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Wie alles begann

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Der silbergraue Kater lief interessiert im Gehege am Außenzaun entlang und wir waren sofort von ihm angetan. Er schien uns auch zu mögen und unsere zwei Kinder waren natürlich hellauf begeistert. Leider war das Tierheim zu diesem Zeitpunkt noch nicht für Besucher geöffnet und bis zur regulären Besuchszeit vergingen noch einige Stunden. Wir nutzten die Zeit und besorgten uns schon einmal das, was man als verantwortungsbewusste Katzenbesitzer unbedingt haben sollte: eine Transportbox. Als es dann endlich soweit war und die Pforte des Tierheimes geöffnet wurde, hatten wir allerdings das komplette Einsteigersortiment für Katzen im Kofferraum. Die Vorfreude war riesig und die Angst, dass es mit dem kleinen grauen Kater nicht klappen könnte, war groß.

Die damalige Tierheimleiterin hatte wohl keinen allzu schlechten Eindruck von unserer jungen Familie und gab uns das „Wunschkind“ mit nach Hause. Als kleines Dankeschön unsererseits wurden wir spontan Mitglied in dem hiesigen Tierschutzverein und unterschrieben noch an Ort und Stelle den Aufnahmeantrag. Somit waren wir also förderndes Mitglied ohne jede weitere aktive Verpflichtung! Praktisch, sollten sich doch andere um die großen und kleinen Probleme des Tierschutzes kümmern. Wir hatten ja schließlich ein armes Kätzchen zu uns genommen, und das war doch auch schon etwas.

Unsere Familie bestand nun aus uns Vieren, einem Hund und jetzt noch „Silver“. So hatten wir unser neues Familienmitglied genannt. Er lebte sich sehr schnell bei uns ein und Hund und Kater vertrugen sich gut. Alle waren glücklich und zufrieden, genossen das harmonische Zusammenleben und dachten, wir seien nun komplett.

Aber, total begeistert von Hund und Katze im neuen Zuhause – wir waren erst kürzlich an den Bodensee gezogen – holten wir unserem ersten Hund einen Spielkameraden. Wir hatten sehr viel Spaß mit den zwei Windhunden, besuchten jedes Wochenende die Windhund-Rennbahn, die nur 10 km von unserer Wohnung entfernt war und erkundeten mit unseren zwei kleinen Buben und den Afghanen die Gegend im Alpenvorland. Ausgedehnte Wanderungen wurden im Allgäu und auf der Schwäbischen Alb unternommen und immer waren unsere Hunde mit von der Partie.

Es war eine gute Entscheidung gewesen von Rheinland-Pfalz in das südliche Baden-Württemberg zu ziehen. Auch wenn es damals beruflich bedingt gewesen war, die schöne Landschaft hatte uns die Wahl nicht schwer gemacht und so wollten wir möglichst viel von der wunderbaren Gegend erkunden.

Schon oft liebäugelten wir mit einem Wohnmobil. Ein großes musste es schon sein bei vier Personen und zwei Hunden. Eines Tages sah ich einen älteren amerikanischen Ford zum Kauf irgendwo am Stadtrand stehen und machte ihn meinem Mann die Nase lang. Ohne Probefahrt und voller Begeisterung ließen wir uns auf das Abenteuer ein. Wir wollten unsere Reiseziele endlich angehen und jetzt konnte uns nichts mehr davon zurückhalten. Oder doch?

Ein Brief flatterte ins Haus: „Einladung zur außerordentlichen Mitgliederversammlung des Tierschutzvereines. Liebes Mitglied …“. Da muss mein Mann doch hin. Mal sehen, was da so läuft oder auch nicht läuft. Schon in früheren Jahren sehr engagiert im Vereinsleben, nahm mein geliebter Mann als „Neuzugang“ die Sache sehr ernst. Er nahm an der sehr emotional geführten Versammlung teil und nach ein, zwei Wortmeldungen seinerseits ging er als Beisitzer des neugewählten Vorstandes nach Hause. Na ja, Beisitzer, dachte ich noch so naiv, das geht ja noch. So oft werden sie ihn nicht brauchen. Aber auch jetzt kam mal wieder alles anders als erwartet.

Der krisengeschüttelte Verein kam auch mit dem neugewählten Vorsitzenden nicht zur Ruhe und noch bevor ein weiteres Jahr vergangen war, standen erneut Wahlen an. Mein tierlieber, vereinserprobter Ehemann will nun die Rettung des Tierheimes übernehmen. Er verspricht in einer programmatischen Rede einen neuen Aufschwung, hängt sich mit all seiner Kraft hinein und tatsächlich geht es kontinuierlich aufwärts. Die finanziellen Probleme werden als erstes in Angriff genommen, Verhandlungen mit der Stadt geführt, Mitglieder geworben und um Spenden gebeten. Die Folgezeit war durch rege Pressearbeit und handfeste Maßnahmen im Tierheim selbst gekennzeichnet.

Ich bekomme meinen Mann immer seltener zu Gesicht. Schließlich war er ja in erster Linie berufstätig, ging morgens früh aus dem Haus und nach Feierabend kam dann der Einsatz im Tierheim. Und das kostete enorm viel Zeit. Jede freie Minute, natürlich auch an den Wochenenden, zog es ihn in das 20 km entfernte Tierasyl und zurück blieben die Kinder und ich. Die beiden Jungs sahen ihren Vater kaum noch, denn er wurde ja im Tierheim gebraucht. Der Neubau war noch immer nicht ganz fertiggestellt, Zwingerwände mussten eingezogen werden und auch das Katzengehege war noch unvollendet. Die Außenanlage eine Wildnis, auch sie rief nach dem Gärtner. Der aber kostete Geld, also macht „Mann“ es doch selbst.

So verstrichen die ersten Wochen und Monate und die Zeiten, in denen wir ein Privatleben hatten, waren begrenzt. Wenn sich mal ein Wochenendausflug ergab, zog es meinen Mann in eines der benachbarten Tierheime, um sich ein Bild über die dortigen Räumlichkeiten zu machen. Bald kannten wir jedes Tierasyl im Umkreis von 100 Kilometern und mehr.

Irgendwann, unsere Kinder durften zu den Großeltern, nutzten wir eine freie Woche und brachen mit dem Auto und unseren 2 Windhunden auf nach Berlin. Damals noch ein geteiltes Deutschland und mit den üblichen Hindernissen an der Grenze, erreichten wir nach vielen Stunden unsere tierfreundliche Unterkunft am Wannsee. Wir schauten uns die Stadt an, machten Ausflüge ins Umland und genossen die gemeinsame Zeit. Was ich nicht wusste war, dass mein Mann natürlich auch das Tierheim in Berlin, damals noch im Stadtteil Lankwitz, zu besichtigen gedachte.

Das Heim stand mitten in einem Wohngebiet, umbaut von kleinen Siedlungshäusern. Platz für einen benötigten Hundeauslauf gab es keinen. Selbst in einem zweiten Stockwerk waren kleine Zwingeranlagen errichtet worden. Dort konnten sich die Hunde nur auf ca. 6 qm aufhalten. Eine Möglichkeit in ein Außengehege zu kommen, gab es verständlicherweise nicht. Und gerade dort im 2. Stockwerk des Tierheimes entdeckte ich auf den zweiten Blick eine erbärmlich dreinschauende Afghanenhündin. Grau, zum Teil geschoren und mit starkem Nickhautvorfall. Ich war geschockt. Dieser arme Hund, eine extrem bewegungsfreudige Rasse, sollte hier dahinvegetieren? Das darf nicht sein. Wir fanden an Hand der Tätowierungsnummer über die Zuchtbuchführerin in Westdeutschland den Züchter in Berlin heraus. Diesen suchten wir prompt auf, in der Hoffnung, dass er doch in kürzester Zeit seinen ehemaligen Hund aus dieser traurigen Umgebung herausholen würde. Das Gespräch im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses war leider sehr enttäuschend. Er hatte keinerlei Interesse, den einmal verkauften Hund wieder in seine Obhut zu nehmen. Wir waren entrüstet. Was nun? Allmählich kamen meinem Mann und auch mir die absurden Gedanken, den armen, traurigen Hund mit in den verheißungsvollen Westen zu nehmen. Irgendein Windhundfreund aus unserem Bekanntenkreis würde sicher die Hündin in seine Familie aufnehmen.

Nach längeren „Verhören“ im Büro der damaligen Tierheimleiterin durften wir, als wohl erste Tierübernehmer, einen Hund aus dem geteilten Berlin mit in den Westen nehmen. Es war bisher nicht üblich, die Tiere außerhalb von Berlin zu vermitteln. So fuhren wir also nach einer Woche Urlaub in Berlin mit drei Afghanen zurück an den Bodensee.

Als erstes besuchten wir einen Tag später die Windhundrennbahn, in der Hoffnung, für „Berlina“ einen neuen Besitzer zu finden. Aber leider hatte sich niemand erbarmt, die viel zu kleine, unscheinbare und durch einen früheren Unfall leicht gehbehinderte Hündin zu übernehmen. Es fanden sich, trotz vieler Bemühungen unsererseits, einfach keine Interessenten ein. Offen blieb nur eine Option: Wir fragen unsere beiden Rüden, ob sie sich ein Leben an der Seite einer Hundedame vorstellen können. Sie konnten! Fortan lebten also drei Hunde und eine Katze in dem angemieteten Haus in Markdorf. Unser Vermieter meinte, jetzt sei die Schmerzgrenze eindeutig überschritten und wir sollten uns doch allmählich nach einer neuen Bleibe umschauen.

Wir hatten Berlina, wie wir sie inzwischen genannt hatten, natürlich sehr schnell in unser Herz geschlossen. Sie war einfach nur lieb, freute sich über jeden Mülleimer am Straßenrand, vermutlich auch weil sie so schlechte Augen hatte. Der sichtbare Nickhautvorfall war also nicht die Folge eines eventuellen Wurmbefalls, wie es oft der Fall ist, sondern war angeboren. Die Gehbehinderung wurde durch eine Röntgenaufnahme als alter, unbehandelter Beinbruch des Vorderlaufs erklärt. Bei unserem Vermittlungsgespräch mit der Tierheimleiterin in Berlin erfuhren wir, dass die Hündin damals als gefundenes Tier ins Heim gebracht wurde. Was aber wirklich geschehen war, sollten wir vier Monate später schmerzlich erfahren.

Eines Tages nämlich klingelte das Telefon und es meldete sich eine Frauenstimme. Sie wollte wissen, ob bei uns eine graue Afghanenhündin lebe. Wir bestätigten ihr dies, nichtsahnend über die Konsequenzen, die darauf folgen sollten. Es war die ehemalige Besitzerin der Hündin, die behauptete, ihr sei das Tier vor 4 Monaten entlaufen, als es zur Pflege bei einer Freundin gewesen sei, während sie sich selbst mit ihrem Freund in Spanien aufgehalten habe. Sie wolle ihren Hund wiederhaben sagte sie uns unverblümt, und das war ja auch durchaus nachvollziehbar. Zwischenzeitlich hatten wir uns aber so sehr an die Hundedame gewöhnt und sie sehr lieb gewonnen. Sie vertrug sich sehr gut mit den beiden Hunden und den inzwischen zwei Katzen und irgendwie war uns die Geschichte nicht ganz geheuer. Noch ziemlich neu in dem ganzen tierschutzrechtlichen Sachverhalt, gingen wir zu einem Anwalt, um uns zu informieren. „Wie stehen unsere Chancen, dass wir Berlina behalten dürfen?“ Das war unsere erste Frage, welche wir dem Juristen stellten. „Sie haben keine Wahl, die Besitzerin hat das Recht auf ihrer Seite“, war die ernüchternde Antwort.

Tatsächlich ist es so, dass jeder Tierbesitzer sechs Monate lang das Recht hat, sein Eigentum, welches er verloren hat, zurückzufordern. Es wird mit Tieren genauso verfahren wie mit jeder anderen Fundsache auch. Nun hatten wir nur noch die Möglichkeit, die gute Frau davon zu überzeugen, dass Berlina bei uns ein schönes Leben in Gesellschaft von Artgenossen hat und einen großen Garten noch dazu. Vielleicht lässt sie sich erweichen. Nein, natürlich nicht, auch nachvollziehbar. Nun der letzte Versuch: Wir lassen das neue Familienmitglied selbst entscheiden. Kaum zu glauben, aber die uns nur vom Telefon her bekannte Dame willigte spontan ein. Sie kündigte ihren Besuch für den darauffolgenden Sonntag an.

Wir waren alle voller Hoffnung, entwickelten Strategien und fieberten diesem Tag mit den unterschiedlichsten Gefühlen entgegen. Gegen 14 Uhr war es dann so weit, ein Taxi fuhr vor und wir sahen die Frau, die extra aus Berlin für ihren Hund angereist war, zum ersten Mal.

Die Hündin Berlina freute sich mäßig über den Besuch und wir boten erst mal Kaffee und Gebäck an. Danach wollten wir zu dritt mit der Hündin zu einem Spaziergang aufbrechen. Wir gingen einen gewohnten Weg in Richtung Wald, machten die Windhündin los und gingen weiter. Frau S. ging den Weg wieder zurück und rief nach ihrem Hund. Es vergingen lange Minuten oder waren es vielleicht nur Sekunden? Ich kann es nicht mehr sagen. Andere Dinge haben sich in meinem Gedächtnis eingegraben. Zum Beispiel der fragende Blick Berlinas. Sie schaute in beide Richtungen abwechselnd, bewegte nur den Kopf und stand da wie angewachsen. Wie wird sie sich entscheiden? Kann sie das überhaupt oder ist sie damit überfordert? Diese Fragen schossen meinem Mann und auch mir durch den Kopf. Wir standen wohl ebenso versteinert auf dem einsamen Waldweg, bis mir plötzlich eine innere Stimme sagte: „renn davon in Richtung Wald“.

Jetzt war Berlina plötzlich klar, zu wem sie gehörte und wo sie in diesem Moment sein wollte. In einigen wenigen Augenblicken war sie schon neben uns und ihre Freude war nicht zu übersehen. Wir nahmen sie an die Leine und kehrten zu der Frau, die am anderen Ende des Waldweges auf uns wartete, zurück. Sie war überzeugt, so sah es zu diesem Zeitpunkt aus, uns die Hündin zu überlassen. Sichtlich erleichtert begaben wir uns auf den Heimweg, wo unsere zwei Buben uns schon mit fragendem Blick erwarteten. Entspannt nahmen wir im Wohnzimmer Platz und Berlinas frühere Besitzerin bat als erstes um einen Cognac, danach einen zweiten und nachdem sie auch dieses Glas ziemlich schnell geleert hatte, sah alles wieder anders aus. Plötzlich war sie aggressiv und drohte uns mit allem, was ihr so einfiel. Aufgebracht verließ sie das Haus und enttäuscht sowie traurig blieben wir zurück. Was sollte nun geschehen?

An diesem Tag war in der Kleinstadt, in der wir lebten, ein Vergnügungspark und es gab einen verkaufsoffenen Sonntag. Mein Mann nahm die Kinder, um sie etwas von der Tragik dieses Tages abzulenken, und ging mit ihnen über den Rummelplatz. Der jüngste Sohn, ein sensibles Menschenkind, durfte sich Lose kaufen und zog prompt den Hauptgewinn. Er hatte die freie Auswahl zwischen riesigen Tigerkatzen, Bären und anderen Stofftieren. Als ich meiner kleinen Familie nach zwei Stunden die Tür öffnete, stand Sohnemann mit einem grauen Stofftier im Arm vor mir. Es war ein Hund mit längeren, grauen Haaren und einem breiten roten Halsband. Auch Berlina trug ein breites, rotes Halsband. Was sollte man da noch sagen!

Wir glaubten die Frau schon lange im Zug nach Berlin, als plötzlich am späten Abend das Telefon klingelte. Am Apparat war eine deutlich aufgelöst wirkende Frau, die uns folgendes anbot. Wir sollten in ein Lokal kommen, in dem sie sich jetzt befand, sie würde uns ihre wahre Geschichte erzählen und uns Berlina überlassen. Gerne sollten wir ein Schreiben vorbereiten, denn sie sei bereit, alles schriftlich mit uns zu regeln.

Blitzschnell saßen wir im Auto und fuhren zu dem vereinbarten Treffen. Unter Tränen und dem Alkoholeinfluss erzählte sie uns tatsächlich die wahre Geschichte. Sie hatte das Liebste, was sie damals besaß, nämlich ihre Hündin, selbst in das Tierheim gebracht unter dem Vorwand, sie habe sie gefunden. Sie stand unter Druck ihres damaligen Freundes und hatte eine schwere Zeit hinter sich. Suchtprobleme und einen Schwangerschaftsabbruch waren nur zwei der vielen Sorgen, die sie hatte. Sie tat uns echt leid.

Wir erfuhren auch die Vorgeschichte von dem gebrochenen Vorderlauf: Als Welpe hatte die kleine Hündin sich damals beim Springen über die Couch das Bein gebrochen. Aus finanziellen Gründen ging die Besitzerin nicht zum Tierarzt und der Bruch wuchs nicht richtig zusammen.

Sie unterschrieb uns tatsächlich die Übereignung der Hündin, sagte, sie habe es endlich mal schön in ihrem Leben und das, was sie bei uns hätte, könne sie ihr niemals bieten. Wir luden sie noch zum Essen ein und wünschten ihr eine gute Heimreise. Berlina lebte bis zu ihrem Lebensende bei uns und wurde 12 Jahre alt.

Als dann zwei Jahre später die Tierheimmitarbeiterin kündigte und mit ihrer Familie aus der Wohnung im Tierheimgebäude auszog, stand eine Entscheidung an.

Wir verließen das angemietete Haus in Markdorf, in dem genügend Platz vorhanden war für uns alle und von dem aus wir einen herrlichen Blick auf die Schweizer Berge und den Bodensee hatten, und zogen mit „Mann und Maus“ in das Tierheim ein. Von da an musste mein Mann zwar die gleiche Strecke in die andere Richtung zu seinem Arbeitsplatz fahren, aber die Familie hatte wieder mehr gemeinsame Zeit zur Verfügung. Unser jüngster Sohn wurde eingeschult und der zwei Jahre ältere Bruder wechselte an eine andere Schule.

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