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Blick über die Ötztaler Alpen

EINE ARCHÄOLOGISCHE SENSATION BESCHÄFTIGT DIE WELT

BEAT GUGGER

Wie viel Schatzgräber oder Indiana Jones steckt in jedem Archäologen? Für Konrad Spindler, dem verantwortlichen Archäologen, der Ötzi in den ersten Jahren wissenschaftlich betreute und erforschte, war die Mumie vom Tisenjoch eine große Erfüllung in seinem Beruf: «Jeder, der sich in jungen Jahren entschließt, das brotlose Archäologiegewerbe als Beruf zu ergreifen, träumt davon, so wie weiland Heinrich Schliemann in Troja und Mykene, einmal einen Goldschatz zu entdecken. Auch ich habe meinen „Schatz“ gefunden». Ötzi war – und ist bis heute – für viele Menschen eine Sensation! Er wurde zu einem Thema der Medien, und gleichzeitig begannen sich wilde Spekulationen um sein Leben und seine Herkunft zu ranken.

Ötzi Medienstar. Seit den ersten Tagen war der Fund hoch in den Ötztaler Alpen in den Schlagzeilen: zuerst lokal, bald schon regional, und als sich die ersten Vermutungen um das hohe Alter bestätigen, wird die wissenschaftliche Sensation – verbunden mit einem eingängigen vertraulich wirkenden Namen – auch zu einem Thema in den internationalen Medien. Mit der Bekanntgabe der unvorstellbar frühen Datierung an der Pressekonferenz vom 25. Januar 1992 schafft es Ötzi sogar auf die Titelseite renommierter Presseorgane wie des Time Magazins.

Alte, durch unglückliche Umstände mumifizierte Körper wurden in den letzten 200 Jahren in Europa hin und wieder entdeckt etwa in Mooren oder im Salz. Die Menschen waren von diesen „Besuchern“ aus der Vergangenheit fasziniert: Im 18. und 19. Jahrhundert stellte man sie als Kuriosa auf Jahrmärkten zur Schau, später erkannte man den historisch-wissenschaftlichen Wert der konservierten Toten, und das Museum wurde Ort der Aufbewahrung und Präsentation.


Time – The weekly Newsmagazine 26.10.1992

Das Besondere bei Ötzi ist neben seines hohen Alters vor allem die Tatsache, dass er nicht – wie zum Beispiel die ägyptischen Mumien – aus einer Bestattung stammt, sondern mit Kleidern und Ausrüstungsgegenständen ohne Beerdigungszeremonie mitten aus dem Alltag herausgerissen worden ist.

Die ganze Welt war fasziniert. Ötzi ist wie ein Zeitreisender – Träger von vielen Informationen aus einem ganz alltäglichen Leben am Ende der Steinzeit. Für die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen war es ein Glücksfund. Mit den richtigen Methoden aus Naturwissenschaft und Medizin gelingt es den Forschern seit 20 Jahren, dem Toten neue Geheimnisse zu entlocken – viele Ansätze gleichen den Untersuchungsmethoden der Gerichtsmedizin. Trotz intensiver Arbeit sind noch viele Fragen offen: Die Forschung an Ötzi geht weiter. Und immer, wenn neue Resultate zu verkünden sind, ist eine große mediale Aufmerksamkeit gewiss. Laut „Time Magazine“ gehörte Ötzi 1991 zu den 25 berühmtesten Persönlichkeiten des Jahres – bis heute ist er prominent und mit Berichten in seriösen Zeitungen ebenso vertreten wie mit Sensationsnachrichten in der Boulevardpresse.


Orion Press, Tokyo (Stern 12.10.1992)


Stern [Juli 1992/August 1993]

Ötzi als Projektionsfläche. Das Magazin „Stern“ veröffentlicht im Juli 1992 den Beitrag „Was uns der Gletschermann erzählt“ als Titelgeschichte. Unterstützt von einem eindrücklichen Titelblatt wird der Fund vom Tisenjoch im deutschsprachigen Raum einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. In der Redaktion in Hamburg gehen in den darauffolgenden Wochen eine große Zahl von unterschiedlichsten Leserreaktionen ein.

Auch das „Forschungsinstitut für Alpine Vorzeit“ an der Universität Innsbruck wird zur Anlaufstelle für interessierte Laien. Jeder der Briefe wird beantwortet und abgelegt. Diese Korrespondenz, Kopien der Leserbriefe der „Stern“-Redaktion und die ab 1991 (bis zur Auflösung des Institutes 1998) gesammelten Medienartikel sind heute in mehreren Boxen im Archiv der Universität Innsbruck zusammengestellt. Eine der Schachteln trägt die Beschriftung „Kuriosa“: Sie erwies sich als wahrer Schatz mit Geschichten, die „etwas“ aus dem Rahmen fallen. Auch die seltsamsten Anfragen wurden gewissenhaft beantwortet und archiviert. Mit einigen Interessierten gibt es längere Briefwechsel.

Meist nehmen die ausführlichen Schreiben auf die aus den Medien bekannten Anhaltspunkte zur Mumie, ihren Kleidern und Gerätschaften Bezug und kombinieren diese mit Mutmaßungen über Alter, Lebens- und Todesumstände von Ötzi zu einer eigenen Theorie. In der Sammlung gibt es wohl kein noch so abwegiges Thema, das nicht Inhalt eines Briefes wäre: Das geht vom Wiedererkennen von Ötzi als verstorbenen Verwandten bis zur Vermutung, hier den vermissten Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry gefunden zu haben. Ein Schreiber besteht darauf, an der Tätowierung seinen vor Jahren verschollenen Onkel Enno zu identifizieren. Die bei Ötzi gefundenen Schwämme seien „ganz eindeutig dem Hausrat der Tante Anneliese zuzuordnen“. Mehrere Menschen melden sich beim Institut in Innsbruck und berichten, in einem früheren Leben der Eismann gewesen zu sein und sich nun als Reinkarnationen an die Zeit vor 5000 Jahren zu erinnern: Die deutsche Sozialpädagogin Renate Spieckermann sieht 1991 per Zufall in einer Zeitschrift einen Bericht über Ötzi und fühlt sich – mitten aus ihrem Alltag heraus – plötzlich in Fellkleider in eine steinzeitliche Höhle versetzt. Nach weiteren ähnlichen „Rückführungen“ wendet sie sich an die Wissenschaftler in Innsbruck. Sie ist immer mehr davon überzeugt, vor 5000 Jahren im Körper dieses in den Alpen gefundenen Steinzeitmannes gelebt zu haben. Schließlich fasst sie ihre Visionen im Buch „Ich war Ötzi“ zusammen.

Es gibt auch Kontaktaufnahmen mit Ötzi: Ein deutscher Parapsychologe berichtet, er habe im Oktober 1991 mit „instrumenteller Transkommunikation“ – zwar nicht mit Ötzi selbst – doch mit einer „vermittelnden Wesenheit aus dem Jenseits“ indirekt Kontakt mit dem vor rund 5000 Jahren Verstorbenen aufgenommen. Verschiedenste Vermutungen werden diskutiert wie zum Beispiel, dass Ötzi ein Opfer der Sintflut oder beim Untergang von Babylon in die Ötztaler Alpen ausgewandert sei. Eine abenteuerliche Theorie sieht in Ötzi aufgrund der Tätowierungen einen Außerirdischen.

Doch bis heute hält die Begeisterung – und immer wieder auch die direkte Identifikation – mit Ötzi an: So meldete sich etwa anlässlich eines Vortrags in den Vereinigten Staaten der Kunstlehrer Petr Jandáček. Er lebt heute in Los Alamos, New Mexico. Sein Vater – ein großer „Pilz-Jäger“ – floh in den Sechzigerjahren vor dem kommunistischen Regime aus der Tschechoslowakei. Nachdem Petr Jandáček sich lange intensiv mit Indianern beschäftigte, ist er heute überzeugt, ein direkter Nachkomme von Ötzi zu sein – schließlich stammt seine Familie aus der Gegend! Er hat die Kleider und Gerätschaften von Ötzi nachgebaut und sieht es als seine Aufgabe an, das Wissen und die Fertigkeiten des Mannes aus der Steinzeit an heutige Menschen weiterzuvermitteln.


Petr Jandáček rekonstruiert die letzten Ereignisse im Leben des Mannes aus dem Eis


Die Rückführung des Mannes aus dem Eis am 16.01.1998

Ötzi als „Homo tirolensis“. Gefunden im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien wird Ötzi in den Neunzigerjahren für kurze Zeit auch zu einem Thema des historisch belasteten Verhältnisses zwischen Südtirol, Italien und Österreich.

Erst mit der genauen Vermessung des 1922 festgelegten Grenzverlaufs ist klar, dass die Fundstelle von Ötzi auf dem Gebiet der Autonomen Provinz Bozen liegt. In einem Vertrag wird festgehalten, dass die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen in Innsbruck durchgeführt werden, der Fund aber, sobald in Südtirol die notwendige Infrastruktur aufgebaut ist, nach Bozen überführt und im neu eröffneten Südtiroler Archäologiemuseum ausgestellt werden sollte. Vor der Überführung drohte eine nie genau ausfindig gemachte Gruppe mit einem Anschlag, falls Ötzi an Italien – an die „Walschen“ – ausgeliefert würde. Anknüpfend an die politisch motivierten Anschläge der Untergrundorganisation „Ein Tirol“ in den Siebziger- und Achtzigerjahren in Südtirol, versuchte die Gruppierung, den Verbleib von Ötzi in Nordtirol gewaltsamen zu erzwingen und damit indirekt auf ihr Ziel, die Wiedervereinigung von Süd- und Nordtirol, hinzuweisen.

Das Forschungsinstitut und die Mumie musste mit einem aufwändigen Sicherheitsdispositiv geschützt werden. Der Transport von Ötzi am 16. Januar 1998 wurde mit einem großem Polizeiaufgebot auf der abgesperrten Brennerautobahn und mit Rotlicht blockierten Kreuzungen nach Bozen vorgenommen. Heute spielt Ötzi in der Auseinandersetzung der Nationalitäten fast nur noch in Karikaturen eine Rolle. Es zeigte sich, dass sich der „Zeitreisende“ aus der Steinzeit nur schlecht für politische Auseinandersetzungen eignet.

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1919

Die Staatsgrenze zwischen Italien und Österreich, nur 38 Kilometer südlich von Innsbruck entlang des Alpenhauptkamms, wurde 1919 im Friedensvertrag von Saint Germain festgelegt, als Italien die Prämie für seinen Kriegseintritt 1915 an der Seite der Entente ausgezahlt wurde. Somit wurde Italien ein Gebiet zugesprochen, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu Österreich gehört hatte und zu 99 Prozent von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewohnt war.

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Ötzi-Fruchtgummi

Marke Ötzi. Seitdem Ötzi im Museum in Bozen ausgestellt ist, gehört er zu einer der wichtigen touristischen Attraktionen Südtirols. Jahr für Jahr wird das Museum von über 230.000 Besucherinnen und Besuchern aus der ganzen Welt besucht. Bei dem großen Interesse lässt natürlich die kommerzielle Vermarktung nicht lange auf sich warten: Ötzi-Schlüsselanhänger, Ötzi-Schokolade, Ötzi-Pizza, Ötzi-Eis sogar Ötzi-Fruchtgummi. Ein Off-Road-Suzuki „VITARA-Ötzi“ wirbt für den Verkauf in Österreich und der Schweiz mit dem Slogan: „Ein Sondermodell für alle, die Unabhängigkeit schätzen“. Inspiriert von Ötzis historischen Schuhen, versuchte ein Wiener 1992 die „Iceman-Boots“ zu lancieren; durchgesetzt hat sich die Idee nicht – es blieb bei ein paar Werbebroschüren und einigen Prototypen.

In den letzten Jahren ist es allerdings etwas stiller um die Vermarktung des Mannes aus dem Eis geworden, da gewisse Markenrechte am Namen „Ötzi“ durch verschiedene Patente geschützt sind. Nicht nachgelassen hat jedoch das Interesse an den Originalen im „Ötzi-Museum“, dem Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen: an der Mumie, ihren Kleidern und Ausrüstungsgegenständen.

Besonders präsent ist Ötzi vor allem in den beiden Tälern am Fuße der Fundstelle, dem italienischen Schnalstal und dem österreichischen Ötztal. Die seit prähistorischer Zeit benutzte Route ist heute als „Archäologischer Wanderweg“ ausgewiesen und Teil des alpenquerenden Fernwanderweges. Nur eine Stunde neben der Hütte an der Hauptroute gelegen, ist die mit einer Steinpyramide markierte Fundstelle auf 3210 m ü. d. M. eine gerne besuchte Attraktion. Auch unten im Tal hat Ötzi zur Belebung des Tourismus beigetragen. In zwei Erlebnisparks beidseits der Fundstelle können Kinder und Erwachsene neben ausführlichen Informationen zu Leben und Welt des Mannes aus der Kupferzeit – unter Anleitung von speziell ausgebildeten Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern – Techniken aus Ötzis Zeit wie Bogenschießen, Brot am offenen Feuer backen oder Armbänder flechten in einer halben Stunde, bzw. auf der „Expedition Steinzeit“ in einem Tag erleben. Mit der „Ötzis‘ World Card“ wird den Gästen die „kostenreduzierte Teilnahme am gesamten Sommerprogramm ermöglicht“. Für die Kinder gibt’s den „ÖtziLino Kindergarten“ oder den „Ötzi Mountain Club“. Die Erwachsenen treffen sich im Sommerskigebiet an der „Ötzi Gletscher Bar“. Souvenirs und Wander-Accessoires gibt’s im „Ötzi Shop“. Postkarten jeder Geschmacksrichtung lassen keine Kombination von Landschaft, Mumie und rekonstruierter Ötzi-Figur aus.


Ötzi als Briefbeschwerer


Ötzi als Plakette für den Wanderstock

Der über 5000 Jahre im Eis verborgene Mann fasziniert und bewegt seit seiner Auffindung vor 20 Jahren Laien und Wissenschaftler, die ihm jedes erdenkliche Geheimnis zu entlocken versuchen. Ötzi ist in der Gegenwart angekommen: als Projektionsfläche für individuelle Steinzeitfantasien und archäologische Sensation im Dauereinsatz für die touristische Belebung und Vermarktung einer ganzen Region.


Eine von vielen Ötzi-Statuen

Ötzi 2.0

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