir quietschende Reifen. Die meisten Menschen denken bei dem Geräusch entweder an einen Angeber, der es nötig hat, mit seinem PS-starken Auto zu protzen, oder sofort an einen Unfall. Für mich bedeutet das Geräusch quietschender Reifen in meiner ersten Reaktion: Überfall!
Im Bruchteil einer Sekunde sind alle meine Sinne geschärft. Ich wende mich ruckartig zum Eingang des Ladens, und da sehe ich schon, wie ein vermummter Mann aus einem schwarzen Van herausspringt, sich die völlig verdutzte Shiona schnappt und sie ins Auto zerrt. Das Ganze geschieht so rasant schnell, dass Shiona erst zu einem Hilfeschrei ansetzt, als sie schon fast in den Wagen geworfen wird.
Aber ich war durch meine erste Intuition vorbereitet. Als der Mann Shiona schon halb durch die Schiebetür des Vans gepresst hat, bin ich bereits an ihm dran, verpasse ihm einen Tritt in die Kniekehle. Der Mann knickt ein, lässt Shiona sogar los, die aber schon von einem Komplizen im Van gepackt und hineingezogen wird. Der Vermummte fällt leider nicht, sondern fängt sich, dreht sich mit derselben Bewegung zu mir und verpasst mir mit seinem Ellenbogen einen Schlag gegen das Kinn. Ich kann zwar noch reaktionsschnell meinen Kopf zurückziehen, aber nicht weit genug. Sein Ellenbogen streift mich und streckt mich zu Boden. Der Vermummte will es dabei belassen, springt in den Van, der sofort Vollgas gibt und losdüst. Aber ich bin schneller. Noch ehe die Typen die Schiebetür schließen können, bin ich wieder auf den Beinen und hechte mit einem Kopfsprung in den Van hinein. Zum Anhalten haben sie keine Zeit, mich rauszuwerfen schaffen sie nicht, weil ich mich festhalte und wehre. Nun haben wir auch schon ein zu hohes Tempo erreicht. Die Tür schließt sich also hinter mir, der Van düst durch die Stadt, mit Shiona und mir als Gefangenen. Wir wurden soeben auf offener Straße am helllichten Tage entführt!