Читать книгу Es war doch nur Regen!? - Andy Neumann - Страница 7

Donnerstag, 15.07.2021

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Der Tag beginnt mit einer Überraschung. Zarte Kinderstimmchen, munter und fröhlich wie immer, aus dem Schlafzimmer. Ich will rüber, aber nicht, ohne vorher einen Blick in den Garten zu werfen. Es ist der fleischgewordene Albtraum. Die Ahr ist immer noch in unserem Garten. Mit ihr fünf Autos. Was fehlt, ist der Garten. Und zwar alles darin. Einzig die Terrasse hat überlebt, an einem Stück (mein Bruder, Stolz der Handwerkerschaft!). Allein, sie schwimmt etwa anderthalb Meter unterhalb des Kinderzimmerfensters. Man muss so etwas erlebt haben, um nachzuvollziehen, wie es sich anfühlt. Reine Beschreibungen bleiben unzureichend. In mir regt sich jedenfalls sofort der Gedanke: »Das hier ist wie Krieg«. Doch dann will ich zu meiner Familie. Ich gehe ins Schlafzimmer.

Und erlebe: Freude, Neugierde, Abenteuerlust.

Ich sage es einmal, und ich sage es auch gerne wieder: Was für eine Frau!

Für unsere Kinder hat die Situation also nichts Bedrohliches, nichts, was sie traumatisieren oder auch nur beunruhigen würde; sondern ein Abenteuer! Eines wie die, die sie ständig mit ihrer Mami erleben, die sie gewohnt sind und die, bei aller Herausforderung, am Ende immer gut ausgehen.

»Papa, wir haben das Meer am Haus«, an diesen Satz erinnere ich mich, ohne wirklich zu wissen, ob er genauso gefallen ist oder nicht. Aber er verdeutlicht gut, wie die Kids diesen Morgen beginnen. Was für ein Wunder das ist, angesichts des Chaos und der Zerstörung, die um uns herum alles dominieren.

Dass Onkel Winzer uns mit dem Unimog rausholt, wissen sie auch schon. Freude pur! Unser Sohn weint an diesem Tag das erste Mal, als er erfährt, dass es doch nicht der Unimog sein wird.

Meine Frau will nicht, dass die Kinder zu viel von draußen sehen, ich glaube, sie würde ihnen am liebsten die Augen verbinden. Und wer weiß, vielleicht hätte sie, wie in so vielen Dingen, auch damit recht. Ich kann und will aber nicht verhindern, dass sie ihre Neugierde befriedigen, und lasse sie an die Fenster, um sich anzusehen, was um uns herum vorgeht. Der immer noch reißende Strom, die Autos im Garten, die Terrasse so nah an uns, dass man hätte draufsteigen können, die Zäune weg, die Pflanzen weg oder umgerissen … die Aufzählung wäre endlos.

Für die Kinder aber ist das alles, und ich weiß, ich wiederhole mich, nicht bedrohlich. Sie lassen sich erklären, was passiert ist, stellen ein paar Fragen, und verhalten sich anschließend, unterstützt durch die geretteten Süßigkeiten, als wäre es ein ganz normaler Tag.

Und es dauert immerhin noch Stunden, bis der Pegelstand so niedrig wird, dass »Onkel Winzer« uns holen kann. Allerdings nicht bei uns am Haus, sondern etwa einen Kilometer weiter weg, ab dort gibt es kein Weiterkommen für ihn. Wer sich fragt, wieso, hat noch nie vier Autos gesehen, die übereinander geschoben eine ganze Straße blockieren. Die Vernichtung unserer Heimat ist grenzenlos. Und doch nimmt man sie, in diesen ersten Stunden unter gnädigem Schock, nicht im Ansatz so wahr, wie das in den folgenden Tagen der Fall sein wird.

Meine Frau ist an diesem Morgen die Erste, die nach unten geht. Sie will unter anderem ihre Handtasche suchen und mein Portemonnaie. Beides wäre wichtig. Beides findet sie nicht. Aber die Bestandsaufnahme ist dennoch nicht schlecht. Ich habe meinen Dienstausweis noch, die Reisepässe und alle wichtigen Unterlagen waren immer im OG, wir haben die Schlüssel für Haus und Autos (letztere nutzlos, aber wer erkennt das jetzt schon?), alles andere wird sich fügen.

Irgendwann höre ich etwas in der Art von »Das gibt’s doch jetzt nicht, oder?«, und rufe nach unten, was los ist. Wie sich herausstellt, hat von allem, was in dieser Nacht zerstört wurde (also faktisch allem!), ausgerechnet das riesige Glas überlebt, aus dem ich Wein trinke, wenn ich im Weingut Musik mache. Der Winzer hat es mir zum 40. geschenkt, mit einer Botschaft darauf, die ich nicht zitiere, denn sie braucht Kontext. Aber es ist ein Glas! Ein Glas!! Massive Holzmöbel sind kaputt, dreifachverglaste Fenster, Türrahmen, der riesige Kühlschrank, das Klavier, einfach alles ist Schrott. Und ein Glas, so groß wie eine Wassermelone, liegt heil in der Sutsche! Wunder Nummer zwei, wenn auch kleiner und viel weniger bedeutend als das Erste.

Wir packen unsere Koffer und Taschen, jedenfalls soweit das möglich ist, denn schließlich werden wir die Kinder noch tragen müssen, und verlassen das Haus. Ohne Gummistiefel, denn selbst wenn wir welche hätten, wären sie, wie all unsere Schuhe und die Schuhe der Kinder, unter 30 Zentimeter Schlamm begraben oder einfach weg. Ich selbst trage die Haferlschuhe, die ich, zusammen mit der Tracht aus unserer Zeit in München, im Ankleidezimmer aufbewahre. Meine letzten, meine einzigen Schuhe sind Oktoberfestlatschen. Bayern wäre stolz auf mich; aber brauchen kann man die Dinger leider nicht, wenn man sich durch die Brühe kämpft.

Mit den Kindern auf Armen oder Schultern und der Menge Gepäck, die irgendwie zu tragen ist, machen wir uns also auf den Weg in die Altstadt von Ahrweiler, wo der Winzer wartet. Spätestens am Friedhof sollen die Kinder dann wirklich die Augen zumachen, aber was hätten solche Kommandos je geholfen, wenn Kinder neugierig sind? Mein Gott, diese Verwüstung. Ich könnte noch so sehr versuchen, Ihnen vor Augen zu führen, wie es aussieht, wie es riecht, sich anfühlt; es bliebe unzulänglich. Man will heulen, aber dazu ist man viel zu müde. Dann, am Ahrtor, das vertraute Gesicht. Der Winzer kommt uns entgegen. Wir gehen die letzte Strecke bis zum Marktplatz, wo sein Auto steht, und auch hier nichts als das blanke Chaos. Unsere Pfarrerin Elke mit ihrem Mann, wie sie in seinem Laden stehen und versuchen, sich das Ausmaß der Katastrophe bewusst zu machen. Ich sage ihr zum Abschied, dass gerade Menschen wie sie in der kommenden Zeit sehr wichtig für das Tal sein würden. Immerhin damit hatte ich recht.

Wir fahren ins Weingut und beziehen das Ferienhaus, das der Winzer uns spontan zur Verfügung stellt. Ich weiß, die Versicherung wird es bezahlen, und mache mir um dieses Thema keine Sorgen. Wir sind in Sicherheit. Wir haben uns, uns ist nichts passiert, und alles andere sind doch nur Dinge.

Unabhängig von allem, was noch folgte, von den Höhen und Tiefen, durch die wir gingen, den Strapazen und Sorgen, die mich wohl ein paar Lebensjahre kosten werden, war das doch ein Gedanke, der mich nie ganz losließ und der mir, seit diesem erlösenden Telefonat in der Nacht, ein Trost war: Uns ging und geht es, gemessen an unzähligen Menschen um uns herum, am Ende wirklich gut.

Ich verabschiede mich, als ich meine Liebsten warm, trocken und satt weiß, zeitig zurück ins Haus. Begleitet von Mario, Speedy und Jörg, die sofort alles stehen- und liegenlassen, um mir zu helfen. Was wir denken, dass wir es tun werden:

»Nur schnell Handtasche und Portemonnaie suchen, dann raus (ein running gag, der uns noch heute alle zum Lachen bringt)«.

Was wir tatsächlich tun? Das große Schlammschippen!

Wir graben uns vorwärts, schaffen erst einmal alles an großem Hausrat nach draußen, so gut es geht, um überhaupt an den Schlamm ranzukommen, und beginnen, wieder einmal dem Winzer sei Dank, abends schon damit, sämtliche »freien« Wände mit dem Wassertank des Unimog abzuspritzen. Warum das wichtig ist? Fragen Sie all die Menschen, die noch Wochen später mit Schimmel kämpften, weil sie solche Möglichkeiten nicht hatten.

Bis zum späten Abend haben wir schon unglaublich viel geschafft, der Vorgarten sieht aus wie Hund, wir sind matt, aber guter Dinge (trotz des ausgebliebenden Fahndungserfolgs nach Handtasche und Portemonnaie). Für mich ist klar, dass ich mit all der Unterstützung, die nicht weniger heftig auf uns einstürzt als die Flut in der Nacht zuvor, keine Angst haben muss. Wir werden das hinbekommen.

Im späteren Abendverlauf poste ich dann folgendes:

Freunde, ganz lieben Dank für den Zuspruch heute, das hat, sofern denn mal Zeit war, Kraft gegeben.

Das Bild hier ist, falls das nicht klar wird, ein Symbol für Hoffnung. Bei allem, was zerstört ist, seien es Türen, Fenster, Regale, Klaviere oder Fernseher, überleben doch oft die kleinen Dinge, an denen wir uns aber so sehr erfreuen, dass für einen Moment die Welt wieder licht wird.

Ich liebe dieses Glas, es steht für mich und ist ein Teil von mir.

Aktuell trinke ich einen ziemlich guten Tropfen daraus und denke, bei all dem Chaos und Leid um mich herum:

Nein, Schicksal, mich kriegst du nicht klein!

Prost, ihr Lieben.


Ich weiß nicht mehr, welcher Tropfen es war, aber ich schätze, der Winzer hat sich nicht lumpen lassen, und er war, weiß Gott, verdient nach der Schufterei. Dass dieses Glas überlebt hat, ist für mich immer noch unbegreiflich. Und ich freue mich schon auf das erste Konzert, das ich wieder spielen werde, und den ersten Schluck auf der Bühne, der mich wieder weiter in Richtung Normalität treiben wird.

Meine Frau hatte den gesamten Tag darauf verwendet – neben der wichtigsten aller Aufgaben, unsere Kinder stabil und mir damit den Rücken frei zu halten! – unzählige Telefonate zu führen. Mit der Familie, die kommen und helfen wollte und die ab Freitag auch schon Gewehr bei Fuß stand. Mit Freundinnen und Freunden, die Anteil nahmen und Hilfe jeglicher Art anboten. Und mit Handwerkern, die, wie wir wussten, unglaublich wichtig sein würden. Wer schon mal gebaut hat, weiß, dass da nichts schnell genug gehen kann.

Die Anrufe meiner Frau hatten auch gleich mal das dritte und vierte Wunder bewirkt.

Dazu später mehr.

Es war doch nur Regen!?

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