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III

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Im April wurde die Großmutter fünfundsiebzig. Es kamen Blumentöpfe von den Nachbarn mit vergoldeten, verschnörkelten Ziffern, und abends gingen sie »ganz groß« aus. Onkel Sepp bestand darauf, italienisch essen zu gehen, obwohl die Großmutter viel lieber Bratkartoffeln und Milchsuppe an ihrem wachstuchbedeckten Küchentisch aß.

Sie trug das schwarze Kleid, das sie zuletzt zur Beerdigung von Frau Kapsreiter getragen hatte. Unglücklich saß sie auf der schmalen und harten Bank, die für kleine Italiener geeignet sein mochte, nicht aber für die fast eineinhalb Zentner der Großmutter.

Herr Kapsreiter mußte statt Bier Wein trinken, und Dagmar, die Jüngste, die bei Onkel Sepp und Tante Gertrud lebte, hatte eine Verabredung mit ihrer besten Freundin absagen müssen. Gisela und Robert saßen wie auf Kohlen, weil sie ihren Sohn einem Babysitter überlassen mußten, zu dem sie kein Vertrauen hatten, und eigentlich war nur Onkel Sepp geburtstagsheiter. Er hatte gerade einen »ganz dicken Fisch« an Land gezogen und sah die Zukunft in rosigstem Licht.

Die Gesichter färbten sich zwar rosig vom Wein, aber sonst blieb die Stimmung gedrückt. Unlustig stocherte die Großmutter in der Lasagne herum. Herr Kapsreiter verzog bei jedem Schluck Wein das Gesicht, und als er endlich in Stimmung kam und in »Hoch soll sie leben« ausbrach, traten sie ihm von allen Seiten auf die Füße.

»Geburtstagsfeste sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren«, murmelte er.

Onkel Sepp war großzügig an diesem Abend. Dagmar bekam ein Eis mit heißen Himbeeren, Tante Gertrud und Gisela teilten sich eine Weincreme, und für die Männer ließ er noch einen Birnenschnaps kommen.

Silke wollte nichts.

»Du wirst genau wie deine Großmutter«, sagte Onkel Sepp. »Nur nichts probieren, was du nicht kennst. Du wirst auch einmal zu denen gehören, die nicht ins Ausland fahren, weil die Würstchen da anders schmecken als du es gewohnt bist.«

Silke lächelte. Heute konnte er ruhig auf ihr herumhacken. Sie hatte die erste Woche im neuen Zimmer hinter sich, und sie hatte ein gutes Gefühl. Das war auch ein Grund zum Feiern. Onkel Sepp würde sie von ihrer Beförderung erst erzählen, wenn sie ganz sicher war.

Sie schwieg und ließ die Tür nicht aus den Augen. Die Gänge zwischen den gelben Lichtinseln waren in Dunkelheit getaucht, aus der nur hin und wieder die weißen Hemden der Ober blitzten. Trotzdem hoffte sie, Armin sofort daran zu erkennen, wie er die Tür öffnete. Sie wußte, wie er ein fremdes Lokal betrat, daß er erst einmal vorstürmte, dann stehenblieb, die Schultern zusammenzog, als hätte er Angst vor seinem eigenen Mut bekommen.

Wenn er kam. Das war noch nicht sicher. Von seinem Erscheinen hing alles ab, dieser Abend, ihre ganze Zukunft. Denn er wollte nur kommen, hatte er gesagt, wenn es heute klappte mit der Stelle, die man ihm vom Arbeitsamt zugewiesen hatte.

Wenn es nur klappte!

Die anderen wußten von nichts. Geburtstagsfeier ganz unter uns, hatte Onkel Sepp bestimmt.

»Was dir deine Großmutter erlaubt, ist mir egal, heute mußt du dich mal nach mir richten!« Schließlich zahlte er ja auch.

»Daß du immer noch mit diesem Polack herumziehst«, hatte er gesagt. »Als gäb’s nicht genug tüchtige Burschen bei uns.«

»Armin ist kein Polack«, hatte Silke widersprochen.

»Nein, nein, er ist Aussiedler. Er ist ›heim ins Reich‹ gekommen und spricht bloß noch ein bißchen Polnisch.« So war Onkel Sepp.

Seitdem Silke als Lieblingsnichte total versagt hatte – sie wurde nicht das hübsche Mädchen, wie er erwartet hatte, sie war so passiv und ohne Phantasie, sie lehnte es ab, nach Frankreich zu reisen, als er es ihr ermöglichen wollte, und sie wurde nicht einmal Vorzimmerdame bei einem seiner Geschäftsfreunde –, hatte sein Interesse an ihr nachgelassen. Jetzt setzte er auf Dagmar. Dafür würde er sorgen, daß sie nicht vorzeitig vom Gymnasium abging, so wie Silke die Lehre beim Vater abgebrochen hatte. Er würde darauf achten, daß sie an die richtigen Freunde geriet, nicht an Türken, Itacker oder Polacken ...

Als erstes sah sie einen riesigen Busch Japanischer Kirschblüten, der sich sanft schimmernd in die Dämmerung des Lokales vorschob, langsam, dann stockte er. Ein Ober stellte sich ihm in den Weg. Kurze Diskussion, dann schälte sich ein weißer Hemdkragen aus dem Mantel. Armin hatte sich in Schale geworfen.

Er hatte es geschafft! Am liebsten wäre sie ihm entgegengelaufen und um den Hals gefallen.

Sein breites Lächeln verschwand in den Japanischen Kirschblüten, als er sich vor der Großmutter verbeugte, und auch sein gemurmelter Glückwunsch ging in den Blumen unter.

»Hoffentlich hast du sie nicht in den Schrebergärten geklaut?« flüsterte Silke.

Die Großmutter wußte gar nicht, was sie sagen sollte vor Freude und Verlegenheit. Die Überraschung teilten alle mit ihr. Sie mußten ein bißchen zusammenrücken auf der schmalen Bank, damit Armin auch noch Platz fand.

»Was zu trinken?« fragte Onkel Sepp. Ob Armin hungrig war, fragte er lieber nicht. Er setzte wohl voraus, daß der Anblick der leergegessenen Teller, die Peperonischwänze und verkohlten Pizzaränder Armin den Appetit verschlagen müßten.

Armin bestellte ein Bier, und Onkel Sepp verzog das Gesicht wie sonst nur Herr Kapsreiter, wenn er Wein trinken mußte. Das Bier kam, Armin trank, stöhnte vor Behagen und tauchte mit einem weißen Schaumbart wieder aus dem Glas auf.

»Prost, Großmutter!« sagte Armin und hob sein Glas ein zweites Mal. Die Großmutter stieß mit ihrem leeren Wasserglas an sein Bierglas. Silke hielt rasch ihr Weinglas dazwischen, und Dagmar wollte unbedingt wissen, wie es klingt, wenn man mit einem Colaglas an ein Bierglas stößt, und bald stießen alle mit den Gläsern an, reihum und kreuz und quer. Klingen, Lachen, aber dann war es wieder still.

»Und Sie, junger Mann, was machen Sie so?« wandte Onkel Sepp sich an Armin.

Silke wußte, daß sie vor der Antwort keine Angst mehr zu haben brauchte. Sie strahlte schon, ehe er es ausgesprochen hatte, und er sagte es mit erstaunlicher Gelassenheit, als mache er das schon seit Jahr und Tag: »Tankwart.«

Onkel Sepp zog die Stirn kraus. »Dazu braucht man wohl keine Ausbildung?«

»Armin hat in Polen eine Lehre als Automechaniker angefangen«, redete Silke dazwischen. »Wenn er noch dort wäre, würde er viel Geld verdienen.«

»Das ist sicher kein Kunststück in einem Land, das so schlechte Autos produziert, daß sie alle naselang in die Werkstatt müssen.« Onkel Sepp lachte dröhnend. Er lachte allein.

»Josef!« sagte Tante Gertrud und stieß ihm ihren spitzen Ellenbogen in die Seite.

»Wenn’s doch stimmt! Einer meiner Vertreter war kürzlich drüben. Der ist da irgendwo bei den Kaschuben geboren, und weil er ein sentimentaler Hund ist, mußte er wieder hin. Der hat Schauergeschichten erzählt, als er wiederkam. Das kann ich euch sagen!«

»Schauermärchen«, verbesserte Armin.

»Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie alle paar Kilometer ein kaputter Lastwagen an der Straße stand, und die Reifen abgefahren – blank wie ein Gummiball! Das ist ja lebensgefährlich. Und montags fleischloser Tag. Also, wenn ich mir das bei uns vorstelle, montags gäb’s nur Eierspeisen ... So dreckig ging’s uns ja nicht mal im Krieg.«

»Josef!« sagte Tante Gertrud.

»Und warum gibt es einen fleischlosen Tag?« fragte Armin.

»Weil die nicht wirtschaften können. Kassieren Deutschlands Kornkammern und schieben trotzdem Kohldampf!«

»Niemand hungert in Polen«, sagte Armin scharf. »Und den fleischlosen Tag mußten sie einführen, weil die im Westen ihnen das Fleisch wegfressen. Sie müssen es verkaufen, weil sie die hochwertigen Maschinen aus dem Westen brauchen. Um sie kaufen zu können, brauchen sie harte Devisen, und deswegen geht viel Fleisch in den Westen. Und natürlich nach Rußland. Aber das ist noch eine andere Geschichte.«

Armin trank einen großen Schluck nach der langen Rede. Bei jedem Satz war sein Tonfall mehr in den polnischen Singsang verfallen. Silke überlegte krampfhaft, was sie zur Entspannung der Atmosphäre einwerfen könnte. Ihr fiel nichts ein.

Aber Onkel Sepp hielt sich an das Motto »Der Klügere gibt nach«. »Laß gut sein, Junge«, sagte er gönnerhaft, »wir leben in zwei verschiedenen Welten. Aber meinst du nicht, daß es an der Zeit ist zu akzeptieren, daß du jetzt im Westen lebst und nicht mehr auf der anderen Seite?«

»Habt ihr Brüderschaft getrunken?« fragte Gisela erstaunt. »Das habe ich ja gar nicht mitgekriegt. Also Prost, Armin, ich heiße Gisela!«

Niemand sonst trank Brüderschaft mit ihm, und Onkel Sepp sagte für den Rest des Abends wieder »Sie«.

Es war nicht mehr viel übrig vom Abend. Die Großmutter hatte schon ganz kleine Augen, und Robert redete dauernd davon, daß er morgen früh aufstehen müsse.

Nachdem Onkel Sepp gezahlt hatte und alle in ihre Mäntel gefunden hatten, standen sie noch einen Augenblick wie ein Häuflein Verlorener vor dem Lokal herum, als könnten sie sich nicht trennen, in der Mitte die Großmutter mit ihrem Blumenbusch, die anderen um sie herum. Wer die Szene von ferne sah, mochte glauben, hier sei ein besonders schönes Familienfest zu Ende gegangen.

Silke konnte es gar nicht erwarten, mit Armin allein zu sein, um mehr von dem großen Glück zu erfahren. Aber er war einsilbig.

»Leute wie dein Onkel –« sagte er.

»Leute wie mein Onkel brauchen dich ab heute nicht mehr zu kümmern! Jetzt erzähl schon, von Anfang an, du kamst rein und dann?«

Armin mußte lachen und erzählte. Am ersten Mai fing er bei der Freien Tankstelle draußen am Autobahnzubringer an.

»Da ist was los«, sagte er, »da rauscht es Tag und Nacht vorbei. Da klingelt die Kasse. Der Job ist ausbaufähig. Wenn es gut läuft, steige ich vielleicht mal ein. Jetzt können sie dir sogar kündigen.«

Nichts bleibt wie es ist

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