Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 44
5.3. Die wirkliche und harte Macht des Schlechten
ОглавлениеDie Erwähnung Schellings rührt an ein anderes entscheidendes Problem: Denn seitdem dieser in seiner Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ (1809)124 sowohl Leibniz wie der früheren Tradition vorgeworfen hatte, die Wirklichkeit des Schlechten zu leugnen, wenn sie dieses auf reine „Entbehrung“ (Privation) eingrenzten, konnte die Verwirrung nur zunehmen und die Topoi sich üppig vermehren. Doch auch hier sind Unterscheidungen vonnöten.
Sicher ist, dass die Erörterung des Übels mit einer starken abstrakten Überfrachtung auf uns gekommen ist, welche jenes Urteil zu begründen vermag. Denn einerseits wurde die Neigung zur Substantivierung spürbar, sehr beeinflusst durch den Objektivismus der platonischen Ideen, der – wie Amor Ruibal stets hervorhob – das gesamte Denken zutiefst geprägt hat, einschließlich dem des eigentlich aristotelischen Milieus. Unter diesen Bedingungen war es notwendig, um einem Dualismus zu entgehen, dem „Übel“ eine ontische Wirklichkeit (als „Substanz“ oder sogar als „Akzidens“) abzusprechen. Mit dieser Neigung, und diese noch verstärkend, verbanden sich auch theologische Motive in der Absicht, zu verhindern, dass Gott als positive Ursache allen Übels erscheinen konnte. Und natürlich war es nicht leicht, anders zu verfahren, wollte man unter jenen Voraussetzungen diese Gefahren vermeiden.
Doch Schellings Reaktion, die danach ohne wirklich kritische Prüfung so oft wiederholt wurde, ging, unter Beibehaltung der Voraussetzungen selbst, bis ins gegenteilige Extrem. Um nämlich die enorme und grausame Macht des Schlechten zu sichern, hat er diese so weitgehend substantiviert, dass er einen echten, sowohl religiösen wie metaphysischen, Dualismus einführte. Denn dies bedeutet streng genommen, das Schlechte als Bekundung einer dunklen, transzendenten „Macht“ innerhalb Gottes selbst anzusehen. Als unabhängige Macht – „Grund“, wie er sagt, – der, obgleich in Gott beherrscht, in der Welt seine gewaltige und destruktive Kraft durch die menschliche Freiheit und die von ihr entfesselten feindlichen Mächte ausübt.
Das Schlechte ist dadurch eine Realität an sich, ein Prinzip, eine in ständigem Kampf mit dem Guten begriffene Macht. Gott mag sie zwar nicht, doch ist sie „notwendig“, da ohne ihr Dasein nicht einmal in Gott der Wille zur Schöpfung entstünde und auch in der Geschichte seine Offenbarung nicht hervortreten könnte. Darum kann er das Schlechte nicht verhindern: „Es wäre dies ebensoviel, als daß Gott die Bedingung seiner Existenz, d.h. seine eigene Persönlichkeit, aufhöbe. Damit also das Böse nicht wäre, müßte Gott selbst nicht sein.“125 Diese Ideen aber sind bei Schelling nicht zweitrangig, sondern halten sich auch in seinem späteren Werk.
In der Philosophie der Offenbarung erscheint dann Satan als Personifizierung jenes dunklen „Grundes“, der in der Geschichte, durch den Sündenfall der Menschheit entfesselt und angetrieben, in einen ständigen Versucher und Ratgeber zum Schlechten verwandelt wurde126.
In ihrer metaphysischen Strenge führt diese Ansicht zu einem Dualismus, der, zum Teil von Jakob Böhme übernommen, bereits von Franz von Baader127 kritisiert wurde und der, wie Philip Clayton richtig bemerkt, „gerade die Seite an Schellings Philosophie darstellt, welche die Prüfung durch die Zeit weniger gut überstanden hat“128. Doch steckt in ihr auch eine zutreffende Hervorhebung: der ernsthafte Charakter „schlimmer“ Ereignisse, ihre furchtbare Gegenwart und ihre Fähigkeit zur Zerstörung. Deshalb kann sie als generische Bekundung weiterhin Einfluss ausüben; sie kann aber auch zur Verwirrung beitragen, die nach unserer Meinung durch das Fehlen der oben analysierten Unterscheidung verursacht wird.
Der Tradition nämlich mangelt es nicht an Gründen, wenn sie den negativen Charakter des „Schlechten“ hervorhebt. Können wir alle aber in einem übereinkommen, dann ist es, dieses „Schlechte“ als das zu beschreiben, was nicht sein soll. Selbst wer das theoretisch leugnen möchte, gerät damit in einen pragmatischen Widerspruch, sobald er zum Arzt geht, um eine Krankheit behandeln zu lassen, bzw. wenn er gegen Hunger, Gewalt oder Mord protestiert, die er aus der Welt verbannt sehen möchte. Was hier geschieht, ist jedoch, dass diese Negativität gar nicht unmittelbar die Seinswirklichkeit betrifft, welche die Ereignisse hervorbringt, sondern das Werturteil über die Art und Weise, wie sie in unser Leben bzw. andere Realitäten eingreifen.
Ganz objektiv betrachtet, sind oder können die Dinge, welche das von uns als „schlimm“ eingestufte Ereignis auslösen, ebenso stark und positiv sein wie diejenigen, die von uns als „gut“ bewertete Ereignisse hervorbringen. Es sind immer deren Auswirkungen, die unter bestimmten Umständen als schlimm bezeichnet werden. Wie schon dargelegt, gehorcht eine solche Bezeichnung keiner bloßen Laune und bleibt auch nicht dem rein subjektiven Relativismus überlassen. Denn sie hat eine sachliche Grundlage. Das Missverständnis entsteht erst durch analogische Übertragung der eigentlichen Wirkungsqualifikation auf die Ursache, wobei die bloße Qualifizierung als Substanz aufgefasst wird. Recht gut verdeutlicht dies das klassische Beispiel, in dem die Medizin als „gesund“ gilt, weil sie Kranke wieder gesund machen kann. Und umso mehr, wenn wir die Zweideutigkeit des griechischen Wortes phármakon bedenken, das wohl „Heilmittel“, aber auch „Gift“ bedeuten kann. Die Seinswirklichkeit ist in beiden Fällen dieselbe, und mit derselben Energie und demselben Wirkvermögen ausgestattet. Als „gut“ oder „schlecht“ – Heilmittel oder Gift – wird das phármakon erst nach der Art gewertet, wie es auf das Leben einwirkt, das es in sich aufnimmt.
Man begreift also, dass bei dieser analogen Übertragung und in Anbetracht der von gewissen Dingen ausgelösten destruktiven Wirkungen von der „Macht des Schlechten“ die Rede ist. Und sogar, dass man von „strukturellem Übel“ spricht, wenn man beobachtet, wie bestimmte Ursachen einander verstärken oder eine Kettenreaktion mit verheerenden Folgen hervorrufen. Dann mag auch die Rede davon, dass alles Übel reine Negativität sei bzw. keine objektive Existenz habe, wie eine wahre Provokation anmuten oder sogar wie ein Hohn auf den Schmerz und oftmals die Tragödien des menschlichen Daseins.
Jedoch wird man der Tradition nicht gerecht, solange man nicht auch die andere Seite der Angelegenheit bedenkt. Da nun das Ereignis, welches wir mit Recht als „schlimm“ bezeichnen, als das wahrgenommen wird, was nicht sein sollte, bleibt der tiefere Sinn anzuerkennen, den auch die Rede von der Negativität des Schlechten hat: „Die Privationsthese besagt weder, daß das Übel gar nicht existiert, noch folgt aus ihr, daß die Erfahrung des Übels illusionär ist“.129. Denn das Schlechte ist Negation, weil es kein Wirkliches an sich darstellt. Und negativ sind alle „Übel“ – die schlimmen Vorkommnisse –, entweder weil mit ihnen nichts Wirkliches da ist, was es besser schon geben sollte (wie Gesundheit, Wahrheit, Frieden, …), oder auch weil es schlicht besser wäre, es gäbe sie nicht (wie Lüge, Krankheit, Verbrechen, …)130.