Читать книгу Nichts bleibt wie es ist - Angelika Kutsch - Страница 4

II

Оглавление

Gern ging Silke nicht in die Eisenbahnstraße, weil sie sich unbehaglich fühlte in der Wohnung, in der sie aufgewachsen war und die heute so anders aussah als früher.

Nur im ehemaligen Kontor, einer schmalen Kammer, erinnerte die alte Tapete mit den Flecken, wo Kalender, Zahlungsaufforderungen und Erinnerungszettel gehangen hatten, an früher. Da war sogar noch der Fleck zu sehen, wo sich die Mutter immer an die Wand gelehnt hatte, wenn sie den täglichen Ärger mit den Kindern beim Vater loswerden wollte, der bis spät abends an seinem Schreibtisch gesessen und an seinen Schulden herumgerechnet hatte, ohne daß sie weniger wurden.

Gisela hatte die Wohnung übernommen, nachdem die Mutter gestorben war und der Vater eine Stelle beim Straßenbau angenommen hatte. Aber vor einiger Zeit hatte er plötzlich vor der Tür gestanden. Gekündigt. Was blieb Gisela anderes übrig, als ihn in seiner eigenen Wohnung wieder aufzunehmen?

An diesem Abend ging er zum Kegeln, und deshalb hatte Silke zugesagt, allerdings nur unter der Bedingung, daß sie Armin mitbringen durfte.

»Was, bist du immer noch mit dem zusammen?« hatte Gisela zerstreut gesagt. »Na ja, was können wir von dir auch anderes erwarten. Du warst schon immer ausdauernd. Armin – was für ein komischer Name! Seine Eltern hatten wohl eine Vorliebe für die alten Germanen?«

»Na und? Du hast eben eine Vorliebe für die Südländer. Silvio –!«

»Weil ich nie nach Italien gekommen bin«, sagte Gisela. »Irgendwie muß ich mir mein Traumland doch ins Haus holen.« Robert, ihr Mann, wäre ja mit ihr nach Italien gefahren, wenn Silvio nicht dazwischengekommen wäre ...

»Armin ist aus Allenstein«, erklärte Silke. »Weißt du, wo Allenstein liegt? Heute heißt das Olsztyn. Als er geboren wurde, war es schon polnisch. Aber seine Eltern waren Deutsche, Ostpreußen, und sie wollten sich wohl auch etwas Deutsches ins Land holen und nannten ihre Kinder Armin und Siegfried und –«

Daran war Gisela nicht interessiert. »Na, dann trab mal an mit deinem alten Germanen!«

Am Samstagabend standen Gisela und Robert schon ausgehbereit an der Tür, als sie kamen.

»Silvio schläft. Im Kühlschrank steht eine Platte mit Schnittchen. Und trinkt, was da ist.«

Dann schlug die Tür hinter ihnen zu, und Silke und Armin waren allein in der dunklen Höhle des Korridors. Der war früher auch düster gewesen, vollgestellt mit Möbeln. Aber jetzt hatten sie ihn braun gestrichen, und das machte ihn fast gemütlich. Auf Zehenspitzen und in Socken betrat Armin den gelben Teppich im Wohnzimmer, schaute eine Weile umher. Im Gegensatz zu früher war es hell. Gelbe Vorhänge, und die Kiefernmöbel, billig erstanden in einem schwedischen Möbelgeschäft, sahen im gelben Licht auch gelb aus. Der Vater behauptete zwar, sie erinnerten ihn an seine Gemüsekisten, aber bei ihm war man es gewohnt, daß er an allem etwas auszusetzen hatte.

Silke beneidete Gisela um diese Geborgenheit. Wie gern würde sie selbst einen gemütlichen Sessel oder eine hübsche Truhe besitzen. Aber selbst wenn sie genügend Geld hätte, wäre bei der Großmutter kein Platz für neue Möbel. Silke haßte die Plüschgarnituren, den riesigen Wohnzimmertisch mit der ewigen durchsichtigen Plastikdecke über dem geblümten Tischtuch, das irgendeine Vorfahrin bestickt hatte. Sie haßte die Nymphen im wulstigen Goldrahmen überm Doppelbett, und am meisten haßte sie die Nächte in Großmutters Schlafzimmer. Da lagen sie in tiefer Finsternis wie in einem Sarg, denn nichts fürchtete die Großmutter mehr als Zugluft.

Armin ging im Zimmer herum, prüfte, wie weich das Sofa war, fuhr mit den Fingern über die Glaskrüge, die im Regal standen. »Deiner Schwester geht es verdammt gut«, sagte er. »Die braucht sich nicht um die Zukunft zu sorgen. Die braucht nicht mal was zu wollen.«

»Du kennst meine Schwester doch gar nicht!« Silke zündete eine Kerze an und schaltete das Licht aus, damit die perfekte Umgebung ein bißchen verschwand und sie sich dafür näherkamen. »Meine Schwester«, sagte sie, »träumt von Italien –« Aber Armin hörte gar nicht hin. »Vor zwei Jahren wußte ich auch noch, was ich wollte: große Wohnung, ganz neu, fließendes Wasser, warm und kalt, Farbfernseher, Brotröster, Grillapparat, Stereoanlage, jeden Tag Fleisch, Vater sollte ein Auto und Mutter eine elektrische Nähmaschine haben –«

»Ein bißchen von alldem habt ihr doch!«

»Ein bißchen, ein bißchen!« sagte Armin. »Das ist es ja eben. Von diesem und jenem nur ein bißchen. In Polen hatte ich wenigstens einen Freund –«

»Du hast doch mich!«

Er hörte auf herumzutigern und setzte sich zu ihr aufs Sofa. Nahm sie in den Arm. »Natürlich habe ich dich. Aber – verstehst du, manchmal möchte ich einen Freund, nicht irgendeinen. Es muß schon einer wie Antek sein. Und ein Motorrad hatte ich auch in Polen.«

»Als ob die ganze Seligkeit von einem Motorrad abhinge!« So gelassen wie Silke tat, war sie nicht. Armins Motorradträume beunruhigten sie. Neuerdings konnte er kaum noch etwas anderes denken. Es kam ihr so vor, als hätte er seine Träume im Osten gegen diesen neuen Traum im Westen eingetauscht: das Motorrad, das drüben geblieben war. Und der Freund.

Unvermittelt fragte Armin: »Was würdest du tun, wenn du zum nächsten Termin die Kündigung kriegst?«

»Du stellst Fragen!« Silke stöhnte. »Ich habe die neue Stelle ja noch nicht einmal ausprobiert.«

»Man kann doch mal fragen«, sagte Armin. »Andere stellen sich ein besseres Leben vor, das sie nie erreichen. Ich denk lieber gleich dran, wie es wirklich sein könnte. Und daß du arbeitslos wirst, ist ja wohl eher möglich, als daß wir reich werden.«

»Wie du meinst«, sagte Silke ergeben. »Vermutlich bliebe uns nichts anderes übrig, als Bauern zu werden, uns von dem zu ernähren, was wir mit unserer Hände Arbeit schaffen.« Sie kicherte über ihre hochtrabenden Worte. »Das wäre vielleicht die Lösung. Du hast Erfahrung, und ich habe als Kind immer Bohnenkeimlinge in einem Blumentopf auf der Fensterbank gezogen. Es machte mir Spaß, etwas wachsen zu sehen. Eigentlich möchte ich nicht nur einen Teil meiner Arbeit sehen, sondern das Ganze von Anfang bis Ende. Und dann möchte ich sagen können: Das habe ich gemacht.«

Armin brach in lautes Lachen aus. »Hast du die Ferkelchen gemacht?« fragte er, nach Luft schnappend. »Hast du das Korn wachsen lassen?« Er drückte sie an sich. »Schön wäre es. Aber nicht hier. Manchmal wünschte ich – du und ich und zu Hause –«

»Zu Hause wo?« fragte Silke schnell.

»Ich weiß ja, daß es verrückt ist.« Armin seufzte. Er goß Wein in die Gläser, die Gisela bereitgestellt hatte. Der Wein schimmerte vor der gelben Kerzenflamme. »Wenn ich Arbeit hätte, könnten wir heiraten. Vielleicht, wenn wir ein Kind hätten und ein Gärtchen ... vielleicht würde ich mich hier mehr zu Hause fühlen und nicht mehr an Antek und an das Motorrad denken.«

Sie stießen mit den Gläsern an. Sie tranken. Silke kuschelte ihren Kopf an seine Schulter und blinzelte in die Flamme. In dieser warmen gelben Dämmerung könnte man für eine Weile schon alle Sorgen vergessen. Sie küßten sich.

Plötzlich wurde es ganz hell im Zimmer. Sie hatten niemanden kommen gehört. In der Tür stand Herr Kapsreiter, leicht schwankend, und starrte sie mit offenem Mund an. Sein Blick war farblos, als hätte der Alkohol seine Augenfarbe verwässert.

Silke verfiel sofort in die Rolle der Großmutter. »War’s schön?« fragte sie mechanisch. »Du kommst früh!«

Herr Kapsreiter zerrte sich die ohnehin schon halbgelöste Krawatte vom Hals und hängte sie über den Türgriff. Er schaute zur Flasche. »Was trinkt ihr denn da?«

Armin hielt ihm wortlos das Weinetikett hin.

Herr Kapsreiter schüttelte sich und holte eine Bierflasche aus dem Kühlschrank. »Ihr sitzt da wie die Ölgötzen«, sagte er, als er zurückkam. »Habe ich euch gestört?«

Silke hatte sich endlich von der Überraschung erholt. Sie stellte die beiden einander vor.

»Armin!« wiederholte Herr Kapsreiter und musterte ihn. »Hab ich schon mal gehört. Was treibst du denn so?« Wenn er betrunken war, duzte er alle Leute.

Armin erzählte ihm in dürren Worten, wie es war.

»Arbeitslos! Dann können wir uns ja die Hand geben«, sagte Herr Kapsreiter. »Wenn ich noch so jung wäre wie du –!«

»Was würdest du dann tun?« fragte Silke.

»Als ich so alt war wie er«, sagte Herr Kapsreiter, »war Krieg. Mich haben sie auch noch eingezogen.«

Die Geschichten kannte Silke zur Genüge. »Ich möchte wissen, was du tun würdest, wenn du jetzt jung wärst!« sagte sie ungeduldig.

Herr Kapsreiter drehte die Bierflasche zwischen den Händen und starrte vor sich hin. »Mein Vater«, sagte er, »hat Ähnliches erlebt. Krisen, Arbeitslosigkeit ... Er hat mir oft davon erzählt. Aber heute ist es unheimlicher, schleichender. Damals ging’s deinem Nachbarn genauso dreckig wie dir. Aber heute bist du plötzlich draußen, wenn es dich erwischt hat, und wenn du dich beklagst, dann heißt es, was willst du denn, dir geht’s doch blendend. Du kriegst ein Bombengeld fürs Nichtstun. Mann, in deiner Haut möcht ich stecken – das hat eben noch einer zu mir gesagt, und ich hätt ihm am liebsten eine reingehauen.«

Herr Kapsreiter erhob sich schwankend. »Am liebsten eine reingehauen«, wiederholte er. Und ging. Er mußte ziemlich viel getrunken haben, denn sonst sagte er kaum zwei vollständige Sätze hintereinander.

Sie warteten, bis er sich ausrumort hatte in der Wohnung. Silke ging noch einmal nach Silvio schauen, der fest und rotbackig in seinem Gitterbett schlief. Dann blies sie die Kerzen aus.

Später in der Nacht schreckten Gisela und Robert sie auf aus der schlafwarmen Geborgenheit. Sie mußten hinaus in die Kälte.

Es war eine sternklare kalte Nacht, in der sie ihren Atem wie festgewachsene weiße Wolken vor sich hertrugen. Aus den Augenwinkeln sah Silke an der dunklen Hausfront empor. Oben im Kinderzimmer leuchtete es gedämpft.

Noch nie hatte sie sich so »draußen« gefühlt.

Nichts bleibt wie es ist

Подняться наверх