Читать книгу Liebeskummer auf Italienisch - Angela Gerrits - Страница 4
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ОглавлениеMama saß mit Ohrstöpseln in ihrem Arbeitszimmer und schrieb einen Artikel für eine Psychologie-Fachzeitschrift. Papa räumte die Spülmaschine aus und guckte Fußball. Er hatte den großen Fernseher aus dem Wohnzimmer auf den Küchentisch gestellt. Es bohrte und hämmerte und schabte wie heute Morgen. Plötzlich stand ein Handwerker mit einem Kaffeebecher in der Küche und drückte auf den Latte-Macchiato-Knopf der Espressomaschine, ohne um Erlaubnis zu fragen. Ich fand das unmöglich, sagte aber nichts. Hauptsache, sie ließen mein Dachtürmchen in Ruhe. Außerdem gab es gerade Wichtigeres.
„Ich muss euch was sagen“, begann ich leise.
Zu leise, denn Papa reagierte nicht, sondern klapperte mit den tiefen Tellern, als müsste er den Baulärm übertönen.
Ich räusperte mich. „Papa!“, rief ich.
Papa und der Handwerker sahen gleichzeitig zu mir herüber. Ich warf Papa einen langen, bedeutenden Blick zu, woraufhin der Handwerker mit seinem Kaffee wortlos ins Wohnzimmer verschwand. Na endlich, dachte ich.
„Ich muss euch was sagen!“, brüllte ich in eine plötzliche Stille hinein.
„Hallo, Linchen, warum brüllst du denn so.“ Mama tauchte hinter mir auf und strich mir über den Kopf. „Du hast uns heute Morgen ja eine ganz schöne Szene gemacht.“
Was sollte das denn bedeuten? Und wieso strich sie mir über den Kopf, während sie das sagte?
„Ja, das hat uns beeindruckt, Lina-Maus“, fügte Papa hinzu. Auch er klang überhaupt nicht böse. „Und weil wir finden, dass du recht hast ...“
„Jedenfalls teilweise“, schränkte Mama ein.
„Haben wir uns was Schönes überlegt. Ziemlich spät, zugegeben ...“
„Aber noch nicht zu spät“, sagte Mama und lächelte mich an.
Ich hatte überhaupt keine Ahnung, worauf das Ganze hinauslief. Außerdem brachten mich die beiden völlig aus dem Konzept, denn ich hatte mir auf den letzten zehn Metern von Chris nach Hause doch noch ein paar einigermaßen brauchbare Argumente für Italien zurechtgebastelt, zum Beispiel: Wenn ihr euch nicht um mich kümmert, muss ich mich eben selbst um mich kümmern. Oder: Ihr wollt doch immer, dass ich selbstständig denke und handele, und nichts anderes habe ich gerade getan. Oder: Wenn ich nicht mit Chris nach Italien darf, fahre ich mit euch nie wieder weg. Oder: Wenn ich hierbleiben muss, kriege ich einen Nervenzusammenbruch und Depressionen und muss die Schule abbrechen und werde ein Pflegefall, und ihr müsst euch euer ganzes Leben lang um mich kümmern und euer ganzes Leben lang alles für mich bezahlen.
Das letzte Argument gefiel mir am besten. Ich beschloss, gleich damit anzufangen.
„Vor zehn Minuten habe ich die Bestätigung per Mail gekriegt, dass das Häuschen noch frei ist“, sagte Mama und strahlte mich an.
„Das Häuschen?“ Ich verstand kein Wort.
„In Südschweden. Da wollten Mama und ich schon immer mal hin, vielleicht erinnerst du dich ...“
Nein, ich erinnerte mich nicht, aber so langsam begriff ich. „Ihr fahrt nach Südschweden?“
„Wir fahren nach Südschweden, mein Schatz“, sagte Mama. „In drei Tagen geht’s los!“
Ich schluckte.
„He!“, rief mir Papa auffordernd zu. „Das wird ein erstklassiger Familienurlaub! Du hast dich doch immer beschwert, dass wir nie was zusammen machen, und jetzt ziehst du so ein Gesicht?“
„Ich kann nicht“, sagte ich kleinlaut.
„Wie: du kannst nicht?“ Mama guckte ungeduldig auf ihre Armbanduhr.
„Ich fliege nach Italien.“
Keine Ahnung, wie ich es geschafft hatte, diesen Satz herauszubringen. Mama und Papa sagten sehr lange nichts, jedenfalls kam es mir sehr lange vor, und sogar der Baulärm hörte auf. Es war vollkommen still.
In dem Moment, in dem ich zu „tut“ von „tut mir leid“ ansetzte, rief Mama langgezogen und schrill: „Nach I-ta-li-en?“
Ich räusperte mich. Ich wagte nicht, Mama und Papa anzugucken, ich beobachtete sie halb aus den Augenwinkeln.
„Seit wann fliegst du nach Italien? Davon weiß ich ja gar nichts“, sagte Papa mit verwundertem Blick zu Mama.
Immerhin, er schien nicht böse zu sein.
„Seit eben, seit einer Stunde, das heißt, Chris hat mich gebeten, weil sie nicht alleine fliegen will, weil ihr Vater doch diese Neue hat, und deshalb fürchtet sie sich, deshalb hat sie mich gebeten mitzukommen ... Ich konnte unmöglich nein sagen, ich schwör’s, tut mir leid, aber es ist wirklich unheimlich wichtig!“
Ich holte Luft.
Mama und Papa guckten sich an und holten ebenfalls Luft.
„Na ja ...“, seufzte Papa.
„Das heißt, Chris’ Mutter spendiert dir den Flug?“, hakte Mama skeptisch nach.
Oh Mist, wie kam ich da jemals wieder raus?
„Nein, nicht direkt“, druckste ich, „sie hat ihn ausgelegt und gesagt, dass ihr ihn dann ja ...“
„Zurückzahlen könnt?“, beendete Mama den Satz mit finsterer Miene. „Na, der werde ich was erzählen! Wie kann die über unsere Köpfe hinweg einen Flug für dich buchen und auch noch erwarten, dass wir den bezahlen ...“
„Sie ist krank!“, sagte ich schnell, denn Mama war schon im Begriff, aus der Küche zu stürmen, um sich bei Chris’ Mutter zu beschweren.
Mama hielt inne und guckte mich mit einer Mischung aus Bestürzung und Neugierde an. „Krank?“
„Erkältet.“
Mama zuckte die Schultern: „Ach so.“
„Und ...“ Ich warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. „Ich habe gesagt, dass ihr bestimmt einverstanden seid ...“
„Nichts da“, warf Papa verärgert ein. „Sie hätte uns erst fragen müssen, so was geht einfach nicht.“
Ich ließ alle Hoffnung fahren, aus dieser Sache heil rauszukommen. Also konnte ich es auch zugeben.
„Ich habe gesagt, dass ihr einverstanden seid.“
Wieder entstand diese Stille. Wieder sagten sie nichts. Nur der Bohrer bohrte. Trotzdem konnte ich fast hören, wie Papa und Mama einrasteten vor lauter Empörung und Enttäuschung über mich.
„Und wieso hast du gelogen?“, fragte Mama mit ihrem gefährlich geduldigen Wir-können-über-alles-reden-Psychologen-Ton.
„Weil ... das war überhaupt nicht gelogen!“, verteidigte ich mich.
„Natürlich war das gelogen!“, schnaubte Mama empört. „Du hast gesagt, dass wir einverstanden sind, oder nicht?“
„Ja“, druckste ich, „aber ...“
„Nichts aber!“, fuhr Mama mir über den Mund. „Gesagt ist gesagt.“
„Aber ich musste doch denken, dass ihr einverstanden seid“, konterte ich trotzig. „Wenn ihr nicht mal wisst, wann ich Ferien habe! Ich dachte, ihr seid froh, wenn ich weg bin, damit ihr kein schlechtes Gewissen haben müsst, weil ihr euch mal wieder nichts für mich überlegt habt!“
Genau so war es, jawohl! Ich war stolz auf mich, dass mir diese Erklärung eingefallen war.
„Das ist ja wohl die Höhe.“ Mama stemmte die Hände in die Hüften. „Wer sagt denn, dass wir nicht wussten, dass du Ferien hast? Ich habe dafür sogar extra einen Auftrag abgesagt!“
Papa seufzte unwillig. „Das bringt doch jetzt alles nichts. Zeig mal dein Ticket. Oder hat Chris das noch?“
Ich zog das gefaltete Blatt Papier aus meinem Rucksack und reichte es ihm. „Gab keine billigeren Flüge mehr“, erklärte ich kleinlaut.
Papa schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Für das Geld kriegst du zwei Wochen Mallorca mit Vollpension! Wieso hast du mich denn nicht gefragt?“
Mama riss Papa das Ticket aus der Hand, warf einen ungläubigen Blick darauf und schüttelte den Kopf. „Dann darf ich die nächsten zehn Artikel also nur für das Ferienvergnügen meiner Tochter schreiben? Das kommt ja überhaupt nicht infrage!“
Die Sache sah nicht gut aus. Ich stellte mich innerlich auf Südschweden statt Italien ein, als Papa plötzlich aufbrauste:
„Was soll das denn heißen: die nächsten zehn Artikel? Schließlich bin ich ja auch noch da. Du tust gerade so, als wärst du eine arme, alleinerziehende Mutter!“
Mama guckte genervt an die Decke. „Meine Güte, bist du empfindlich, entschuldige bitte! Aber wer hat sich denn vorhin sofort dahintergeklemmt mit dem Häuschen? Du oder ich? Du hättest doch bis jetzt nichts unternommen!“
„Was ja offensichtlich besser gewesen wäre“, konterte Papa.
„Ach, komm, hör auf, das ist ja lächerlich. Konnte doch kein Mensch ahnen, dass Feline jetzt eigenmächtig Flüge bucht!“, erwiderte Mama aufgebracht.
Mir wurde immer mulmiger. Jetzt bekamen sie meinetwegen auch noch Streit!
„So, ich mache also gar nichts, ja?“ Papa blickte düster auf den Bildschirm des Fernsehers, auf dem stumm Fußball lief. „Ich kümmere mich also zu wenig um unsere Tochter, habe ich dich richtig verstanden, ja?“
„Jetzt hört doch auf!“, rief ich, aber Papa kam nun erst richtig in Fahrt. Mein ruhiger, besonnener, geduldiger Papa. So kannte ich ihn gar nicht.
„Nein, nein, nein, das möchte ich schon etwas genauer von Mama wissen“, beharrte er und fixierte Mama mit fragendem Blick. „Kümmere ich mich zu wenig, ja? Habe ich meinen Dienst etwa nicht extra für den Urlaub mit einem Kollegen getauscht?“
Mama winkte ab. „Nun tu mal nicht so groß. Du wolltest sowieso tauschen, das hast du mir vorhin selbst erzählt.“
Papa wurde lauter. „Weil ich vielleicht auch Urlaub brauche, hast du dir das mal überlegt?“
„Ach? Und ich vielleicht nicht?“, regte Mama sich auf.
„Seht ihr, jetzt sagt ihr’s ja selbst!“, ging ich wütend dazwischen. „Deswegen wollt ihr nach Südschweden, weil ihr selbst Urlaub braucht! Dann fahrt doch, mir doch egal, aber ich fliege nach Italien, so!“
„Fliegst du nicht!“, schrie Mama mich an.
„Jetzt lass Feline doch!“
„Na klar, du hältst ihr natürlich mal wieder die Hand vor den Hintern! Bist wochenlang weg, kommst nach Hause und machst alles kaputt, was ich mühsam aufgebaut habe!“
„Ich mache alles kaputt!“, rief Papa erbost. „Das wird ja immer schöner!“
Ich hielt mir die Ohren zu. „Aufhören!“
Mama verschränkte die Arme. „Unter diesen Umständen habe ich auf Südschweden überhaupt keine Lust mehr!“
„Bitte, dann sag’s wieder ab!“ Papa holte tief Luft.
Mama funkelte ihn böse an. „Keine Sorge, das mache ich auch. Und du fliegst nirgendwohin, mein Fräulein“, giftete sie mich an.
„Doch!“
„Nein!“
„Das werden wir ja sehen!“
Ich rannte aus der Küche und prallte mit dem Handwerker zusammen. Sein halb voller Kaffeebecher schwappte über, der Kaffee kleckerte auf mein hellblaues Sweatshirt.
„Oh!“, sagte er mit weit aufgerissenen Augen.
„Und das nächste Mal fragen Sie gefälligst erst!“, schnauzte ich ihn an, schnappte mir meine Jacke und knallte die Wohnungstür hinter mir zu.
Das war heute schon meine zweite Flucht von zu Hause, morgens vor dem Renovierungskrach und jetzt vor dem Krach meiner Eltern. Die spinnen doch, dachte ich, während ich die Treppe hinunter aus dem Haus lief. So heftig hatten sie sich ewig nicht gestritten. Dass sie wegen Italien sauer auf mich waren, konnte ich ja noch nachvollziehen, aber dass sie sich deswegen anschrien, verstand ich nicht. Das fand ich übertrieben.
Ich zog ein Papiertaschentuch aus meiner Jeans und tupfte an den Flecken auf meinem Sweatshirt herum. Ich roch nach kaltem Kaffee. Der Junge aus meinem Traum lächelte. Er hatte schwarze Haare, jetzt erinnerte ich mich wieder. Vielleicht war er Italiener, überlegte ich. Vielleicht war er der Kellner in der Strandbar, in der ich jeden Tag einen Erdbeershake trinken würde. Oder einer der gut aussehenden Jungen am Lagerfeuer ...
Der Wind blies mir scharf um die Ohren. Am Himmel hingen dicke dunkle Wolken. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke ganz hoch. Ich werde nach Italien fliegen, sagte ich mir, da konnte Mama sich auf den Kopf stellen. Egal, ob ich das Ticket die nächsten zehn Jahre vom Taschengeld abbezahlen musste und wie schrecklich auch immer Chris’ Familienanhang war: Ich wollte nach Italien. Jetzt erst recht!
Ich schrieb Chris eine SMS: Stress! Komm sofort zum Anleger! Dann setzte ich meine Kapuze auf, stieg aufs Rad und fuhr los.