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Wünsche und Bedürfnisse – Der lebende Leichnam als Person

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Als am 22. Mai 337 Flavius Valerius Constantinus, bekannt als Konstantin der Große, starb, stand das Römische Reich vor einem Dilemma. Es fehlte ein eindeutiger Nachfolger, und an der blutigen Feindschaft seiner drei Söhne und seines Neffen drohte das Reich zu zerbrechen. Die Lösung war elegant und einfach: Konstantin musste Kaiser bleiben, bis die Thronfolge geregelt war. Also herrschte Konstantin noch den ganzen Sommer über weiter, bis er am 9. September 337 bestattet wurde. Aufgebahrt in seinem Palast wurde Konstantin weiterhin wie ein lebender Herrscher behandelt. Besucher mussten ihm die Ehrerbietung erweisen. Eusebius von Caesarea berichtet von dieser Totenherrschaft in seiner Vita des Kaisers: „Der Selige herrschte auch noch nach seinem Tod als einziger unter den Sterblichen. Die gewohnten Pflichten wurden erfüllt, als ob er noch lebte. […] Weil er allein wie kein zweiter der Imperatoren den Alleinherrscher Gott und seinen Gesalbten durch mannigfache Taten geehrt hatte, erlangte er diese Dinge zu Recht und der Gott, der über allem ist, erachtete ihn für würdig, dass sein sterblicher Leichnam unter den Menschen herrschte. Denn er zeigte auf diese Weise denen, deren Herz nicht aus Stein ist, die alterslose und nie endende Herrschaft der Seele.“ Diese ganze Prozedur war nur möglich, weil Konstantins Körper nicht verbrannt wurde – wie sonst bei allen römischen Kaisern vor ihm.

Dieser Nachfolgeregelung, die wir hier so deutlich zum ersten Mal bereits in der Spätantike fassen können, liegt eine Annahme zu Grunde, die sich von unserer heutigen Sichtweise diametral unterscheidet: Der Mensch bleibt auch im Tod eine Person. Als solche kann er aktiv herrschen, bestimmen – und auch für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Sichtweise bestimmte das gesamte Mittelalter und die Frühe Neuzeit hindurch nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Gesellschaft. Erst in jüngster Zeit änderte sich das Verständnis zu den Toten – sie gelten heute nicht mehr als Person, sondern als Sache.

Wenn der Mensch auch nach seinem Tod noch als Person wahrgenommen wird, dann bekommt sogar der oft gebrauchte Satz „die Liebe überdauert den Tod“ eine ganz neue Bedeutung. So soll der Legende nach im mittelalterlichen Portugal der Thronfolger und spätere König Dom Pedro I. von seinem Vater, dem König Dom Afonso IV., gezwungen worden sein, aus politischen Gründen eine kastilische Prinzessin zu ehelichen. Verliebt war er jedoch in Inês de Castro, eine Edelfrau aus deren Gefolge, und zeugte mit ihr drei Kinder. Alfonso IV. duldete dieses Verhalten seines Sprösslings nicht und ließ Inês im Jahr 1355 nach einem Schauprozess ermorden – was einen blutigen Bürgerkrieg zwischen Vater und Sohn auslöste. Nachdem Pedro I. die Königswürde erlangt hatte, ließ er die bereits fünf Jahre vorher gestorbene Inês exhumieren, in prunkvolle Krönungsgewänder kleiden und in der Kathedrale von Coimbra in einer feierlichen Zeremonie neben sich auf einen Thron setzen. Der Hofstaat musste ihr huldigen und dabei die verweste Hand küssen.

In der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit hatte auch ein Toter noch bestimmte Rechte inne und Pflichten zu erfüllen. Reichte zum Beispiel sein Vermögen nicht aus, um die von ihm noch zu Lebzeiten bestimmte Bestattung durchzuführen, konnte er sich verschulden und noch bis ins 16. Jahrhundert anschließend auf die Tilgung der Schulden verklagt werden. Die Rechtsfähigkeit endete also keineswegs mit dem Tod. Im Sachsenspiegel, dem bedeutensten Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, ist ganz klar dargelegt, wie Verstorbene mittels einer „Klage gegen den toten Mann“ vor Gericht zu bringen sind. Wurde der Tote verurteilt, konnte die Strafe an seinem Leichnam durchgeführt werden. Ein verstorbener Dieb beispielsweise konnte nach der Verurteilung am Galgen aufgeknüpft werden. Das einzige Überbleibsel dieser Vorstellungen vom lebenden Leichnam finden wir heute im Erbrecht, denn noch immer ist der Wille des Toten für die Nachkommen bindend. Dies gilt nicht nur für die Verteilung des Erbes, sondern auch für die Behandlung der Leiche. Seine Bestimmungen über eventuelle Organentnahmen, Verwendung in der Anatomie oder auch die Wahl von Bestattungsart und -ort behalten weiterhin Gültigkeit.

Die Volkskunde kennt weitere Beispiele von Begebenheiten, bei denen Tote wie Lebendige behandelt werden. So wurde vielerorts noch bis ins 20. Jahrhundert hinein beim Leichenschmaus oder Leichenkaffee ein Gedeck für den Toten mit aufgetragen. Das Bedürfnis, auch als Leichnam essen und trinken zu können, finden wir ebenfalls in den mittelalterlichen Legenden der Nobiskrüge: Gasthöfe, in denen sich nachts die Toten versammeln. In Hamburg gibt es noch heute zwischen Reeperbahn und Louise-Schroeder-Straße einen Straßenzug namens Nobistor. Er erinnert an das einstige Stadttor Altonas, das an dieser Stelle zur hamburgischen Vorstadt auf dem „Hamburger Berg“ führte, dem heutigen St. Pauli. Das „Tor“ war allerdings nicht mehr als eine Holzpforte. Es markierte nur eine Grenze, sollte aber keinen Verkehr aufhalten. Vor diesem Tor lag auf der Hamburger Seite des Grenzgrabens ein Gasthaus, das 1526 als Nobiskrug erwähnt wird. In der Literatur der Neuzeit wird der Nobiskrug zum Synonym für die Hölle oder Durchgangsort zur Hölle. Woher die Bezeichnung kommt, ist nicht ganz klar. Krug werden in Norddeutschland ländliche Gasthäuser genannt. Das Grimmsche Wörterbuch führt den ersten Teil des Namens auf das lateinische abyssus – Abgrund, Hölle – zurück, dem ein N vorgesetzt wurde. Wahrscheinlicher aber ist, dass er auf den rotwelschen Verneinungspräfix nobis zurückgeht. Seiner habe sich angeblich das fahrende Volk bedient, um Wirtshäuser zu kennzeichnen, um die man besser einen großen Bogen schlagen sollte.

Zu den Grundbedürfnissen, die mit dem Tod nicht versiegen, gehörte ebenfalls das Tanzen. Der Dichter Heinrich Heine berichtet in seinem Essay über die Elementargeister von einer alten slawischen Sage, die in Österreich erzählt wird: „Es ist die Sage von den gespenstischen Tänzerinnen, die dort unter dem Namen ‚die Willis‘ bekannt sind. Die Willis sind Bräute, die vor der Hochzeit gestorben sind. Die armen jungen Geschöpfe können nicht im Grabe ruhig liegen, in ihren toten Herzen, in ihren toten Füßen blieb noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten, und um Mitternacht steigen sie hervor, versammeln sich truppenweis an den Heerstraßen, und wehe dem jungen Menschen, der ihnen da begegnet! Er muß mit ihnen tanzen, sie umschlingen ihn mit ungezügelter Tobsucht, und er tanzt mit ihnen, ohne Ruh und Rast, bis er tot niederfällt. Geschmückt mit ihren Hochzeitskleidern, Blumenkronen und flatternde Bänder auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den Fingern, tanzen die Willis im Mondglanz, ebenso wie die Elfen. Ihr Antlitz, obgleich schneeweiß, ist jugendlich schön, sie lachen so schauerlich heiter, so frevelhaft liebenswürdig, sie nicken so geheimnisvoll lüstern, so verheißend; diese toten Bacchantinnen sind unwiderstehlich.“

Wenn mit dem Tod das Verlangen nach weltlichen Genüssen nicht aufhörte – dann natürlich erst recht nicht das Verlangen nach Sexualität. Der arabische Gesandte ibn Fadlān erzählt in seiner nach 922 entstandenen Beschreibung der Begräbniszeremonie eines Wikingerhäuptlings an der Wolga ausführlich, wie eine junge Sklavin darauf vorbereitet wird, ihrem Herrn im Jenseits dafür zur Verfügung zu stehen: „Als daher jener Mann, dessen ich oben erwähnte, gestorben war; so fragten sie seine Mädchen: ‚Wer will mit ihm sterben?‘ Eine von ihnen antwortete: ‚Ich.‘ Da vertraute man sie zweien Mädchen an, die mussten sie bewachen und sie überall, wohin sie nur ging, begleiten, ja bisweilen wuschen sie ihr sogar die Füsse. Die Leute fingen dann an, die Kleider für ihn zuzuschneiden und alles, was sonst erforderlich ist, zuzubereiten. Das Mädchen trank indes alle Tage, sang und war fröhlich und vergnügt.“ In der folgenden Zeit besucht sie die Zelte der anderen Häuptlinge, die ihr mit den Worten beiwohnen: „sag deinem Herrn, nur aus Liebe zu Dir tat ich dies.“ Am Ende aber muss sie ihrem Herrn ins Jenseits folgen: „Dann traten sechs Männer in’s Gezelt und wohnten samt und sonders dem Mädchen bei. Drauf streckten sie sie an die Seite ihres Herrn. Und es fassten sie zwei bei den Füssen, zwei bei den Händen. Und die Alte, die da Todesengel heisst, legte ihr einen Strick um den Hals, reichte ihn zwei von den Männern hin, um ihn anzuziehen, trat selbst mit einem grossen breitklingigen Messer hinzu und stiess ihr das zwischen die Rippen hinein, worauf sie es wieder heraus zog. Die beiden Männer aber würgeten sie mit dem Stricke, bis sie tot war.“

Anders lösten die finno-ugrischen Chanten in Westsibirien das Problem der sexuellen Bedürfnisse Verstorbener. Bei ihnen musste die Ehefrau noch so lange weiterhin mit dem Toten unter einer Bettdecke schlafen, bis dieser beigesetzt wurde. Es gab jedoch auch den umgekehrten Fall: Statt eines lebenden Menschen, der die sexuellen Bedürfnisse eines Toten befriedigte, konnte auch ein Toter zu diesem Zweck bei einem Lebenden bleiben. Überliefert ist dies von der Insel Fehmarn, wo der Ehefrau weiterhin Verkehr mit dem verstorbenen Ehemann zustand, solange dieser noch nicht unter der Erde lag.

Doch offenbar kümmerten die lebendigen Toten sich nicht nur um ihr körperliches Wohl, sondern auch um ihr geistiges. Bereits im Frühmittelalter berichtet der Geschichtsschreiber Gregor von Tours von Toten, die einen Gottesdienst abhalten. Geraten Lebende in eine solche Gottesdienstfeier, wird es für sie meist gefährlich. Im 11. Jahrhundert erzählt der Kirchenlehrer Petrus Damiani von einer Frau, die in eine dieser Feiern hineingerät und dort auf ihre verstorbene Patentante trifft. Diese mahnt ihr Patenkind, ihren Lebenswandel zu bessern – denn sie habe nur noch ein Jahr zu leben. Auch in Island hielten die Untoten Messen ab, wie im 12. Jahrhundert der Mönch Gunnlaug Leiffson aufschrieb. Dort wurde eine alte Frau sogar von den Verstorbenen angegriffen, als sie versehentlich eine Andacht störte.

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