Читать книгу Nichts bleibt wie es ist - Angelika Kutsch - Страница 6

IV

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Das nächste Fest wurde bei Czaczeckes gefeiert.

»Nicht so ein Fest wie Omas Fünfundsiebzigster«, versprach Armin, »wo alle nach der Pfeife deines großkotzigen Onkels tanzen müssen. Ein richtiges Fest, verstehst du? Es gibt Gänsebraten und Weißsauer und Mohnkuchen und viel, viel Bärenfang.«

Eins unterschied das Fest von vornherein von » Omas Fünfundsiebzigstem«: Es war ganz selbstverständlich, daß Silke auch kam. Sie hatte ein Recht darauf, denn sie gehörte sozusagen zur Familie.

Sie fuhr schon vormittags zu ihnen, um in der Küche zu helfen. Teig war zu rühren, Berge von Kartoffeln waren zu schälen, und beim Zwiebelschneiden flössen Tränen.

Der Kühlschrank ließ sich kaum noch schließen, so vollgestopft war er mit Wurst und Butter und Sahnetöpfen. Bier- und Schnapsflaschen standen im kalten Wasser in der Badewanne, und im Korridor konnte man nur seitwärts an den riesigen Backblechen vorbeigehen, die auf der Kommode standen. Unter karierten Küchentüchern duftete es verlockend nach Hefekuchen.

Grund zum Feiern hatten sie allemal: Die letzten Verwandten von »drüben« waren herausgekommen. Wenn sie es sagten, klang es, als seien sie einer großen Gefahr entronnen.

Als die Verwandten kamen, gab es Tränen, Umarmungen und Küsse. Immer wieder fielen sie sich um den Hals. Auch Silke bekam etwas davon ab. In dieser Familie nahm man sich häufig in die Arme. Der Mund stand ihnen keine Sekunde still. Da soll noch einer behaupten, die Ostpreußen seien dickschädlige Schweiger!

Nachdem sich der Begrüßungssturm gelegt hatte, führten Czaczeckes stolz ihren Besitz vor. Armins jüngste Schwester Renate streckte den Po heraus, um das Markenzeichen auf ihren Jeans zu zeigen, und Helga schleppte ein Transistorgerät mit sich herum, dessen Plärren alles übertönte, so daß die Familie noch lauter reden mußte, als sie es ohnehin schon tat.

Frau Czaczeckes ließ sich nicht davon abhalten, in dem ganzen Durcheinander von Mänteln, Schüsseln und Kuchen die elektrische Nähmaschine vom Kleiderschrank zu holen und eine Zickzacknaht vorzunähen. Und ihr Mann sagte mehrmals, der Fernseher hier sei viel billiger als ihr alter in Polen. Und sicher würde er länger halten.

Die Reden bei Tisch verstand Silke nicht alle. Die Neuen hatten noch nicht ganz abgeschlossen mit ihrer Vergangenheit, die ja erst kürzlich zu Ende gegangen war, und die anderen fielen nur zu gern in die vertraute Sprache.

»Wasserpolnisch«, flüsterte Armin Silke zu. »Einem Polen dreht sich beim Zuhören der Magen um.«

Silke löffelte die fette Hühnerbrühe und betrachtete die Gesichter. Die, die schon länger im Westen waren, unterschieden sich von den Neuankömmlingen durch ihre Blässe. Im Essen und Trinken stand keiner dem anderen nach. Silke mußte beim Nachtisch passen. Er war die Krönung des Tages: Blaubeeren aus Ostpreußen, die den Transport gut überstanden hatten, eigens eingepackt für diesen großen Tag, an dem sie alle wieder vereint waren.

Alle, das stimmte nicht ganz. Silke entnahm den Gesprächsfetzen, daß ein alter Onkel drüben geblieben war.

»Einen alten Baum verpflanzt man nicht«, hatte er gesagt und sich geweigert, die Papiere zu unterschreiben, die ihm sein Neffe vorbereitet hatte.

Sein Neffe, das war Onkel Fritz, der jetzt hier war mit seiner Familie.

»Was will er noch da?« ereiferte sich Onkel Fritz mit Blaubeerlippen. »Ich verstehe nicht, was ihn dort hält. Er ist der letzte Deutsche im Dorf. Alt ist er auch. Seine Wirtschaft wird er aufgeben müssen, weil er die Arbeit ohne mich nicht schafft. Er wird sie dem Staat überschreiben müssen. Ob ihm das nicht in der Seele wehtut, habe ich ihn gefragt.«

»Und was hat er gesagt?« wollte Herr Czaczeckes wissen.

»Der Alte wurde sentimental. Ihm hat schon viel wehgetan, hat er gesagt, also wird er das auch noch überleben.«

»Laßt ihn doch«, sagte Frau Czaczeckes. »Er ist da geboren, aufgewachsen, alt geworden. Und dort liegt seine Frau auf dem Friedhof begraben.«

Ihr Mann schüttelte heftig den Kopf. »Was hat ein Lebender von Gräbern? Hier ginge es ihm gut auf seine alten Tage, und für sein krankes Bein bekäme er ohne Mühe die richtige Medizin.«

Armin unterbrach ihn heftig. Silke verstand nicht gleich, worum es ging. Immer wieder fiel ein Name, der wie »Goscha« klang. Die anderen wollten offenbar nicht darüber reden. Das geht uns nichts mehr an. Die Brücken sind abgebrochen. Mochte er zusehen, wie er mit seiner Goscha, seinem kranken Bein und der ganzen polnischen Wirtschaft fertig wurde, der alte Starrkopf.

»Wer ist denn Goscha?« fragte Silke leise.

»Meine Verwandten hier reden immer nur von der Polacka«, erklärte Armin ebenso leise. An seinem Ton merkte sie, daß er die Meinung nicht mit ihnen teilte. Laut sagte er: »Ich weiß gar nicht, was ihr euch darauf einbildet, hier zu sein. Es ist kein Kunststück, drüben alles aufzugeben und abzuhauen. Aber hier zu leben, sich durchzusetzen –«

»Miesmacher! Quertreiber! Hat wohl zuviel Bärenfang getrunken, der Junge«, schimpften die Verwandten.

»Es soll Leute geben«, fuhr Armin hartnäckig fort, »die gehen sogar zurück von hier nach da, von Westen nach Osten.«

Die Stimmen wurden lauter. Östliche Propaganda. Nur ein Gerücht. Wer beweist uns das? Umfaller sind das! Da kommt’s raus, daß sie nicht echt waren, verkappte Polen, die dachten, im Westen leichtes Geld zu verdienen. Aber wenn sie merken, daß ihnen hier keine gebratenen Tauben in den Mund fliegen, dann ziehen sie Leine. So ist das doch.

»Ich könnte es mir vorstellen«, sagte Armin, und alle verstummten, starrten ihn nur an. »Mal angenommen«, fuhr er fort, und dann malte er den Neuankömmlingen aus, was ihnen alles passieren könnte, genau das, was ihm auch passiert war: wegen seiner Sprache ausgelacht, geschnitten, der Polack zu sein, die Arbeit verlieren, keine Wohnung finden, von Freunden ganz zu schweigen. Aber er sagte nicht, daß er von sich selbst erzählte. Das wußte außer Silke wohl niemand. Nicht einmal seine Eltern wußten alles.

»Ich könnte es mir vorstellen, daß einer, der das durchmacht, zurückgeht.«

»Kann ja alles sein«, sagte Onkel Fritz, »muß aber nicht sein. Euch geht’s doch auch gut, Wohnung, Freunde –« Sein Blick streifte Silke. »Warum soll’s uns nicht auch bald gutgehen? Wir können arbeiten!« Er zeigte seine Muskeln. »Und wir wollen arbeiten!«

Geschirrabtrocknen war wohl keine Arbeit für ihn. Er machte sich über Armin lustig, der sich als einziges männliches Wesen der Familie dazu bewegen ließ, ein Geschirrtuch in die Hand zu nehmen.

Für Silke blieb kein Handtuch übrig. Stumm räumte sie das abgetrocknete Geschirr in die Schränke, in denen sie sich schon ein bißchen auskannte. Mitreden konnte sie nicht. Da fielen Namen, die sie noch nie gehört hatte. Czaczeckes wollten ganz genau wissen, was aus dem geworden war und aus dem...

Armin interessierte sich für ein Mädchen, das Aniela hieß. Er interessierte sich zwar auch für Antek, aber den Namen Aniela merkte sie sich besonders.

»Aniela war seine erste Liebe«, erzählte Renate. »Das fing in dem Jahr an, als er dauernd versuchte, sich zu rasieren. Aber es war noch nichts mit dem Bart.«

»Und nichts mit der Liebe!« ergänzte Helga. »Aniela ging aufs Gymnasium in Allenstein und hatte was anderes im Kopf als einen Jungen, der nach Schweinestall roch.«

»Das hätte mir noch gefehlt«, sagte Frau Czaczeckes. »Mein Sohn verliebt sich doch nicht in eine Polacka! Was meint ihr, warum wir euch rübergebracht haben? Unsere Kinder sollen mal Deutsche heiraten!«

Silke beobachtete Armin, wie er einen Teller nach dem anderen trockenrieb, grimmig und scheinbar unbeteiligt, als wolle er beweisen, daß ein Mann ordentliche Arbeit leistet, ganz gleich, was er macht.

Nach der Arbeit wollten sie Musik. Jemand zerrte das Akkordeon vom Kleiderschrank und hängte es Armin um den Hals. »Er hat früher so schön spielen können«, sagte seine Mutter. »Aber jetzt hat er es ganz aufgegeben.«

Das merkte man bei den ersten Tönen. Er lächelte verlegen und suchte eine neue Fingerhaltung, rutschte auf dem Stuhl herum, sah Silke hilfesuchend an. Aber diesmal konnte sie ihm nicht helfen, und es kam auch gar nicht darauf an, wie er spielte. Die anderen sangen viel zu laut. Sie sangen Lieder, die Silke nicht kannte, deren Texte sie nicht verstand. Frau Czaczeckes wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, was sie aber nicht hinderte weiterzusingen.

Mit einem langen Seufzer ließ Armin das Akkordeon verstummen. »Ich weiß nichts mehr«, sagte er.

»Noch mal von vorn!« riefen sie im Chor.

Sie sangen noch viele Male von vorn, bis ein Nachbar an der Tür klingelte und fragte, ob sie »nicht mal eine andere Platte auflegen könnten«.

»So sind sie hier«, sagte Armin. »Maul halten, keine Fahrräder im Flur abstellen, der Rasen zwischen den Wäschestangen ist nicht zu betreten, und nicht mal singen darf man.«

Onkel Fritz hatte Fotos mitgebracht, bessere, schärfere als jene, die Frau Czaczeckes einmal Silke gezeigt hatte, aber auch fremder, denn Armin war nirgends drauf.

Frau Czaczeckes sah sie lange an, schien jeden Ziegel auf dem Dach zu zählen. »Schön war es doch«, sagte sie leise, »wenn man es mitnehmen könnte, hierher.«

»Was zum Beispiel?« fragte Silke.

Da fielen sie sich gegenseitig ins Wort. Der eine möchte den See mitnehmen, der wenige Schritte von seinem Hof entfernt lag, der andere den Blaubeerwald, der nächste nur die Linde vor seinem Küchenfenster, den Poplotkowatsch nicht zu vergessen. »Den Pop- was?« fragte Silke, und alle lachten. Das konnte sie natürlich nicht wissen. Den kleinen Schwatz über den Zaun mit dem Nachbarn, abends oder an einem Sonntagvormittag.

»Aber die Nachbarn sind doch alle Polen, von denen Sie so unbedingt wegwollten?«

»Na egal«, sagte Onkel Fritz und steckte die Fotos zurück in die Tüte. »Jetzt sind wir hier. Man kann nicht alles haben, und vielleicht kommt hier auch mal ein strenger Winter, und das war es ja gar nicht allein. Man kann es nicht erklären.«

Dann wurde nicht mehr über die alte Heimat gesprochen.

Armin war ein bißchen beschwipst von dem Bärenfang, den seine Mutter selbst gemacht hatte, als er Silke zur Straßenbahnhaltestelle brachte. Es war ein milder Abend, und es war schön, einmal nicht zu frieren.

»Erzähl mir was von dieser Goscha«, sagte Silke.

»Ich liebe Goscha!« sagte er albern und breitete die Arme aus. »Sie ist warm wie ein Backofen und runzlig wie ein Bratapfel. Wenn sie nicht vierzig Jahre älter wäre als ich, hätte ich sie geheiratet, weil sie so guten Hefekuchen backen kann.«

»Und da hat sie dir der alte Onkel weggeschnappt?« fragte Silke lachend.

Armin wurde ernst. »Mit Schnappen war da wohl nichts. Er war schon in den Fünfzigern, als seine Frau starb. Und weil nur Goscha da war, hat er Goscha genommen.«

»Aber deine Verwandtschaft?«

»War eben nicht da. Als es passiert war, reagierten sie sauer. Eine Polacka ist gegen ihre Famlienehre.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Hast du eigentlich Heimweh?« fragte Silke. »Manchmal?«

»Das ist doch kein Heimweh, wenn man wissen möchte, was aus den Leuten geworden ist, die man gekannt hat, und wie es jetzt dort aussieht«, antwortete er etwas zu heftig.

»Aber du hast ja die Fotos gesehen. Jetzt weißt du, wie es aussieht. In Wirklichkeit wolltest du wohl wissen, wie Aniela jetzt aussieht. Die war nicht drauf auf den Fotos«, fügte Silke unnötig anzüglich hinzu.

»Und ich will wissen, wie Aniela aussieht«, bestätigte Armin, um sie zu ärgern.

»Ich möchte auch wissen, wie sie aussieht.«

»Fahren wir hin und schauen sie uns an. Abgemacht?« Armin streckte ihr die Hand hin, und weil Silke sie nicht nahm, legte er ihr den Arm im Weitergehen um die Schultern.

»Als wir das erste Mal miteinander redeten, wolltest du schon mit mir verreisen«, sagte Silke. »Bist du immer so ein Draufgänger? Hast du Aniela vielleicht auch eine Reise versprochen?«

»Jetzt hör mit Aniela auf.« Armin nahm seinen Arm fort. »Laß uns über die Reise reden. Andere fahren nach Italien und Spanien. Wir fahren nach Polen. Warum eigentlich nicht?«

»Wollten wir nicht auch nach Italien und Spanien? Aber wir kommen nirgends hin, wir haben ja nicht genug Geld«, sagte Silke.

»In Polen wohnen wir umsonst!« Armin wurde eifrig. »Bei meinem Onkel.«

»Es kostet trotzdem einen Haufen Geld, die Fahrt, und dann der Zwangsumtausch.«

»Wir melden eine Campingreise an, dann brauchen wir nur dreizehn Mark pro Tag zu zahlen. Das können wir uns leisten.« »Du tust, als hättest du die Fahrkarte schon in der Tasche!« »Vielleicht brauchen wir keine Fahrkarte.«

Eine Straßenbahn hatten sie schon vorbeifahren lassen. Jetzt kreischte die nächste in der Kurve. Silke umarmte Armin. »Nein, wahrscheinlich brauchen wir keine Fahrkarte, weil wir nämlich gar nicht fahren. Aber ein bißchen spinnen ist schön.«

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