Читать книгу Die Eifel und die blinde Wut - Angelika Koch - Страница 9
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ОглавлениеWerner Baltes hatte Nippes seitdem nie mehr lebendig gesehen. Zwischen dem Neujahrsempfang und dem Auffinden der Leichenteile lagen acht Monate. Was war in dieser Zeit geschehen? Hatte es schon damals jemanden gegeben, der überlegte, wie er den ihm Verhassten beseitigen könnte? Denn es musste Hass gewesen sein. Kein Kalkül, kein nüchternes Aus-dem-Weg-Räumen eines Widersachers oder Konkurrenten. Oder war das Wüten der Zerstückelung eine bewusst gelegte falsche Fährte? Ausgeschlossen war wohl ein Raubmord, denn in Nippes’ Haus fehlte nichts. Laut Aktenlage. Sogar der ordnungsgemäß abgeschlossene Schrank mit den legal erworbenen Jagdwaffen blieb unangetastet. Die Munition lag vollzählig daneben. Baltes blätterte und las. Didier und die Subotka hatten akribisch gearbeitet.
Nippes war, bevor er seine politische Karriere in Angriff nahm, tatsächlich leidenschaftlicher Landwirt, in fünfter Generation, mindestens. Seine pralle Hemdsärmeligkeit war ungelogen. Dann rollte die Devise »wachse oder weiche« auch über die Eifelhügel, und Nippes, ausgestattet mit einer guten Nase für Geschäfte, hatte es klüger gefunden, rechtzeitig zu weichen und den Fuhrpark mit schweren Landmaschinen und einiges Land zu verkaufen. Er hatte seine leer stehende Scheune in vier Ferienwohnungen umgebaut. Urlaub auf dem Land lag im Trend. Der Stall blieb Stall, nicht mehr für Schweine, sondern für einen Streichelzoo aus Ziegen, einer kleinen Herde Heidschnucken, jeder Menge Kaninchen und vier flauschigen Eseln. Wandern mit Eseln. Nippes machte Witze darüber. »Wer mit Eseln wandert, ist selbst einer.« Esel können eine Ewigkeit wie festgenagelt auf der Stelle stehen bleiben und nichts bringt sie fort. Dann wieder traben sie los und der wandernde Mensch stolpert neben ihnen her.
Es war Lisamaries Aufgabe, das mit den Gästen und der niedlichen Menagerie. Er hatte dafür keine Zeit, die Politik brauchte ihn. Für sie hatte Nippes über dem Stall eine eigene Wohnung eingebaut. Mit ihrem Vater unter einem Dach leben, in ihrem einstigen Kinderzimmer, das hatte sie nicht gewollt. Auf gar keinen Fall.
Baltes las in der Akte: Lisamarie Bentheim, zweiunddreißig Jahre alt, einzige Tochter von Timotheus und Katharina Nippes, sehr gutes Abitur am internationalen Eifelgymnasium, dann Architekturstudium in Köln nicht durchgehalten, danach Animateurin für eine große Hotelkette in Antalya und Olhão, Kreuzbandriss, arbeitslos, drei Jahre Ehe mit einem John Bentheim in den USA, keine Kinder, zurück in die Eifel, Mutter gepflegt bis zu deren Tod. Kein Alibi.
Ihre Aussage sprang ihm in die Augen: »Ich habe mir zwanzig Jahre lang vorgestellt, wie es ist, wenn er tot ist. Aber jetzt merke ich … das ändert gar nichts. Nicht das Geringste ändert das.« Sie hatte laut Subotkas Kommentar bei diesen Worten nicht kühl gewirkt, eher den Tränen nah.
*
Baltes und Vera schlenderten durch den Dauner Kurpark, Hand in Hand. Irgendwie war es dem Kurpark gelungen, der Aufmerksamkeit der Touristen zu entgehen, die im Corona-Sommer die Eifel fluteten und an den Maaren Schilfgürtel und Seerosen niederwalzten oder sich mit ihren Wohnmobilen in den gewundenen Kleinstadtstraßen und Dorfgassen verkanteten. Im Park war die Welt so heil wie vorher. Die Fische bahnten sich in majestätischer Gelassenheit ihre Bahnen durch das dunkelgrüne Wasser des Weihers, die Enten bettelten beharrlich schnatternd um Brotkrumen, nicht ahnend, dass die für sie selbst ungesund waren. Der einst sattgrüne Rasen war zwar von der Dürre schütter und braun geworden, doch noch immer plätscherte die Lieser zwischen Park und Wald entlang. Sie ließen sich auf einer Bank ganz nah am Kneippbecken nieder und sahen zu, wie sich wenige Meter entfernt ein Rennradler in neongelbem Outfit anschickte, den Kosmosradweg Richtung Meerfeld zu erobern. Er würde unterfordert sein, es war fast durchgängig eine gemütliche Strecke ohne imposante Steigungen. Das grelle Trikot geriet schnell aus dem Blick, nur noch das Knirschen der Reifen auf dem mit feinkörniger Lava befestigten Weg war einige Momente länger zu hören.
»Wir sollten auch mal wieder Rad fahren«, meinte er. »Das macht den Kopf frei.«
»Ist deiner nicht frei?« Vera tätschelte sein Knie. »Lass dir doch Zeit. Ich meine es ernst. Wenn du zu früh in die Mühle zurückgehst, ist das Risiko für einen Rückfall groß. Ich brauche dich, verstehst du das?«
Er legte seine Hand auf ihre, drückte sie sanft. »Keine Angst. Ich bin wieder neugierig. Ich habe wieder Lust auf die Arbeit. Und außerdem: Etwas an dem Fall sagt mir, dass da jemand am Werk war, dem es ähnlich ging wie mir. Nur viel brutaler, natürlich.« Er schaute einem großen dunklen Tier zu, vielleicht ein Karpfen, dessen Maul an der Wasseroberfläche nach Luft schnappte. Plötzlich tauchte es ab, hinterließ kleine, sich kreisförmig ausbreitende Wellen. »Kannst du dir vorstellen, dass eine Tochter ihren Vater auf eine solche Weise tötet? Ihn zerhackt und in den Müll wirft?« Er hoffte auf Antwort, auf Sachlichkeit. Er konnte sich darauf verlassen, als Sozialarbeiterin war sie unbestechlich nüchtern und gut.
Sie nahm ihre Hand zurück und schwieg eine Weile. »Mir ist schon viel Wut begegnet. Sicher gibt es immer wieder den Wunsch, so etwas zu tun. Man stellt es sich vor. Aber es wirklich zu machen … nein. Ich glaube nicht, dass irgendeine meiner Betreuten so was in die Tat umsetzen würde. Nicht mal, wenn sie geschlagen wurden. Gerade dann nicht. Die Frauen verharren auf der Opferseite. Das kennen sie, sie finden da nur schwer heraus, ihre Wut richtet sich eher gegen sich selbst … wenn sie überhaupt zulassen, das zu spüren. Oder sie gehen weg, ganz weit weg.«
*
Lisamarie Bentheim war weit weggegangen und zurückgekehrt. Baltes fuhr auf das Nippes’sche Anwesen. Er wollte sich selbst ein Bild machen. Von allem, was seine Kollegen damals notiert hatten. Die Pracht überraschte ihn nicht. Reiche Bauern hatte es in diesem Landstrich schon immer gegeben. Anwesen – das traf es, es glich fast schon einem Herrenhaus. Baltes stand vor einem in hellem Altrosa verputzten stattlichen Dreiseithof mit schwarz glänzenden Dachschindeln, mit weiß gestrichenen Fensterstürzen, gediegenen hölzernen Rahmen und einer wuchtigen, zweigeteilten Haustür aus Eiche. Überall waren Blumenkübel verteilt, aus denen sich rote, violette und weiße Geranien rankten. Sogar eine Palme war in den kopfsteingepflasterten Innenhof gestellt worden und fühlte sich offenbar wohl im Eifelklima. Abseits, in einer weiß markierten Parkbucht, standen drei Autos, ein SUV und zwei Kombis mit Hundegittern, alle mit Kennzeichen von weit her … Heile Wanderurlaubswelt. Baltes atmete tief durch. Ja, das Glück lag so nah, ein paar Kilometer vor der Bürotür. Irgendwo hinter den Mauern blökte ein Schaf, andere stimmten mit ein.
Er klingelte. Doch im Haus tat sich nichts. Er versuchte, durch eines der Fenster im Erdgeschoss zu schauen. Das Wohnzimmer, in das er blickte, war menschenleer … Ein gemauerter weißer Kaminofen, ein voluminöses braunes Ledersofa mit bunten Kissen, ein Regal voller Bücher. Er hatte Nippes nicht zugetraut, ein Literaturgenießer zu sein, aber dann bemerkte er einen aufgeschlagenen Modekatalog auf dem Couchtisch und ahnte, dass Lisamarie Bentheim nach dem Tod ihres Vaters längst den Zufluchtsort über dem Stall verlassen und den feudalen Wohntrakt für sich erobert hatte.
Unschlüssig blieb Bentheim stehen. Sollte er zurückfahren? Immerhin waren es vierzig Kilometer von seinem Homeoffice in Daun hierher. Diesmal meckerte ein Ziegenchor, klar erkennbar aus dem Stallgebäude. Er ging hinüber. Eine schlichte Stalltür wurde geöffnet.
Auf dem Foto in den Akten sah sie stämmig aus, die Familienähnlichkeit mit ihrem Vater war frappierend und auch der Blutschwamm war da in ihrem Gesicht, wenngleich deutlich kleiner und fast in den Haaren versteckt. Die blonde Frau, die auf der Schwelle zum Stall stehen blieb, wirkte jedoch fast zerbrechlich und durchscheinend wie jemand, der eine lange Krankheit überstanden hatte. Sie steckte in einer Cargohose und einer Arbeitsjacke, die ihr an Schultern und an den Hüften unförmig runterhingen, die klobigen Gummistiefel waren viel zu weit für ihre Waden. Vielleicht hatte ihr neues Leben ohne den Vater nebenan dazu geführt, eine seelenschützende Fettschicht loszuwerden. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Baltes zückte seinen Dienstausweis.
»Haben Sie neue Erkenntnisse?«, fragte sie, bevor er irgendetwas sagen konnte. Ihre auffallend hellen Augen waren voller Lebendigkeit, in ihnen lag keine Spur von Angst oder Beunruhigung.
Nach Aktenlage war sie eine Verdächtige, noch immer. Doch nach ihrem gelassenen Auftreten zu urteilen war sie das nicht. Baltes registrierte den Widerspruch. Aber er musste nichts bedeuten. Der Kommissar wusste, dass sogar Täter, die eindeutig überführt werden konnten, sich selbst eine ganz andere Geschichte erzählten und fest an diese glaubten. Sie erinnerten sich an eine vollkommene Unschuld, die es nicht gab. »Der Fall wird noch mal überprüft, routinemäßig. Ich würde mich gern mit Ihnen über Ihren Vater unterhalten.«
Sie winkte ihn her. »In Ordnung. Kommen Sie rein, ich habe hier noch zu tun. Oder haben Sie Angst vor Tieren?«
Er schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei ins Halbdunkel der Streichelzoo-Behausung. Sie schloss die Stalltür, griff nach einer Forke und warf den Ziegen, die hinter einem hölzernen Gatter auf Stroh standen oder wiederkäuend herumlagen, frisches Heu zu. Es duftete intensiv, süß nach dem getrockneten Gras und zugleich würzig wie Maggi nach Tier. Baltes sah, wie sauber und gepflegt alles war. Lisamarie Bentheim musste ihre Arbeit lieben.
»Sie waren hier, als Ihr Vater getötet wurde? Allein?« Er lehnte sich ans Gatter.
Sie nickte. »Nehme ich jedenfalls an. Ich weiß ja nicht, wann genau er umgebracht wurde. Oder ist das eindeutig klar?« Sie sah in sein unbewegliches Gesicht. »Jedenfalls war er tagelang fort, damals, es gab ja einen ziemlichen Trubel wegen ein paar Entscheidungen, die er durchgeboxt hat. Ich habe mir nichts dabei gedacht, er war oft unterwegs und wir haben uns nicht gesehen. Oder er ging auf Jagd … Er hatte Kumpel in Sachsen und Thüringen, mit wildreicheren Revieren als hier. Er hat sich bei mir nie abgemeldet. Er war niemand, der sich bei seiner Tochter abgemeldet hat. Umgekehrt schon, umgekehrt hätte ich das tun müssen. Sonst wäre er wütend geworden.«
»Und wie sah seine Wut aus?«
Sie schaufelte weiter. »In den letzten Jahren nicht mehr so schlimm. Nicht mehr so laut. Seit Mama tot ist. Hat ihn wohl milder gestimmt. Zuzuschauen, wie jemand an Krebs stirbt, das hat nicht mal ihn kaltgelassen. Seitdem hat er nicht mehr gebrüllt, nur noch irgendwas in sich hineingebrummt und mich stehen lassen, mich mit Missachtung gestraft. Früher, als ich klein war, da war es ein richtiges Wechselbad. Mal war ich sein Liebling, mal hat er mich auch geschlagen. Ich habe dann ein einziges Mal zurückgeschlagen, da habe ich schon studiert. Seitdem hat er mich in Ruhe gelassen, mehr oder weniger.« Sie unterbrach ihr rhythmisches Arbeiten. »Sind Sie gekommen, um herauszufinden, ob ich immer noch dasselbe sage, was in den Akten steht? Widersprüche finden vielleicht?« Sie lächelte.
Baltes wollte einen beschwichtigenden Schritt auf sie zutun. Doch etwas hielt ihn fest. Als wäre er am Gatter festgetackert. Es wurde ihm eng in seiner Lederjacke. Und noch enger. Er stand da, mit dem Rücken am Holz, und spürte ein Zerren. Ratlos blickte er in das Gesicht der Frau. Ihr Lächeln war einem breiten Grinsen gewichen.
»Sie mag Sie. Zumindest Ihre Jacke.«
Er versuchte, sich umzudrehen, schaffte es halb. Und sah in rechteckige, waagrechte Pupillen. Ein Stück seiner Jacke verschwand zwischen den Holzstäben und dann im Maul der Ziege, die ihn durchaus freundlich, aber zugleich wild entschlossen musterte. Das Tier ging einen Schritt zurück. Das Leder war zum Zerreißen gespannt. Ziegenleder, dachte er reuevoll, butterweiches Ziegenleder. »Was muss ich tun, damit sie mich loslässt?«
»Nichts. Geduld haben.«
Hatte er nicht. Er hob den Arm, hoffte, die Ziege so zur Aufgabe zu bringen und zu verscheuchen, langte an eines ihrer gebogenen Hörner. »Das ist ja warm«, sagte er erstaunt, »richtig handwarm.« Er hielt das Horn fest, die Ziege hielt die Jacke fest. Ein zähes Ringen begann, Mann gegen Mann. Nein, er sah das Euter, das wie die Sahnespritztüten eines Konditors vom pelzigen Leib abstand. Mann gegen Ziegenmama. Es war entwürdigend.
Endlich ließ sich die Bentheim herab, dem Tier mit dem Stiel der Forke zu drohen. Es machte abrupt kehrt. Baltes starrte auf Bissspuren und Tropfen von schleimigem Sabber, die nun seine Jacke zierten. Zum Glück war nichts eingerissen.
»Kommen Sie, ich mache Ihnen einen Kaffee. Und wenn Sie dann noch was fragen wollen … meinetwegen.« Sie ging voran, über den Hof, zog im Flur des Wohntrakts die Gummistiefel aus, bedeutete ihm, auf dem Sofa zu warten.
Er blätterte im Modekatalog. Ökoklamotten, fair produziert, bunter gemustert als das, was die üblichen Labels in ihren Shops hatten. Für Menschen, die Gutes tun wollten. Auf dem Kaminsims standen zwei gerahmte Fotos, eines zeigte eine noch korpulente Lisamarie eingehakt bei einer grauhaarigen Frau. Beide lächelten mit inszenierter Heiterkeit, wie man es beim Posieren für ein Foto tut, rechts von ihnen Palmen, im Hintergrund das Blau eines Sees und in der Ferne eine dunkel gezackte Gebirgskette. Das andere war älter, die Farben schon leicht gelbstichig, ein etwa vierjähriges pausbäckiges Mädchen im Dirndlkleid auf einem Stück Rasen, es hielt eine Puppe im Arm oder ein Baby, Baltes konnte es nicht erkennen. Es war kein Schnappschuss beim Spielen, die Kleine stand stramm und hatte die Augenbrauen zusammengezogen, blinzelte widerwillig ins Gegenlicht.
»Milch? Zucker?«, klang es aus der Küche.
»Beides, bitte.«
Baltes ließ das Gespräch mit Lisamarie Bentheim Revue passieren. Er hatte es mitgeschnitten. Ihre Stimme war manchmal etwas rau, manchmal ganz zart, in ihr schwang der Singsang des Eifeler Dialektes mit, der alle Härten abschleift. Je öfter er ihr zuhörte, desto mehr fühlte sich Baltes angezogen und verwirrt von dieser Frau … Verletzlich und robust zugleich, so erschien sie ihm. Noch einmal startete er die Aufnahme.
Nein, ich habe nichts dagegen, wenn Sie auf Band aufnehmen, was ich sage. Ich will es Ihnen nicht unnötig schwer machen. Ja, Sie haben richtig geraten, Herr Kommissar. Ich habe kein Foto von meinem Vater. Ich habe nur noch diese beiden da, alle anderen sind im Müll und ab in die Verbrennungsanlage. Nicht mal das übliche Ritual, die Bilder selbst zu verbrennen, wollte ich mir antun. Das eine zeigt mich mit meiner Mutter, ein halbes Jahr bevor sie starb. Wir waren in Ascona, nur sie und ich. Irgendein anderer Tourist hat uns fotografiert. Mein Vater war nicht dabei. Und das andere Foto, das hat er gemacht. Von mir und meinem Bruder. Sie wissen nichts von meinem Bruder? Tut er was zur Sache?
Na ja, wenn Sie meinen, also die ganze Geschichte. Sie haben Zeit? Gut, meinetwegen. Kevin hieß er, ein alberner Name. Aber Mama wollte moderne Namen. Kevin und Lisamarie … Ich bitte Sie. Wenigstens heiße ich nicht Vanessa oder Jacqueline oder Chantal, hätte auch sein können. Jedenfalls gab es damals noch den Hof, ich meine, den richtigen Bauernhof. Wir hatten Milchvieh mit Grünland auf den weniger fruchtbaren und Ackerbau auf den fruchtbaren Böden und Schweine. Ein Helfer kam jedes Jahr aus Polen, damals waren die Leute dort noch arm und wollten bei uns richtig Geld verdienen. Und mein Vater … der hatte eine billige Arbeitskraft und das gute Gewissen obendrein. Er fing ja damals schon an, sich politisch zu interessieren. Konservativ, klar, konservativ auf seine eigene Weise. Der Pole? Czeslaw hieß er, ich erinnere mich noch an ihn, er hat viel gelacht und ich bin ihm immer mit dem Buggy um die Beine gefahren. Er wurde nie wütend, fand das lustig. Bei meinem Vater hätte ich mich das nie getraut.
Und Mama war schon seit Ewigkeiten krank, seelisch krank. Ich habe das als Kind natürlich gar nicht begriffen, warum sie tagelang im Bett liegen blieb, immer völlig geistesabwesend war … und dann wieder so reizbar war, so unberechenbar. Heute weiß ich, was die Benzos ihr angetan haben. Ich habe das im Internet nachgelesen, Benzodiazepine blockieren auf Dauer die Hirnareale, die für Sozialverhalten zuständig sind. War natürlich völlig illegal, so etwas jahrelang zu verschreiben, aber mein Vater kannte den Arzt. Der hat dann trotzdem Rohypnol-Rezepte ausgestellt oder Probepackungen rausgerückt. Wenn Sie mich fragen, das war richtige Dealerei, Junkies besorgen sich das Zeug als Heroinersatz. Ich weiß nicht, womit mein Vater den Arzt in der Hand hatte. Ich nehme an, dass es da etwas gab. Welcher Arzt wäre sonst so verrückt, illegal Betäubungsmittel zu verschreiben?
Ach, Sie kennen auch Ärzte, die so etwas machen? Dann tun Sie doch was dagegen! Was sagen Sie, das geht schlecht, von wegen ärztlicher Schweigepflicht? Glauben Sie wirklich, das ist eine Zwickmühle für die Ärzte? Sozusagen ein Betriebsunfall, weil man so schnell süchtig nach dem Zeug wird und schon nach vierzehn Tagen den Absprung vielleicht nicht schafft? Das ist keine medizinische Notwendigkeit, weiter Tabletten zu verschreiben, obwohl man weiß, dass man damit Abhängigkeit züchtet! Das ist Bequemlichkeit, weil es ja lästig ist, wenn da alle naslang jemand in der Praxis steht und Nachschub will. Aber die Sache mit Mama … da war noch mehr. Ich glaube fest daran, dass der Arzt etwas zu verbergen hatte. Und mein Vater wusste, was es war. Warum? Reines Bauchgefühl. Weibliche Intuition. Mein Vater wusste viel, von allen möglichen Leuten.
Der Arzt ist schon lange tot. Den können Sie als Mörder ausschließen, falls Sie glauben, der hätte ein Motiv. Hatte er vermutlich, aber er hat sich selbst den goldenen Schuss gesetzt, wusste ja, wie es geht, war selbst süchtig. Selbstsüchtig … glaube ich eher nicht. Ich erinnere mich an ihn, war eher so ein Landarzt wie aus dem Bilderbuch. Aber er hat immer gezittert. Dem ist irgendwas im Leben ganz furchtbar schiefgelaufen, wenn Sie mich fragen.
Was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte … Ich schweife ab, ich weiß. Aber Sie haben ja nach den Fotos gefragt, das haben Ihre Kollegen damals nicht getan. Damals sah es auch anders aus hier, können Sie sich ja vorstellen. Ich habe alles rausgeworfen, was mich an meinen Vater erinnert. Also Kevin. Ich war fast fünf, ich sollte auf ihn aufpassen, wenn er im Kinderwagen schlief. Das war natürlich total langweilig, ich hätte lieber mit den Nachbarsmädchen gespielt. Aber nichts da, ich musste babysitten. Ich hab den Wagen mit Kevin drin dann einfach stehen lassen, vor der Scheune. Der hat ja sowieso geschlafen und nichts gemerkt. Ich weiß noch, ich bin zur großen Linde da vorn … Sehen Sie, die steht immer noch. Toller Baum! Es roch so schön und da waren Tausende Bienen. Ich hatte nie Angst vor Bienen. Wieso auch, Biene Maja war doch sooo lieb, ich hatte das Buch. Mich hat nie eine gestochen, Wespen auch nicht. Noch nie. Man muss einfach ruhig bleiben, ganz ruhig, dann tun sie auch nichts. Ich finde es albern, wenn man draußen auf der Terrasse sitzt und Kuchen isst und dann hektisch rumwedelt, bloß weil da so ein Insekt kommt und auch was abhaben will. Man muss nur aufpassen, dass sie nicht … Ach Entschuldigung. Ich sollte drüber weg sein und das nicht verdrängen, ich weiß. Außerdem habe ich das schon zigmal erzählt, in zig Therapien. Aber das ändert ja nichts. Es ist erstaunlich, wie wenig sich ändert, wenn plötzlich jemand tot ist. Für mich hat sich nichts geändert, nichts nach dem Tod meines Vaters, nichts nach dem Tod meiner Mutter, und bei Kevin … doch, da schon, ich war ja noch klein. Aber das Erzählen, das hat nichts geändert. Jedenfalls habe ich den Kinderwagen stehen lassen und bin weg, zum Baum. Wollte nur mal kurz riechen und schauen. Ich habe noch gehört, wie das Scheunentor aufging, es rumpelt ziemlich, wenn man es beiseiteschiebt, es klingt wie ein entfernter Donner. Und das Tuckern des Treckers habe ich gehört, das Quietschen der Bremse, Metall auf Metall irgendwie. Das Schreien von Czeslaw habe ich auch gehört. Er hat gebrüllt wie ein Stier. Ich habe mich hinter der Linde versteckt. Ich dachte sofort, dass was Schreckliches passiert sein musste … mit Kevin. Weil … weil … Babygeschrei gab es nämlich nicht. Er hätte doch wach sein müssen bei dem Lärm, er war immer total quengelig, wenn er plötzlich geweckt wurde. Nur Czeslaw habe ich gehört und dann meine Mutter … Wo mein Vater war, weiß ich nicht. Vermutlich unterwegs, für seine Rechtsstaatlichen. Oder vielleicht doch auch auf dem Feld, es war ja Frühsommer. Doch, vielleicht auf dem Feld.
Mich getröstet? Wo denken Sie hin! Czeslaw, der hat mich in den Arm genommen und selbst geweint. Auf der Beerdigung habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Der weiße Sarg war so winzig … ich erinnere mich nicht an viel, nur an rote Rosen in der Kirche und dass die ganz voll war von Leuten. An meine Eltern erinnere ich mich nicht, ich weiß nicht mehr, wie es denen danach ging. Oder ob meine Großeltern da waren … Die Eltern meiner Mutter lebten damals ja noch im Nachbardorf. Ich weiß nicht, ob meine Onkel und Tanten und Cousins da waren, es ist wie ausradiert. Irgendwie hatten wir wohl nie so ein nahes Verhältnis … seltsam für die Eifel, nicht wahr? Hier glucken doch immer alle zusammen und beschweren sich dann, dass man nichts tun kann, ohne dass irgendwer seinen Senf dazugibt. Bei mir war das anders. Die Leute gehen weg, weil es denen zu eng wird. Ich bin weggegangen, weil mich nichts gehalten hat … Erst als Mama krank wurde, da bin ich zurück hierher. Hätte ich wohl besser nicht getan. Aber wer weiß, was sonst mit mir passiert wäre. Irgendwas ist ja immer.
Jedenfalls setzt meine Erinnerung erst wieder ein, da ging ich schon zur Schule. Mein Vater hat mich mit dem Arsch nicht mehr angeguckt. Ein Mädchen, das war für ihn bloß niedlich und sowieso keine Stammhalterin, und dann hatte ich seinen Sohn auf dem Gewissen. In der Klasse haben sie mich gemobbt. Ich sei die Brut von einem Möchtegernnazi. Oder von einem, der die Nase zu hoch trägt und fies zu den Leuten ist. Konnte ich mir aussuchen, was schlimmer war. Ich habe dann ein einziges Mal einen Jungen vermöbelt, der hatte mich vor versammelter Mannschaft »Mördermarie« genannt … Das mit meinem Bruder, das wussten ja alle oder vielmehr, jeder hat geglaubt, da irgendeine Wahrheit zu kennen. So was wird man nicht los, nie. Die Leute reden. Und das Schlimme war, dass ich sicher war, mein eigener Vater hat mich damals exakt so wie dieser Junge gesehen, als Mörderin. Ich bin komplett ausgerastet. Darum kam dann jemand vom Jugendamt. Mein Vater kannte den Chef, das war ruckzuck geregelt. Die Eltern des Jungen mussten sich bei meinem Vater entschuldigen. Wie? Bei mir entschuldigen? Nein, von meinem Vater habe ich eine gepfeffert gekriegt … Den Genuss, dass die Eltern angekrochen kamen, hatte er ganz allein. Und auf dem Schulhof wurde es natürlich auch nicht besser für mich, als Tochter vom Nippes. Es gab auch andere, die fanden ihn aufrichtig toll, die saßen bei uns im Wohnzimmer, da, wo Sie jetzt sitzen. Es war ja die Zeit kurz nach der Wende, alle haben »Helmut! Helmut!« gejohlt. Mein Vater meinte, der Helmut wäre ein Weichei, aber besser als nix, und jetzt bekäme er auch in der Eifel Rückenwind für seine Sachen. Er ist oft rübergefahren, in die DDR. Da hat er viele Kontakte geknüpft.
Mama und ich waren dann meistens allein hier. Wir hätten den Hof sowieso nicht geschafft, selbst wenn er öfter hier gewesen wäre. Es war eine Erleichterung, das meiste Land und die Maschinen zu verkaufen und umzusatteln auf Ferien auf dem Bauernhof. Nur noch gut gelaunte Leute, die freiwillig da sind … Ist echt ein Unterschied. Macht nix, wenn haufenweise Kids kommen, die noch nie ein Viech live gesehen haben und ausflippen … O wie süß, o wie niedlich! Die Tiere können das ab. Die wedeln ein bisschen mit den Ohren oder keilen hinten aus, wenn es zu viel wird, aber selbst das fällt für die Städter in die Rubrik ›geiles Abenteuer‹. Am besten sind die Gäste mit Hund. Die sind so dankbar, dass sie mit ihrem Bello mal frei rumlaufen können ohne Gefahr, alle paar Meter von einem Auto umgefahren zu werden. Und dass sie nicht immer die Hundekacke in Tüten packen müssen, sondern dass Mutter Natur das schon regelt, im Wald. Die sind so dankbar, die hinterlassen die Ferienzimmer sauberer als bei Ankunft, sage ich Ihnen.
Nur für den Pollmeier, für den war es dann nicht so mega. Der? Der kam aus Westfalen, irgendwo aus dem Münsterland, und hat uns alles abgekauft, was wir nicht brauchten, wollte groß durchstarten mit Ökolandbau, hatte schon einen runtergewirtschafteten Aussiedlerhof in der Nähe übernommen und wollte unser Land dazu. Hatte Agrarwirtschaft studiert, ein richtiger Idealist. Der hat sein blaues Wunder erlebt, allein schon wegen der Bodenqualität … Ist hier ja ganz anders als da, wo er herkam. Mein Vater hat sich ins Fäustchen gelacht, als der Deal perfekt war.
Wann der Pollmeier gekauft hat? Lassen Sie mich überlegen … Ich war gerade aus Amerika zurück. Es muss also mindestens fünf Jahre vor dem Mord gewesen sein. Mama hat sogar geglaubt, dass der Pollmeier was für mich wäre, nach meiner Scheidung. Aber dann war ja schnell klar, dass er eine Freundin hat, die mit in die Eifel zieht. Und dass sie gemeinsame Kinder haben. Ja, Mama war halt immer ein bisschen harmoniesüchtig, sie meinte es wohl nur gut mit mir … und mit sich selbst. Ich glaube, sie wollte, dass ich in der Nähe bin, nur ein paar Kilometer entfernt von ihr. Sie hatte wohl Angst, dass ich es nicht lange mit meinem Vater aushalte und dann wieder weggehe. Dass ich sie mit ihm allein lasse. Aber das hätte ich nie getan. Der Krebs hat sie verändert … Plötzlich war sie … plötzlich war sie eine wirkliche Mutter, die sich für mich interessierte, die fragte, wie es mir geht. Vielleicht wollte sie nur von sich selbst ablenken, keine Ahnung, aber ist das wichtig? Für mich war nur wichtig, dass ich nach all den Jahren doch mit ihr reden konnte und dass sie nicht mehr so vollkommen geistesabwesend war.
Sie hatte anfangs noch die Hoffnung, wieder gesund zu werden. Hat wohl jeder. Sie hat sich durch die Chemo gekämpft, alles ertragen. Ich weiß gar nicht, woher sie so viel Willen nahm zu überleben … nachdem sie doch all die Jahre … Ich bilde mir ein, dass es auch ein bisschen damit zusammenhing, dass ich zurückgekehrt war. Und dass sie merkte, ich kann jetzt verstehen, warum sie mich als Kind so im Stich gelassen hat. Dass ich ihr deswegen nicht mehr böse bin. Nein, mein Vater hat sich abgekapselt, hat es dem Pflegedienst und mir überlassen. Er konnte noch nie was mit Frauenleiden anfangen … Und Brustkrebs, nein, das war für ihn igitt, irgendwie. Aber das war gar nicht schlimm, wir waren ja froh, dass er mit was anderem beschäftigt war und uns in Ruhe ließ, Mama und mich.
Wie es war, als sie gestorben ist? Das … bitte verzeihen Sie … das ist noch immer etwas, das ich mir nicht verzeihe. Ich war nicht da. Nein, sie ist nicht im Krankenhaus gestorben. Als die zweite Chemo keinen Erfolg hatte und sie immer mehr Schmerzen bekam und auf einmal Metastasen in den Lymphknoten hatte, und auch am Hals, sodass sie nicht mehr sprechen konnte … Ich habe nicht gemerkt, dass sie noch Packungen von dem Zeug gehortet hatte, ihre Benzos. Sie hat es geschafft, sie hat es tatsächlich geschafft, die noch zu nehmen. Alle auf einmal. Sie hat nicht mal davon gekotzt … sie war dann einfach weg. Ich hoffe, sie hat nichts gemerkt. … Danke, ich habe selbst ein Taschentuch … Ich habe sie erst am nächsten Morgen gefunden. Und mein Vater, dieser … dieser … er sagte mir, man könne mir einfach nichts anvertrauen, damals mein Bruder, jetzt Mama … und darum solle ich enterbt werden, nur Pflichtteil, mehr nicht. Das war alles, an das er gedacht hat. Und als ob ich schuld daran wäre. Stellen Sie sich das vor! Ich! Dabei hat er sich nie um etwas gekümmert! Er hat einfach nur zugeschaut, wie Mama verreckt ist. Einfach nur zugeschaut! Er hat sehenden Auges hingenommen, dass sie jämmerlich krepiert. Er hat sie nicht ein einziges Mal in den Arm genommen. Oder mit mir geredet. Oder wenigstens mit den Ärzten. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, das war sein Prinzip … diese drei Affen. Aber Affen sind nicht so, wir sind schlimmer als die … viele von uns jedenfalls.
Nein … nein, das war wohl nur eine leere Drohung. Ich habe den Hof geerbt, das wissen Sie doch … Ein Tatmotiv? Halten Sie mich allen Ernstes für so platt, dass ich jemanden umbringe bloß wegen Geld? Und dann auf eine solche Weise? Meinen eigenen Vater? Ja, natürlich, auch der Hass. Es muss Hass dabei gewesen sein. Geldgier und Hass, die Klassiker. Ach, Herr Baltes, so einfach ist die Welt nicht. Doch? Ihre vielleicht, meine nicht. Wissen Sie, wie viel Kraft es kostet, einen Menschen wirklich zu hassen? Sie sind naiv, Sie sind wirklich naiv.
Oh … natürlich, auch Sie kennen Abgründe. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen. Und vielleicht sind wirklich die meisten Taten so simpel gestrickt, ich weiß es nicht. Ich kann Sie verstehen, ich habe kein Alibi, jedenfalls ist mir keines bewusst, und ich habe gleich zwei Motive, die normalerweise ausreichen, um jemanden zu töten. Okay, meinetwegen ist das so, man tötet sogar für weniger als das. Für ein paar Euro sogar, sagen Sie? Das haben Sie im Beruf schon erlebt? Du lieber Himmel … Und ist es dann auch normal, einen Toten so zuzurichten, so wegzuwerfen, in den Müll zu werfen? Aber das bin ich nicht, verstehen Sie? Ich bin das nicht!