Читать книгу Susanna - Angela Rommeiß - Страница 6

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Der nächste Morgen war kalt, aber klar.

Susanna hatte die Nacht mehr schlecht als recht auf dem hinteren Sitzpolster des kaputten Wagens verbracht und sich mit einer der Fußmatten notdürftig zugedeckt. Die Verletzungen, die sie bei dem Unfall davongetragen hatte, schmerzten, und sie fror jämmerlich. Jetzt, im allerersten Tageslicht, erwachte sie aus einem unruhigen Schlaf und kroch auf allen vieren aus dem Wrack. Zuerst hockte sie sich hinter einen Stein und verrichtete ein kleines Geschäft.

‚Warum setze ich mich hinter einen Stein?‘, dachte sie bei sich. ‚Niemand ist hier, ich hätte direkt neben das Auto pinkeln können. Aber nein, ich gehe ein Stück weg und setze mich hinter einen Stein.‘

Das Hocken fiel schwer, denn das Knie war angeschwollen und steif. Dafür tat die Schulter nicht mehr so schlimm weh wie gestern. Susanna zog die Hose herunter und untersuchte das Knie. Gebrochen schien nichts zu sein, aber es war dick und blau. Sie zog sich wieder an und befühlte danach ihren Kopf. Hinten waren die Haare hart von geronnenem Blut. Sie fühlte eine Platzwunde, in der Haare festklebten und ließ lieber die Finger davon.

Sie sah sich um. Die steile Schlucht gab nicht viel von sich preis, allenthalben versperrten Bäume oder Felsen die Sicht. Nach oben hin verloren sich die Hänge in den tief hängenden Wolken.

Susanna schauderte, als sie an ihre gestrige Kletterpartie dachte, denn die Steinwände sahen von hier fast senkrecht aus. Gestern Abend hatte sie, bevor es vollends dunkel wurde, nach Rolf gerufen und ein Stück weit in die andere Richtung gesucht, aber er blieb spurlos verschwunden. Vielleicht lag er weiter oben.

Das lähmende Entsetzen des gestrigen Tages war gewichen, die junge Frau konnte wieder klar denken. Die Tatsache, einen so schlimmen Unfall überlebt zu haben, machte sie seltsam stolz, obwohl sie gar keinen Einfluss darauf gehabt hatte. Ob sie hoffen durfte, ihren Mann lebend zu finden? Bisher war immer er der Glückspilz von ihnen beiden gewesen. Aus irgendeinem Grund war sie sehr zuversichtlich, dass er noch lebte. Sie spürte es geradezu.

Susanna hatte Durst. Ob sie etwas aus dem Bach trinken könnte? Eigentlich war es ja kein richtiger Bach, denn man hörte es zwar allenthalben plätschern und rieseln, aber ein offenes Rinnsal war nicht zu sehen.

Da fiel ihr der Picknickkorb im Kofferraum ein. Natürlich, der Picknickkorb! Dass sie an den nicht schon viel eher gedacht hatte!

Der Audi war eine Limousine und der Kofferraum nur von hinten zu erreichen. Nun gut, dann musste sie es eben von der anderen Seite versuchen. Das bedeutete erneute Kletterei, denn der große Stein, hinter dem das Auto eingeklemmt war, versperrte den Weg. Endlich stand Susanna auf der Rückseite. Das Glas der Heckklappe war nicht mehr klar, sondern weiß, aber bis auf ein paar Löcher noch an ihrem Platz. Die Scheibe war in tausend kleine Mosaike zerbrochen, an einigen Stellen war sie gewölbt oder eingesunken, ließ sich aber nicht so ohne Weiteres eindrücken, als Susanna es vorsichtig mit der flachen Hand probierte. Dann versuchte sie den Kofferraum zu öffnen, aber der war verschlossen und hatte nicht mal einen Hebel. Nur ein Schlüsselloch.

Susanna kraxelte wieder zurück, um den Zündschlüssel zu holen. Der Airbag hing als schlaffer Sack aus dem Lenkrad heraus und verdeckte das Zündschloss. Als Susanna ihn beiseiteschob, musste sie verwundert feststellen, dass kein Schlüssel im Schloss steckte. Was nun? Da fiel ihr Blick auf einen Hebel neben dem Fahrersitz, auf dem eine Hecktür abgebildet war. Auf dem daneben eine Zapfsäule. Sie zog an dem ersten Hebel, spürte einen Ruck und richtig - der Kofferraum war auf!

Das erste, was Susanna erblickte, als sie in den Kofferraum sah, war eine dicke, wollene Picknickdecke! Sie verfluchte ihre Dummheit. Die Nacht hätte um einiges angenehmer sein können, wenn sie sich in diese schöne Decke hätte einwickeln können. Wenn sie nur nicht immer so dumm und einfallslos wäre!

Der Inhalt des Picknickkorbes lag verstreut im ganzen Innenraum. Sie klaubte alles zusammen und tat es wieder in den Korb hinein. Es gab sechs belegte Brötchen, vier hartgekochte Eier, zwei Apfeltaschen und eine Obstschale aus durchsichtigem Plastik, mit Äpfeln und Bananen gefüllt. Alles war ordentlich in Alufolie eingewickelt. Zwei kleine Flaschen enthielten Orangensaft. Zumindest eine, die andere war geplatzt und hatte den größten Teil ihres klebrigen Inhalts im Auto verteilt. In einer Thermoskanne, welche zum Glück noch heil war, befand sich lauwarmer Kaffee. Mit zitternden Händen goss sich Susanna Kaffee in einen der Plastebecher und trank gierig. Dann aß sie ein Brötchen. Dabei ließ sie ihre Gedanken schweifen.

Es war doch merkwürdig, dass der Zündschlüssel nicht im Schloss steckte. War er durch die Wucht des Aufpralls herausgeschleudert worden oder hatte Rolf ihn abgezogen? Er hatte doch neben ihr im Auto gesessen, als sie parkten, um sich die Aussicht anzusehen, warum sollte er also den Schlüssel abgezogen haben? Wie sie so nachdachte, fiel ihr Blick in den Kofferraum, wo der jetzt aufgeräumte Picknickkorb neben ihrem Rucksack stand.

Neben ihrem. Wo war Rolfs Rucksack?

Das wunderte sie aber jetzt doch. Sie hatte selbst gesehen, wie Rolf beide Rucksäcke in den Kofferraum gestellt hatte. Sollte sie sich getäuscht haben?

Susanna aß noch einen Kuchen und trank den Rest aus der kaputten Plastikflasche aus. Dann packte sie die Vorräte in ihren Rucksack um, in dem lediglich ein Regencape und ein paar Wechselsocken lagen. Die Kaffeekanne passte nicht mit hinein, aber die konnte sie ja in Rolfs Rucksack tun, der sicherlich vorne lag.

Sie nahm die Decke mit und den Rucksack, schloss ordentlich den Kofferraum und kletterte wieder nach vorn. Dort zwängte sie sich erneut ins Wageninnere, um nach Rolfs Rucksack zu suchen. Sie schaute vorn und hinten nach, kroch sogar in den Fußraum, aber außer Rolfs Jacke fand sie nichts. Nur einen Schraubenschlüssel.

Einen Schraubenschlüssel? Was machte der denn hier? Das war doch ein Mietwagen.

Susanna nahm den großen, schweren Schraubenschlüssel und wog ihn in der Hand. Der hatte ja ein ganz schönes Gewicht. Da sah sie auf einmal am Kopf des Schraubenschlüssels etwas Dunkles. Sie hielt ihn ins Licht und betrachtete ihn genauer. Und mit wachsendem Unbehagen, das sich langsam zu einem unklaren Entsetzen verdichtete, erkannte sie zwei Dinge: Das Dunkle war Blut, und in dem Blut klebte ein blond gefärbtes Haar.

Susanna wusste nicht, wie lange sie da gesessen hatte, den Schraubenschlüssel auf dem Schoß.

Wie passte das zusammen? Wie konnte das wahr sein? Immer wieder schüttelte sie den Kopf im Versuch, ihre Gedanken zu ordnen.

Sie waren im Nebel gefahren. Sie hatten einen Unfall gehabt. Sie selbst hatte durch einen glücklichen Zufall überlebt, hatte sogar den Wagen gefunden. Aber Rolf war nicht da. Auch sein Rucksack fehlte, ebenso wie der Zündschlüssel. Aber seine Jacke war da. Dieselbe Jacke, die er anhatte während der Fahrt, das wusste sie genau. Wie konnte sie dann hier liegen?

Warum hatte sie eine Wunde am Hinterkopf? Aus irgendeinem Grund war sie jetzt sicher, sich diese Wunde nicht bei dem Unfall zugezogen zu haben. Sie hatte ja auch sonst keine Blessuren im Gesicht. Und dann dieser verdammte Schraubenschlüssel - mit Blut und ihrem Haar an dem einen Ende.

Trug er Rolfs Fingerabdrücke?

Susanna schaute auf das Werkzeug hinab, dann legte sie es beinahe vorsichtig ins Gras.

Nein, nein, nein, das konnte nicht sein. Sicherlich waren sie von Räubern überfallen worden. Es war schließlich eine einsame, abgelegene Gegend hier. Nicht besonders schön, nur wild und zerklüftet. Deshalb kam auch kein Mensch hierher. Sonst gab es doch überall Wanderer, Berghütten, Gasthäuser, Seilbahnen - nur in dieser elenden, unansehnlichen Ecke der Alpen nicht.... Aber Moment Mal - hier hätte es eigentlich ganz anders aussehen müssen.

Mit neuem Schrecken erkannte Susanna eine weitere Ungereimtheit. Wo waren die wundervolle Landschaft, das Panorama und die Gaststätte, wo es angeblich die besten Strudel der Welt gab?

Rolfs Stimme erklang in ihrem Kopf: „Ich zeige dir einen tollen Platz, das wird dich umhauen! Die mit Abstand malerischste Ecke des Ötztals. Dort ist es so schön, dass du gar nicht wieder weg willst!“

Susanna sah sich um und verglich die modrige Dunkelheit und die schroffen, scharfen Felsen mit dem, was sie sonst unter malerisch verstand. Er konnte doch damit unmöglich diesen Platz gemeint haben?

‚Dass du gar nicht wieder weg willst...‘

Meinte er vielleicht: ‚...dass du gar nicht wieder weg kommst‘? Und hatte er das mit dem Umhauen vielleicht wörtlich gemeint?

Nein! Sie stand entschlossen auf. So ein Unsinn! Sie hatte den Schraubenschlüssel sicherlich an den Kopf bekommen, als sie zusammen mit ihm durch den Wagen geschleudert worden war. Rolf würde ihr niemals etwas antun, niemals - warum auch?

Der Lottogewinn schob sich in ihre Gedanken, aber sie schob ihn schnell von sich. Es war ja auch sein Geld. Er hätte es nicht nötig, sie aus dem Wege zu räumen, um an das Geld zu kommen. Es gehörte ihnen beiden.

Susanna beschloss, sich auf den Weg zu machen, um aus diesem unwirtlichen Tal herauszukommen. Rolfs Rucksack war nicht da - herausgeschleudert aus dem abstürzenden Auto wie Rolf selbst - deshalb wollte sie wenigstens seine Jacke mitnehmen. Wenn sie den Weg nicht fand und noch eine Nacht in der Wildnis zubringen musste, würde sie ihr nützlich sein.

Sie kroch noch einmal in den zerbeulten Wagen und zerrte die Jacke heraus. Es war eine gute, stabile Wanderjacke, beigefarben und mit vielen Taschen. Sicherlich war in einer der Taschen auch ein Stofftaschentuch. Rolf mochte auch in Zeiten von Papiertaschentüchern von seinen Stoffschnäuzern nicht lassen, hatte sie am liebsten frisch gebügelt und gefaltet. Jetzt konnte sie eines davon gut gebrauchen, denn ihre Hand, die sie sich gestern beim Aufbiegen des Bleches aufgeschnitten hatte, fing wieder an zu bluten. Das Taschentuch war in der linken Seitentasche. Aus reiner Neugier untersuchte Susanna auch die anderen Taschen. Zu Hause würde ihr so etwas nie einfallen, es sei denn, sie wollte die Jacke waschen.

In der rechten Seitentasche fand sich - oh Wunder - der Zündschlüssel! Hatte er ihn abgezogen, eingesteckt und dann die Jacke ausgezogen in der kurzen Zeit, die zwischen dem Parken und dem Absturz vergangen war? Darüber musste sie später nachdenken, das ging ihr jetzt so schnell nicht in den Kopf. Zunächst schaute sie auch in die Innentaschen. Dort fand sich die Brieftasche mit sämtlichen Papieren, der Schein von der Autovermietung und einige Kassenzettel.

Susanna lachte auf, die Erleichterung überschwemmte sie wie eine warme Welle und die eiserne Faust, die sich um ihr Herz geschlossen hatte, war wie weggeblasen.

Lächelnd steckte Susanna die Geldbörse wieder in die Jacke zurück. Das entlastete ihren Mann von jeglichem Verdacht, den sie gegen ihn gehegt hatte! Wenn er ihr etwas angetan hätte, würde er doch nicht sein Geld, seine Ausweise und alles zurücklassen! Wie konnte sie nur so etwas Dummes annehmen? Schämen sollte sie sich, wirklich!

Mechanisch fuhren ihre Finger auch in die andere Innentasche, die zusätzlich noch eine kleine Reißverschlusstasche hatte. Darin steckte etwas Hartes. Es war ein kleines Pillenfläschchen, das mit runden, gelben Tabletten halb gefüllt war. Als sie es drehte, kam das Etikett zum Vorschein: ‚Mephapro‘.

Susannas Erleichterung verpuffte augenblicklich und wandelte sich in sprachlosen Schrecken. Die Wahrheit sickerte nur langsam in ihr Verständnis, aber irgendwann war sie darin angekommen.

Diese Tabletten... das bedeutete doch... konnte das denn wirklich wahr sein? Susanna hatte plötzlich gar keine Kraft mehr in Armen und Beinen und sank in sich zusammen.

Sie kannte dieses Fläschchen. Mephapro, verschrieben von einem gewissen Doktor Ackermann für eine gewisse Susanna Berger gegen depressive Verstimmungen – vor sechs Jahren. Depressive Verstimmungen, in die sie gefallen war, nachdem sie ihren Kinderwunsch begraben musste. Sie hatte damals nächtelang geweint und war am Tage zu nichts fähig, hing nur lustlos herum, so dass sie Rolf schließlich zum Arzt geschickt hatte. Der redete lange mit ihr und verschrieb ihr schließlich ein Medikament. Die Tabletten hatten aber bei ihr starke Nebenwirkungen hervorgerufen, so dass sie sie nicht mehr nehmen konnte. Nebenwirkungen, die sich in heftigen, migräneartigen Kopfschmerzen äußerten, die einen halben Tag lang anhielten und sie völlig handlungsunfähig machten.

Susanna saß da und starrte die Pillen ungläubig an. Sie war ganz und gar fassungslos.

Sie erinnerte sich daran, wie der Arzt ihr noch gesagt hatte, die Wirkung der Tabletten erhöhe sich nach dem Geschlechtsverkehr, wegen der stärkeren Durchblutung. Rolf und sie hatten sich darüber lustig gemacht.

Mit einem bleischweren Gefühl im Herzen dachte Susanna an die ersten drei Tage ihres Urlaubes. Jedes Mal war Rolf vor ihr aufgestanden, obwohl er doch sonst immer so gerne ausschlief. Jedes Mal hatte er das Frühstück hereingebracht, hatte Kaffee eingeschenkt und sogar umgerührt, obwohl er sich zu Hause eher bedienen ließ. Und jedes Mal... Susanna schluchzte... jedes Mal hatte er anschließend mit ihr geschlafen. Danach hatte es dann keine Viertelstunde mehr gedauert, bis die höllischen Kopfschmerzen eingesetzt hatten.

Er musste die Tabletten mit dem Zucker in den Kaffee gerührt haben.

Warum? Wie konnte er ihr so etwas Hundsgemeines antun – und dabei so freundlich zu ihr sein, sogar mit ihr schlafen? Warum wollte er sie ausschalten? Hatte er vielleicht diese drei Tage gebraucht, um die Gegend zu erkunden und diese einsame Schlucht zu finden, wo er seinen Plan, sie umzubringen, in die Tat umsetzen konnte?

In Susanna wuchs ein Zorn, der ihr durch alle Gliedmaßen kroch. Dieser Schuft, dieser gottverdammte, hinterhältige Schweinehund! Wie konnte er ihr das nur antun? Sie liebten sich doch, führten eine gute Ehe ohne Streit oder gar Gewalt. Sie tat doch alles für ihn, lebte praktisch für ihn. Und jetzt das. Warum? Hatte er eine andere? Oder war es etwa wegen dem Geld? Warum wollte er sie loswerden, warum?

Mit den Fäusten schlug sie auf seine Jacke ein, dann sackte sie weinend zusammen, lag schluchzend am Boden.

Als sie sich etwas beruhigt hatte, versuchte sie ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Vielleicht irrte sie sich. Es blieb immer noch die Tatsache, dass seine Jacke da war. Und dass sie ihm überhaupt nichts angemerkt hatte: Keine Gefühlskälte, keine Ablehnung, nichts. Im Gegenteil, netter und freundlicher als je zuvor war er in letzter Zeit gewesen.

Um sie in Sicherheit zu wiegen? Oder hatte sie nur Hirngespinste, war durch den Unfall traumatisiert und spann sich deshalb solche Verschwörungstheorien zusammen?

Aber die Tabletten, der Schraubenschlüssel mit dem Blut, der fehlende Rucksack – und der fehlende Rolf? Das alles sprach doch eindeutig gegen ihn!

Susanna erhob sich mit zitternden Knien und lehnte sich schwer atmend an das Autowrack.

Es gab drei Möglichkeiten. Die erste war: Es hatte einen Unfall gegeben, den sie überlebt hatte und Rolf nicht. Dann musste sie sich auf eigene Faust in die Zivilisation durchschlagen.

Die zweite Möglichkeit war, dass Rolf den Unfall überlebt hatte und oben am Hang herausgeklettert war. In diesem Falle würde er Hilfe holen und versuchen, sie zu finden.

Die dritte Möglichkeit war absurd, aber nicht ausgeschlossen. Was, wenn ihr Mann tatsächlich beschlossen hatte, sie umzubringen? Es war ihm misslungen. Das wusste er aber nicht. Würde er kommen, um sich zu vergewissern? Er würde allein kommen. Wenn er sie lebend fand, würde er dann sein Werk vollenden, sie mit einem Stein erschlagen oder erwürgen?

Susanna fasste sich an den Hals und schluckte schwer.

Da fiel ihr Blick auf die Jacke mit der Brieftasche. Angenommen, die letzte Möglichkeit war die zutreffende, dann würde er auf jeden Fall kommen, um seine vergessene Jacke zu holen. Für einen geübten Kletterer wie Rolf war diese Schlucht kein Problem. Er würde kommen, seine Tat vollenden und die Jacke an sich nehmen. Im Frühjahr des kommenden Jahres, wenn man ihre Leiche neben dem Autowrack fand, würde jeder an einen Unfall glauben.

Es bestanden also drei Optionen: Dass niemand kam, dass eine Rettungsmannschaft kam oder dass Rolf allein kam.

Es war in jedem Fall besser, nicht hier zu sein, falls Rolf allein kam. Und es wäre auch besser, wenn er nicht merkte, dass sie hier gewesen war - lebendig. Das bedeutete, dass sie verschwinden musste, so bald wie nur möglich, und dass sie nichts mitnehmen durfte. Jedenfalls nicht zu viel.

Auf einmal hatte es Susanna sehr eilig. Er konnte jeden Moment hier sein! Hastig verstaute sie das Pillenfläschchen wieder in der Reißverschlusstasche. Die Jacke warf sie auf den Beifahrersitz. Dann öffnete sie erneut den Kofferraum mit Hilfe des Hebels, kletterte nach hinten und packte das Essen wieder aus dem Rucksack aus.

Moment: Sie brauchte aber Vorräte! Susanna überlegte, ob sie Rolf den Korb hatte öffnen sehen. Nein, die Küchenfrau hatte ihnen den Korb lächelnd an der Restauranttür übergeben, sie hatten sich überschwänglich bedankt und waren dann gemeinsam auf den Parkplatz hinausgegangen. Dort hatte Rolf den Korb und die Rucksäcke in den Kofferraum gestellt. Dabei hatte er gelächelt und sie angesehen.

„Mach‘ dir nichts draus...“, sagte er und meinte damit den Nebel, „deine Überraschung kriegst du heute auf jeden Fall!“

Susanna erschauerte, als ihr die Doppeldeutigkeit dieser Worte klar wurde. So ein Schweinehund!

Aber von dem Essen konnte sie etwas mitnehmen, er würde es nicht bemerken. Sie nahm die heile Orangensaftflasche, einen Apfel, eine Banane und drei Brötchen heraus, den Rest der Sachen schüttete sie in den Kofferraum zurück. Ihren Rucksack konnte sie auch nicht mitnehmen, das würde ihn misstrauisch machen. Schade. Aber das Regencape und die Wechselsocken nahm sie an sich, denn er hatte nicht gesehen, ob sie etwas eingepackt hatte. Ihren Ausweis, das Portemonnaie und Taschentücher hatte sie in den Jackentaschen. Die Decke hätte sie gern dabei, wenn sie die nächste Nacht draußen verbringen müsste! Nach kurzem Zögern wickelte sie die Vorräte in die Decke ein. Sie würde einfach den Kofferraum offen lassen, dann sähe es so aus, als wäre die Decke herausgefallen. Zur Verstärkung dieses Eindruckes verstreute sie einiges von dem Essen hinter dem Auto. Die Kaffeekanne trank sie leer, bevor sie den Deckel und die Kanne ins Gebüsch warf.

Susanna zuckte zusammen: Hatte sie da nicht Steine poltern hören? Panisch sah sie sich um, ob sie noch irgendetwas verraten könnte. Dann kletterte sie nach vorn, um auf demselben Wege zu verschwinden, den sie gekommen war. Doch dann zögerte sie. Vielleicht liefe sie ihm direkt in die Arme? Susanna horchte. Nein, da war nichts. Das Poltern musste ja nicht von ihm ausgelöst worden sein. Erneut schaute sie sich um. Seine Jacke hing halb aus der Tür. Sie wollte sie gerade weiter hineinwerfen, als ihr etwas einfiel. Sie hatte nicht viel Geld bei sich, aber in Rolfs Portemonnaie steckten mehrere hundert Euro.

Ja, er liebte Geld! Susanna lachte bitter. Er war ein Geizkragen, immer rechnete er ihr alles vor. Bis auf den Cent genau musste sie ihre Einkäufe am Wochenende abrechnen. Hatte sie sich mal etwas gegönnt, ein neues Oberteil oder einen Besuch im Eiscafé mit ihrer Freundin, hielt er ellenlange Vorträge über Sparsamkeit. Selber ging er aber ständig ins Fitnessstudio oder mit seinen Kumpeln Skat spielen. Dazu musste er immer die tollsten Autos fahren, alle drei Jahre war ein neues fällig. Darüber verlor er bei seinen Vorträgen kein Wort.

Wie viel er genau verdiente und wie viel er für sich selbst ausgab, darüber hatte sie keine Übersicht. Die Kontoauszüge des gemeinsamen Kontos gingen sie nichts an. Selbst die Geldkarte für das bargeldlose Bezahlen wollte er ihr lange nicht zugestehen. Erst, als er von einem Kollegen, dessen Frau im Supermarkt an der Kasse arbeitete, darauf angesprochen wurde, dass Susanna offensichtlich nicht mal eine Geldkarte besaß, bekam sie eine. Zusammen mit einem Vortrag, dass sie eine Klatschbase sei und ihre Verhältnisse niemanden etwas angingen. Dabei hatte die Frau Susanna direkt gefragt, warum sie selbst größere Beträge immer bar bezahlte. Ganz arglos erzählte sie ihr daraufhin, die Geldkarte für das gemeinsame Konto hätte ihr Mann, und es gäbe doch nur eine pro Konto. Geschämt hatte sie sich, denn die allgemeine Heiterkeit bei der Verkäuferin und den anderen Kunden hatten ihr wieder einmal klargemacht, dass Rolf sie beschwindelt hatte.

Susanna nahm dreihundert Euro aus Rolfs Brieftasche und ordnete alle Papiere wieder ordentlich ein. Dabei fiel ihr Blick auf den Schein von der Autovermietung. Sie stutzte. Was war das? Unter dem ersten steckte noch ein zweiter Schein, auch von einem Mietwagenservice, aber aus einem anderen Ort. Zwei Mietwagen hatte Rolf bestellt? Einen Subaru für die ganze Woche, beginnend an ihrem Urlaubsanfang letzten Donnerstag, und einen Audi für den heutigen Tag. Wo war der andere Wagen? Hatte er diesen hier nur für den Absturz gebraucht und den anderen zum heimfahren? Er hatte kein Wort darüber verloren, dass er ein Auto gemietet hatte, in den Tagen, als er allein unterwegs gewesen war. Aber natürlich hatte er ein Auto gebraucht, schließlich musste er ja eine passende Schlucht ausfindig machen.

Langsam schoben sich alle Puzzleteile an die richtige Stelle.

Susanna packte die Papiere zurück und zwinkerte die Tränen weg, die ihr schon wieder in die Augen traten. Sie musste jetzt einen klaren Kopf bewahren, wenn sie am Leben bleiben wollte.

Als sie erneut ein Poltern hörte, erschrak sie heftig. Als dem Poltern ein halblauter Fluch folgte, schoss Adrenalin durch ihren Körper.

Er war da!!!

Die Geräusche waren von oben gekommen. Natürlich, er folgte einfach der Absturzspur, wo er den Wagen sicher finden musste. Mit einem Seil war das kein Problem. Wie konnte sie nur annehmen, er würde durch die Schlucht kommen? Gott sei Dank, hier standen die Bäume dicht und bildeten mit ihren Wipfeln ein sicheres Dach, sonst hätte er sie längst entdeckt. Mit hastig klopfendem Herzen sah sich Susanna nach einem Versteck um. Vorn, wo sich die Schlucht krümmte, lag ein Baum schräg über einem anderen. Die Enge des Tales hatte verhindert, dass er zu Boden fiel, nun verfaulte er eben in der Luft. Efeu und andere Rankenpflanzen hatten sich schon seiner bemächtigt und bildeten einen dichten Vorhang, der bis zum Boden reichte. Susanna kroch mehr, als sie lief, zwängte sich an Felsbrocken vorbei, schlängelte sich um Bäume und duckte sich hinter Büsche. Die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Zum Glück hatte ihre eigene Jacke eine dunkelgrüne Farbe, das tarnte gut. Was sie verraten könnte, war ihr hellblondes Haar, doch zum Schutz der Platzwunde an ihrem Hinterkopf hatte sie schon die ganze Zeit die Kapuze getragen.

Ohne ein überflüssiges Geräusch zu machen, versteckte sich Susanna hinter dem Baum. Hier war der Untergrund weich und instabil. Als Susanna auf das dichte Gras trat, gab unter ihren Füßen der Boden nach und ließ sie tief in vermoderndes Holz einsinken. Aus einem Impuls heraus nahm sie das Moos wie einen Teppich hoch und ließ sich rücklings auf die Erde sinken. Die gelb gestreifte, zusammengerollte Decke stopfte sie neben sich, dann zog sie das Moos über ihren Körper wie eine Bettdecke. Bei den Füßen fing sie an und bedeckte sich vollständig damit. Zum Schluss legte sie auch eine dünne Schicht übers Gesicht, sodass sie gerade noch etwas sehen konnte, drückte den Arm in den Boden und hielt still. Selbst wenn jetzt jemand hinter den Baum schauen würde, wäre sie auf den ersten Blick nicht zu sehen. Auch auf den zweiten nicht, denn es war hier dämmrig.

Susanna lauschte.

Eine ganze Weile hörte sie gar nichts und dachte schon, sie hätte sich das alles nur eingebildet. Von ganzem Herzen hoffte sie, Stimmen zu hören: Fremde Stimmen, viele Stimmen – einen Rettungstrupp, von Rolf geschickt. Von einem Rolf, der unschuldig war und ihr niemals etwas angetan hatte. Von ihrem Rolf, der ihr lächelnd all die Ungereimtheiten mit ein paar einfachen Worten erklärte, so wie er es immer tat, wenn sie wieder einmal etwas nicht verstanden hatte. Sie würde ihn anlächeln, ihn lieben und ihm niemals etwas von ihrem unerhörten, dummen Verdacht erzählen.

Doch dann ertönte ein vertrautes Husten - ganz nah! Susannas Träume verpufften. Es war Rolf, und er war allein! Schlagartig war die Angst wieder da und Susanna erstarrte förmlich in ihrem feuchten Versteck, das wie ein Grab war. Die Nässe kroch allmählich durch ihre Kleidung, am Po war schon ein nasser Fleck.

Jetzt klapperte es blechern, er musste beim Wagen angelangt sein. Gleich würde er bemerken, dass sie nicht darin war. Ein Fluchen bestätigte Susannas Vermutung. Ja, es war Rolfs Stimme. Gleich würde er beginnen, sie zu suchen. Da er über die Felswand abgestiegen war, wusste er natürlich, dass sie irgendwo hier unten sein musste, denn auf ihrem Felsvorsprung hätte er sie schon gefunden.

Es knackte weiter hinten. Er suchte. Susanna wollte die Augen schließen, damit er sie nicht sähe, aber sie konnte nicht. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Stelle, an der er auftauchen musste.

„Du blöde Kuh!“, brüllte Rolf laut, und Susanna begann zu zittern. „Wo bist du, blöde Kuh? Scheiße, scheiße, scheiße, verdammt!“

Wenn sie bis dahin noch gehofft hatte, sie würde sich mit ihrem furchtbaren Verdacht irren, so war nun alle Hoffnung dahin. Mit plötzlicher Überraschung erkannte sie, dass er in Panik war. Natürlich, er hatte schließlich einen Mord begangen - dachte er - und musste auf Nummer Sicher gehen, konnte sich keine Fehler erlauben. Schadenfreude wallte in ihr auf. Er sollte leiden, er sollte büßen!

Doch vorerst litt sie. Eine Tannennadel war in ihr Auge gefallen und es kostete sie alle Willensanstrengung, die sie aufbringen konnte, die Hand nicht zum Gesicht zu heben. Im Rücken, da wo das Unterhemd im Hosenbund steckte, begann etwas herumzukrabbeln. Hoffentlich verschwand Rolf bald wieder! Da knackte es über ihr und sein Gesicht erschien zwischen dem Efeu. Er war an einer anderen Stelle durchgekommen, als sie dachte. Susanna lag wie gelähmt und starrte zu dem verzerrten Gesicht ihres Ehemannes hinauf, dass ihr plötzlich fremd war. Rolf spähte herum. Er suchte ihre Leiche. Wenn er jetzt nach unten sähe, würde er ihr direkt in die aufgerissenen Augen blicken. Er musste doch ihre Anwesenheit spüren, ihr angstvolles Herzklopfen hören! Nach ein paar endlosen Augenblicken zog sich Rolfs Kopf zurück. Geschafft! Beinahe hätte Susanna laut geseufzt. Aber noch war die Gefahr nicht vorüber, denn er suchte überall. Vielleicht kam er noch einmal hierher und trat auf sie? Er könnte sich zu Tode erschrecken, das wäre gut!

Susanna lag und lauschte. Ignorierte die Nässe und das Krabbeln. Und endlich, endlich hörte sie das Poltern von kleinen Steinchen, welches ihr verriet, dass er wieder auf dem Weg nach oben war. Das Herz wurde ihr ein wenig leichter und sie entspannte sich etwas. Richtig sicher war sie aber erst, als sie ein erneutes Fluchen hörte, das aus der Höhe kam. Er kletterte nach oben! Aber vielleicht hatte er etwas vergessen und kehrte noch einmal um?

Die Angst hielt die junge Frau fest umklammert und es verging noch eine Viertelstunde, ehe sie wagte, sich zu erheben.

Steifbeinig und mit feuchten Hosen kroch Susanna aus der mulmigen Grube. Ihr Rücken und die Schultern waren steif und schmerzten. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sehr sie sich verkrampft hatte. Gottlob war er verschwunden, sodass sie sich bewegen und Arme und Beine strecken konnte. Vorerst hielt sie sich lieber noch hinter dem Baum versteckt, während sie sich das Ungeziefer und den Schmutz von der Kleidung sammelte. Die Hose war nass und dreckig. Sie hätte ihr Regencape oder wenigstens die Decke unter sich legen können. Aber dafür war ja gar keine Zeit gewesen. Wenn sie daran dachte, dass sie seelenruhig seine Brieftasche durchsucht hatte, während er schon beim Abstieg war, standen ihr jetzt noch die Nackenhaare zu Berge.

Da fiel ihr ein, dass sie jetzt ihren Rucksack und die restlichen Vorräte holen könnte. Oder würde er noch einmal wiederkommen? Was wäre, wenn er herausfände, dass sie noch lebte, was täte er dann? Er hätte sicherlich Angst, dass sie ihn anzeigte. Aber würde man ihr glauben? Ihr - die schon wegen Depressionen beim Nervenarzt gewesen war? Wohl kaum.

Rolf dagegen konnte sehr überzeugend auftreten, dem glaubte man alles. Er würde einfach alles abstreiten und behaupten, sie würde spinnen. Alle würden ihm glauben, sogar ihre Eltern.

Sie könnte auch so tun, als ahnte sie nichts von seinen Mordabsichten und einfach in ihr altes Leben zurückkehren. Würde er einen weiteren Mordanschlag aushecken?

Würde, würde, würde. Es war doch alles Quatsch, was sie sich hier ausdachte, denn nie und nimmer, niemals könnte sie ihm jemals wieder unbefangen und ohne Angst und Wut gegenübertreten - niemals!

„Es wird Zeit, dass du dich auf dich selbst besinnst, du blöde Kuh!“, dachte sie laut, Rolfs Beschimpfung noch im Ohr. „Ich bin wirklich eine blöde Kuh, schlafe noch mit ihm, während er schon meinen Tod plant. Ich heule rum wegen so einem Schwein! Soll er doch merken, dass ich noch lebe, soll er doch was unternehmen, wenn er mich nicht findet!“

Das musste sie in Ruhe überdenken. Er würde sie sicherlich irgendwann als vermisst melden. Man würde sie suchen, aber nicht finden. Ob er dann unter Mordverdacht käme?

Susanna kramte in ihrem Gedächtnis, ob in einem ihrer unzähligen Krimis, die sie so liebte und stapelweise aus der Bibliothek heimschleppte, so ein Fall schon vorgekommen war. Sie konnte sich nicht erinnern. Aber nun war ihr Geist hellwach, denn sie hatte einen Plan. Er sollte unter Verdacht geraten und verurteilt werden für einen Mord, den er geplant, aber nicht vollendet hatte. Wegen dem er nicht in Verdacht geraten würde, wenn er gelungen wäre und ihre Leiche gefunden würde, denn dann könnte es ja Selbstmord gewesen sein. Doch eine Leiche verschwindet nicht von alleine. Es sollte so aussehen, als habe er sie getötet und verscharrt.

In grimmiger Entschlossenheit kehrte Susanna zum Auto zurück. Sie hatte erwartet, dass sowohl die Jacke als auch der Schraubenschlüssel verschwunden waren, doch zu ihrer Verwunderung lag der Schraubenschlüssel noch da. Rolf hatte sich damit begnügt, ihn am feuchten Gras abzuwischen. Es waren nun weder Blut noch blondes Haar daran zu sehen.

Aber das - Susanna lächelte - konnte sie leicht ändern!

Susanna

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