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5.4. Negativität und Privation

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Dies gibt uns Veranlassung dazu, wenn auch nur sehr kurz, das Thema der Privation zu erörtern, die in der Tradition eine so hohe Abkunft hat, dass diese von Aristoteles bis Leibniz und noch weiter in ihr die Ursache und selbst das Wesen allen Übels ansetzen konnte131.

In der Tat erscheint das Bestehen einer engen Verbindung zwischen beiden Begriffen deutlich vor allem in den konkreten Entbehrungen, die nicht von ungefähr zum bevorzugten Anlass für die Reflexion genommen wurden. Die einfachste Erfahrung zeigt nämlich, dass es eine ganze bedeutsame Reihe von Übeln gibt, die aus der Negativität entstehen, welche das Fehlen einer Eigenschaft impliziert, die – im Unterschied zu dem, was bei bloßer Negation geschieht, – wohl vorhanden sein müsste. Denn dass ein Mensch keine Flügel hat, wird nicht als Übel erfahren; doch dass ihm das Augenlicht, ein Arm oder ein Bein fehlt, wurde und wird stets als ein Übel empfunden, eben wegen der negativen Erfahrungen, die das oftmals bedingt.

In einer Weise erlangt diese Feststellung auch einen gewissen Allgemeinwert, wenn man bedenkt, wie das Üble immer etwas von Mangel oder Entbehrung an sich hat. Deshalb ist es auch „parasitär“ gegenüber dem Guten: Es setzt dieses als Grundlage seiner Erfahrung voraus132. Letztlich ist etwas schlecht, weil es die normale Funktion bzw. Ausführung des Wirklichen behindert.

Daher ist, trotz dessen häufiger Wiederholung, auch Schopenhauers – eher geistreicher als tiefgründiger – Ausspruch nicht gerecht, wenn er in einer Umkehrung der traditionellen Aussage behauptet, das Gute sei der Mangel an Schlechtem. Denn Gut und Schlecht sind nicht symmetrisch133. Tiefer schon – wenn man sie nur recht versteht und trotz einiger Übertreibungen! – greift da Hegels berühmte Behauptung, nach der allein das Vernünftige wirklich ist. Denn ihr wahrer Sinn richtet sich darauf, dass nur das wahrhaft wirklich ist, was sich an seinem rechten Ort befindet und seinen gedachten Zweck erfüllt. Dies ist etwa ein Herz, das sein Blut richtig in den Kreislauf pumpt und dadurch einen Organismus belebt; nicht aber „ist“ dies eine Gruppe von Krebszellen, die einen Organismus zu zerstören suchen. Und genau darum sind wir bestrebt, sie zu beseitigen134.

Einzig in einem Kombinationsspiel mit den abstrakten Begriffen darf man sagen, es liege in derselben Logik, wenn man behauptet, Krankheit sei Mangel an Gesundheit bzw. Gesundheit sei Entbehrung (Privation) der Krankheit. Die gewohnte Sprache selbst schon widersetzt sich dieser zweiten grammatischen Konstruktion. Denn sie würde höchstens die Aussage dulden, Gesundheit sei Negation der Krankheit. Und das impliziert, genau betrachtet, dass die Gesundheit die Negation einer Negation ist: Es ist das Positivum des Lebens, das sich an sich behauptet, und zwar gegen etwas, das hinzutritt und es zu negieren oder zu mindern trachtet135.

Jedenfalls deuten die Affinität der Begriffe und die berechtigten Vorbehalte darauf, dass eine Nuancierung nötig erscheint. Denn angesichts linearer Vereinfachung gilt es, die Spannung aus zwei Bestrebungen lebendig zu erhalten. Die erste besteht darin, sich vor übermäßiger Entwirklichung des Schlechten zu hüten, was den Kampf dagegen zum Erliegen bringen könnte; vor allem, wenn man hier bedenkt, dass nicht alles Übel unmittelbar aus einer Privation entsteht. Ganz im Gegenteil: Oftmals erstaunt die positive Wirklichkeit, die es verursacht, obgleich in ihrer Wirksamkeit fehlgeleitet, durch ihre Macht und ihr Zerstörungsvermögen, sogar dort, wo man in einem furchtbaren Paradox von dessen „Banalität“ sprechen darf136. Die zweite besteht darin, anzuerkennen, dass, in der eigentlichen Absicht ihrer Vertreter, die Theorie der Privation nicht ohne weiteres eine Leugnung des schrecklichen und folgenreichen Charakters des Schlechten bedingt. Dies bestätigt nicht nur ein typischer und berufener Vertreter wie Charles Journet137, sondern ebenso erkennt das z.B. John Hick an, ein Autor, der sich ausdrücklich außerhalb dieser Theorie einordnet: „[die Privation] impliziert nicht, daß alles Übel keine echte Tatsache und kein grausam bedrängendes Problem mehr ist; und deren größte Verfechter haben das auch nie angenommen“138.

Bedenken wir alles dies, so bleibt noch eine letzte Überlegung, mit der wir zu etwas bereits Angedeutetem zurückkehren (vgl. oben 3.3). Denn die Dynamik des Wirklichen und der ständige, unstillbare Hunger nach Erfüllung, der das Leben der Menschen kennzeichnet, haben zur Folge, dass die Endlichkeit nicht als eine feste und friedliche Umgrenzung erlebt wird, sondern als spürbarer Mangel, als Wand, an der sich unser Streben immer wieder stößt, durch die unsere Bemühungen gehemmt und nur allzu oft unsere Pläne vereitelt werden. In einem ganz radikalen Sinn und im Gegensatz zu der grenzenlosen Dynamik unseres Seins sowie der unendlichen Offenheit unseres Geistes erhält die Endlichkeit auch ein unleugbares Merkmal der Privation. Daraus ergeben sich zwei in Kulturen und Religionen der Menschheit beständige Erscheinungen: im Negativen die Versuchung der Hybris, der Wunsch, mehr als Menschen zu sein, die Versuchung, Götter zu werden; und im Positiven das Bestreben, das eigene Sein durch demütige Öffnung auf eine – mystische oder philosophische – Gemeinschaft mit dem Absoluten unendlich zu entgrenzen.

Eigentlich aber bleibt für den Verlauf unseres Diskurses, wie auch immer Nuancierung und Genauigkeit dieser Reflexionen im Äußersten des Menschlichen ausfallen mögen, entscheidend, dass durch sie die Grundthese durchscheint und sich bestätigt: Der letztliche Ursprung, die bestimmende Möglichkeitsbedingung für alles Übel liegt in der Endlichkeit. Wenn wir nun zum Anfang dieses Abschnitts zurückkehren, zu Schellings Anklage gegen die Leugnung der furchtbaren und machtvollen „Wirklichkeit“ des Schlechten, so konnte auch Friedrich Billicsich nicht umhin, scharfsinnig zu bemerken, dass dies selbst für ihn wahr sei, trotz seiner gegenteiligen Bemerkungen. Denn letztlich liegt in der Endlichkeit der Geschöpfe auch der Grund für deren Unfähigkeit, Trennung und Widerspruch beider Prinzipien zu verhindern, mit den verheerenden Folgen der Erscheinung des Übels. Schelling verkündet daher, dass die Versöhnung allein in Gott möglich sei, in der göttlichen Unendlichkeit139.

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