Читать книгу Eine kurze Ewigkeit - Angelina Knubbe - Страница 3

11. Februar 2015

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Der Weg, den ich entlang gehe, scheint endlos zu sein. Es ist nur der Kiesweg, den ich sehe. Tausend kleine Steinchen in verschiedenen Farbnuancen, in denen ich zu versinken drohe. Die Ränder meines Sichtfeldes sind verschwommen, sodass ich keine Konturen erkennen kann, als würde ich durch einen Tunnel laufen. Hoch oben kann ich den Mond ausmachen, der beweist, dass es kein Tunnel ist, in dem ich umherirre. Ein Licht! Von weit weg und doch in meinem Blickfeld, strahlt mir ein leuchtender Punkt entgegen. Ich gehe darauf zu. Meine Augen haben Schwierigkeiten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich höre Schritte hinter mir, die den Boden unter meinen Füßen erzittern lassen. Das Geräusch aneinanderschlagender Kiesel hat mich noch nie zuvor in Todesangst versetzt. Warum ist hier niemand, der mir helfen kann?! Ich werde schneller, traue mich nicht, mich umzudrehen. Der leuchtende Punkt kommt näher auf mich zu und taucht einen Teil von dem Schwarz der Nacht in ein diffuses, orangefarbenes Licht, wie ein Scheinwerfer auf einer Theaterbühne. Der flackernde Lichtkegel gehört einer Straßenlaterne mit langem, gebogenem Hals an. Das Surren der Glühbirne ist deutlich zu hören. Wieder das Geräusch aneinanderschlagender Kiesel, diesmal näher! Ich muss mich umdrehen um den Abstand zwischen mir und meinem Verfolger auszumachen. Kurz drehe ich mich um und blicke direkt in das Augenpaar, das mich aus schmalen Schlitzen anfunkelt. Meine Schritte werden länger und schneller. Einen Fuß vor den anderen. Bloß nicht stehenbleiben! Innerlich verfluche ich mich, keinen Selbstverteidigungskurs belegt zu haben. Ein gezielter Tritt in die Weichteile würde vermutlich ausreichen, um meinen Verfolger abzuschütteln oder zumindest, um etwas Zeit zu gewinnen. Hektisch atme ich ein und aus und drohe dabei zu hyperventilieren. Das Augenpaar kommt immer näher, scheint sich an meine Fersen geheftet zu haben. Obwohl ich mittlerweile schon renne, gewinne ich keinen Abstand. Wir scheinen wie durch eine Leine miteinander verbunden zu sein. Die Entfernung zwischen uns minimiert sich, sodass ich ihn schon atmen hören kann. Sein Atem steigt stoßweise in grauen Rauchschwaden auf. Der Geruch seiner Haut ist mir nicht fremd und doch schnürt er mir die Luft ab. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Mit festem Druck verweilt sie an dieser Stelle meines Körpers, während sich die Fingerspitzen in mein Fleisch bohren. Mein Herzschlag beschleunigt sich erneut und ich stehe kurz vor einem Infarkt. Kalter Schweiß bricht in mir aus, als ich mich langsam umdrehe und sehe, mit wem ich es zu tun habe. Und dann höre ich die Stimme, die mir einen weiteren Schauer über den Rücken jagt: „Hallo Engel!“

Nein! Bitte nicht! Ruckartig schrecke ich hoch und werde von einem Schrei geweckt. Mein eigener Schrei. Hoch und schrill klingt er in meinen Ohren nach. Mein Herz rast und der Schweiß haftet auf meiner Stirn. Immer noch habe ich die Hände zu Fäusten geballt. Dabei bohren sich die Fingernägel in meine Handflächen und hinterlassen tiefe Furchen. Es dauert einen kleinen Moment, bis ich weiß, wo ich bin. Ich neige den Kopf in Richtung meines Nachtschranks. Der Wecker zeigt 3:37 Uhr an. Erleichtert, stelle ich fest, dass ich in meinem Bett liege. Ich sehe meine Wände, die trotz der Finsternis pink leuchten. An meiner Zimmerdecke strahlen mir kleine Sterne und Monde entgegen, für die ich schon lang zu alt geworden bin, ich aber immer die Gelegenheit verpasst habe, sie abzunehmen. Beruhigt lasse ich mich zurück in mein klammes Kissen sinken, bevor mich erneut die Panik ergreift. War da nicht gerade ein Schatten? Krampfhaft versuche ich, meine Atmung zu kontrollieren, doch mein eigener Herzschlag dröhnt mir in den Ohren. Ich will hier nicht sein! Ausgeliefert, völlig hilflos und allein. Als Kind bin ich nachts zu meinen Eltern in das große Ehebett gekrabbelt, wenn ich Angst hatte oder sich mal wieder ein Monster in meinem Schrank versteckte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie meine Mutter die Bettdecke für mich anhob und ich darunter in ihren Arm kroch. Nie habe ich mich sicherer und beschützter gefühlt. Heute, mit meinen sechzehn Jahren würde das einen eher kläglichen Eindruck machen. Trotzdem sind die Ängste dieselben, wie damals und ich schaffe es nicht, mich zu beruhigen. „Entspanne dich, Nora!“, rede ich mir selbst gut zu.

In der Dunkelheit suche ich nach der Flasche Wasser, die neben meinem Bett steht. Mit zitternden Fingern fummele ich an dem Verschluss und trinke einen Drittel der Flasche in einem Zug aus. Tief atme ich ein und aus, versuche, an kleine Einhörner und süße Kaninchen zu denken, um den Albtraum so schnell wie möglich vergessen zu können. Es ist immer derselbe Traum, der mich nachts wachhält. Der Traum, der mich erschaudern lässt, der mir die Kehle zuschnürt, bis ich keine Luft mehr bekomme.

Nach einiger Zeit gelingt es mir schließlich, mich zu beruhigen, doch an Schlaf ist trotzdem nicht zu denken. Ich mache den Fernseher an und reduziere schnell die Lautstärke, in der Hoffnung, meine Eltern würden nicht aufwachen. Das grelle Licht des Bildschirms schmerzt in meinen Augen. Auf dem ersten Sender, den ich einschalte, rekelt sich eine nackte, blonde Frau in einer Küche. Eine völlig natürliche Situation, wie ich finde. Schließlich kochen doch alle Menschen nackt und legen währenddessen eine kleine Tanzeinlage auf der Arbeitsplatte ein. Schnell schalte ich um, doch der zweite Sender ist auch nicht besser! Eine Frau in Lack und Leder mit XXL-Möpsen befiehlt den Männern dort draußen, sie anzurufen. Befehlen ist hier das richtige Wort. Mit einer Peitsche in der Hand, schaut sie streng in die Kamera und spricht mit osteuropäischem Akzent: „Ruf misch an, sofort!“. Okay, also auch kein geeignetes Programm für mich! Ein paar weitere Programme probiere ich noch aus, aber ohne Erfolg. Frustriert schalte ich den Fernseher wieder aus und taste in der Dunkelheit nach meinem Handy. Ich schaue in den sozialen Netzwerken, was es neues gibt und blättere durch meine Neuigkeiten. Nadine G. hat ein neues Foto gepostet. Nicht, dass es mich interessiert. Eigentlich kann ich dieses Mädchen nicht ausstehen, aber mein Gott, ich habe Langeweile und kann nicht schlafen. Ich klicke das Foto an, um es genauer betrachten zu können und sehe ein viel zu stark blondiertes Mädchen mit weit aufgerissenen Augen und Duckface. Ihre Augen schmücken künstliche Wimpern und ihr Mund ist durch die dicke Lipgloss Schicht überhaupt nicht mehr zu erkennen. Vermutlich hat sie Stunden damit zugebracht, das Bild digital zu verschönern. Jede Falte hat sie aus ihrem Gesicht verbannt und jede Unebenheit retuschiert. Mit dem Erfolg, dass es keinen Erfolg hatte. Zumindest nicht in meinen Augen, obwohl ich stark bezweifle, dass ich der Zielgruppe dieses Mädchens angehöre. Überhaupt landet wahrscheinlich kein einziges unbearbeitetes Bild mehr im Netz. Wir alle sind Barbiepuppen in einer fiktiven Welt. Puppen ohne Seele oder Verstand.

Es nervt mich, dass alle Mädchen mit einem Frauenbild zu konkurrieren versuchen, das einfach surreal- und meiner Ansicht nach auch wenig erstrebenswert ist.

In diese Gedanken vertieft sehe ich auf den Bildschirm meines Handys, immer noch in das Gesicht von Nadine G.. Man sollte sich kaum vorstellen, dass dieses Bild zu etwas anderem als allgemeiner Belustigung beiträgt, aber es scheint wirklich einigen Leuten zu gefallen. Das Bild hat innerhalb von einer Stunde schon 37 Likes und Kommentare, wie: „Wow, total heiß! Bis bald Hase.“ Ich frage mich, was bei diesem „bald“ denn so angestellt wird und wundere mich im nächsten Moment über meine eigenen Gedanken. Warum denke ich über eine Person nach, die ich noch nicht einmal leiden kann?! Für mich ist es einfach nicht verständlich, wie leicht die Mädchen meiner Generation es den Männern machen. Ich bekomme Plaque, wenn ich sehe, wie sie sich ihnen förmlich anbieten und darum wetteifern, wer den tiefsten Ausschnitt und den kürzesten Rock hat. Immer wieder beobachte ich, wie junge Frauen, wie Nadine G., sich den Männern an den Hals schmeißen. „Warst du anders?“, fragt mich meine innere Stimme, doch ich blende sie aus. Schließlich bin ich hier nicht das Thema! Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich wie ein Moralapostel aufspiele, aber ich weiß das, was für andere im Verborgenen liegt.

Das Bild hat mein Interesse geweckt, obwohl es mir eigentlich völlig egal sein sollte. Von Neugier gepackt durchforste ich die anderen Kommentare. An einem davon bleiben meine Augen haften: „Du bist echt Hammer! Bock auf ein Treffen?“ Als ich die Antwort darauf lese, zweifle ich kurz an meinem Verstand. Ich kneife die Augen fest zusammen und öffne sie danach wieder, weil ich nicht glauben kann, was dort geschrieben steht. Aber tatsächlich! Als ich erneut die Antwort studiere, hat sie sich nicht verändert. Nadine G. hat in der Tat ihre Telefonnummer gepostet! Nur ihre Nummer! Im Internet! Ich kann es kaum fassen. Kann nicht glauben, wie man so leichtsinnig mit seinen persönlichen Daten umgehen kann. Wen wundert es da, dass wir Menschen immer fauler werden? Es wird uns schließlich so leicht gemacht. Irgendwann wird es vermutlich Vordrucke geben, die man seinem, beziehungsweise seiner Auserwählten in die Hand drückt. Darauf steht dann: „Willst du mit mir Sex haben? Ja oder nein?“ . Der- oder diejenige muss dann nur noch nicken oder mit dem Kopf schütteln. Reden oder sich kennenlernen wird ja anscheinend völlig überbewertet, was sie Fortpflanzung der Nichtdenkenden jedoch nur begünstigt. Ist das den Typen nicht zu langweilig?! Wo ist der Jagdinstinkt geblieben? Wahrscheinlich genauso ausgestorben wie Falten und echte Brüste.

Ich scrolle weiter und sehe, dass Emma, meine beste Freundin, ein Foto von uns veröffentlicht hat. Es zeigt eine Nahaufnahme von ihr und mir in einem großen Herz. Sie mit ihren schulterlangen, braunen Haaren und ihren hellgrünen Augen und ich mit meinen langen blonden Haaren und den blauen Augen. Wir lächeln beide in die Kamera und haben jeder ein Bier in der Hand. Ich erinnere mich gut an den Abend, als das Bild gemacht wurde. Wir waren auf der Geburtstagsfeier eines Freundes und hatten schon etwas Alkohol intus. Das tut dem Bild jedoch keinen Abbruch und unser dämliches Grinsen könnte beinahe als „süß“ bezeichnet werden. Unter dem Bild hat Emma geschrieben: „Für den tollsten Menschen der Welt! Ich hab dich lieb und will dich niemals verlieren, meine Nora-Maus!“. Ich kommentiere ihren Post mit einem Like und widme mich den anderen Meldungen. Keine Ahnung, warum ich das mache. Die Neuigkeiten langweilen mich nur noch. Entweder hat jemand ein Bild von sich gepostet, seinen besten Freund unter einem dämlichen Spruch verlinkt oder aber, es ist wegen einer Meldung ein riesiger Shitstorm ausgebrochen, weil Leute ohne Ahnung sich battlen müssen, wer nun mehr zu Tierschutz und Klimawandel zu berichten hat. Trotzdem komme ich nicht umhin, mir alles haarklein durchzulesen.

Als ich mich durch die anderen Neuigkeiten klicke, öffnet sich plötzlich das Chatfenster und ich sehe eine Nachricht von Chris, einem sehr guten Freund von mir.

Chris: Hey Nora. Alles klaro? Warum bist du denn wach um diese Zeit?

Nora: Ach, habe mir Sorgen wegen meines Referats gemacht und konnte deshalb nicht einschlafen. Und du?

Chris: War noch bei Linda. Hat etwas länger gedauert XD

Nora: Ach ja, und willst du mir auch verraten, was so lange gedauert hat? Haha

Chris: Haha, nee lieber nicht XD. Gute Nacht! Sehen wir uns morgen vorm Tor auf `ne Zigarette? Muss auch noch Mathe von dir abschreiben!

Nora: Haha, ja wie immer, du Spinner! Gute Nacht!

Es ist 4:58 Uhr. Langsam fangen meine Augen zu brennen an und ich schöpfe Hoffnung, dass ich in dieser Nacht doch noch werde schlafen können. Ich kontrolliere noch einmal, ob der Wecker für den nächsten Morgen gestellt ist, lege mein Handy auf den Nachtschrank und schließe die Augen. Der Albtraum ist schon wieder fast vergessen und während ich an Schäfchen und rosa Wölkchen denke, gleite ich sanft in einen ruhigen Schlaf.

„Hey Süße“, murmelt Emma verschlafen, als sie sich am nächsten Tag im Bus neben mich plumpsen lässt. Ihr Kopf hängt schlaff an ihrem Hals herunter und ihre Mundwinkel hätten tiefer nicht sinken können. Normalerweise ist sie morgens schon völlig aufgekratzt und redet ohne Punkt und Komma, nachdem sie die Augen aufgeschlagen hat.

„Was ist los?“, frage ich deshalb ein wenig besorgt. Emma seufzt und antwortet: „Ach nichts eigentlich. Mich wurmt es nur, dass Tony seinen Beziehungsstatus geändert hat. Ist der jetzt mit der Ollen zusammen?!“. Tony ist Emmas Exfreund und wie sie immer wieder betont, ihre „Große Liebe“ gewesen. Er hat sie mit einer damaligen Freundin von ihr betrogen. Statt aber ehrlich zu Emma zu sein und ihr seinen Seitensprung zu gestehen, hat er sie die ganze Zeit in dem Glauben gelassen, alles wäre gut. Schon lange hatte ich den Verdacht, er würde Spielchen mit ihr spielen, habe mich aber nie getraut, sie darauf anzusprechen. Vor ein paar Wochen hat Emma Tony dann in flagranti mit seiner Geliebten im Bett erwischt. Er hat alles gestanden und auch zugegeben, dass dies nicht das erste Mal gewesen wäre. Emmas Freundin erntete eine gehörige Backpfeife und Tony wurde in die Wüste geschickt. Trotzdem zweifelt Emma zunehmend an ihrer Entscheidung und überlegt tatsächlich, ihm zu verzeihen und ihrer Beziehung noch eine Chance zu geben.

Grundsätzlich unterstütze ich sie bei all ihren Entscheidungen, aber hier sehe ich sie in ihr Unglück laufen. Skeptisch schaue ich meine beste Freundin an. Ich verstehe nicht, warum sie sich solche Sorgen wegen eines Typen macht, der sie meiner Meinung nach, auch ohne den Fehltritt, nie gut behandelt hat. Als die beiden ein Paar waren, hat er sie ständig versetzt oder ewig lang warten lassen und seine Freunde waren ihm auch immer wichtiger gewesen als sie. Ich kann ihn noch richtig vor mir sehen, wie er ihr mit seinem selbstgefälligen Grinsen ins Gesicht schaut und wieder einmal anmerkt, dass sie bei den folgenden Treffen nicht erwünscht sei. „Das verstehst du doch, Babe?“, säuselte er immer, während er sich durch seine aalglatte Frisur strich. Und Emma verstand. Jedes Mal.

„Ach Quatsch! Der ändert seinen Status doch nur, um dich eifersüchtig zu machen“, reiße ich mich selbst aus meinen Gedanken. Ein Hoffnungsschimmer erscheint auf Emmas Gesicht bevor ich fortfahre: „Aber ich habe schon einen Plan, wie wir es ihm heimzahlen können. Ich weiß, dass er heute im BEAT ist…“. Verschwörerisch grinse ich Emma an. Das BEAT ist eine Jugenddisco ganz bei uns in der Nähe. Wir müssen nur zwanzig Minuten mit dem Bus fahren. Außerdem haben wir keine Schwierigkeiten, mit unseren sechszehn Jahren hereingelassen zu werden.

„Und du meinst, wir sollten da auch hingehen, damit ich mir anschauen kann, wie er mit der Alten rummacht?!“. Emma sieht mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. Ich runzele die Stirn und antworte: „Naja, so ähnlich.“ Sie muss mich für reichlich beschränkt halten. „Wir gehen auch dahin, takeln uns richtig auf und suchen dir einen Typen, mit dem du Tony eifersüchtig machen kannst.“ Emmas Miene verändert sich. Ein Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit. Der Typ wird hoffentlich der Ersatz für Tony werden, schmunzle ich in mich hinein.

„Ja das könnte funktionieren. Danke Nora, du bist einfach die Beste!“

Und da ist sie wieder: Die Emma, die ich kenne und liebe. Tausend kleine Schmetterlinge scheinen ihren Körper zu durchströmen, ihre Augen glänzen und sie strahlt wie ein Honigkuchenpferd, dem eine Überdosis Ritalin verabreicht wurde. „Oh ja, Nora! Das wird super! Ich komme gegen 18:00 Uhr zu dir, wir machen uns hübsch… Ich bringe ein paar Klamotten und meine Schminke mit… Ach ja, soll ich Sekt mitbringen oder ist deine Mutter Zuhause? Oh Gott, was soll ich nur anziehen?!“. Emma sprudelt los ohne Luft zu holen, als hätte sie Angst, irgendetwas Wichtiges zu vergessen. Das macht sie ständig. Viele Menschen können mit ihrer lauten, chaotischen Art nicht umgehen und finden sie eher nervig und anstrengend, aber ich mag genau das an meiner besten Freundin. Dennoch fällt es auch mir manchmal schwer, ihrem Gebrabbel zu folgen. Da sie mich auch jetzt nicht zu Wort kommen lässt, versuche ich, ihre Fragen nacheinander abzuarbeiten: „Ja 18:00 Uhr ist perfekt. Meine Mutter ist nicht Zuhause, du kannst also Sekt mitbringen und wir gucken im Vorratsschrank, was wir noch Schönes finden.“

Emma grinst mich an und ich kann ihre Gedanken lesen: „Das klingt nach ‘nem Plan!“.

Total aufgeregt werden weitere Pläne für den Abend geschmiedet, bis der Bus fünfzehn Minuten vor Unterrichtsbeginn vor unserer Schule hält. Die meisten unserer Mitschüler kommen entweder gar nicht- oder viel zu spät in die Schule. Wir dagegen sind immer überpünktlich. Nicht weil wir unseren grenzenlosen Wissensdurst stillen wollen (Spaß beiseite), sondern weil wir uns vor der Schule zum Quatschen und Rauchen treffen.

Während Emma sich eine Zigarette anzündet, halte ich Ausschau nach Chris. Er scheint noch nicht da zu sein, doch nach einiger Zeit werde ich schließlich fündig. Er steht an der Ampel, hat sein Handy in der Hand und ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. Wahrscheinlich schreibt er gerade irgendwelche Nachrichten mit Linda. Wenn ich ihn so glücklich sehe, freue ich mich richtig für ihn. Er hatte bisher leider nicht viel Glück bei den Mädels und verschenkt sein Herz häufig zu schnell. Viel zu oft habe ich ihn schon im Arm gehalten und getröstet, als sein Selbstwertgefühl mal wieder im Keller war, weil ihn irgendein Mädchen abservierte, nachdem es ihm Hoffnungen gemacht hatte. „Was stimmt nicht mit mir, Nora?“, hat er mich jedes Mal gefragt und ich konnte die Frage nur mit einem stummen Schulterzucken beantworten. Ich wusste auch nicht, warum er sich immer in die Mädchen verliebte, die seine Liebe und Zuneigung nicht erwidern konnten. Mit Linda scheint jetzt aber alles anders zu sein. Sie tut ihm gut und macht ihn glücklich. Ich hoffe, dass das so bleibt!

Als die Ampel endlich auf grün umspringt, latscht Chris lässig über die Straße, kommt zu uns und drückt uns beiden ein Küsschen auf die Wange. „Na, gut geschlafen?“, frage ich grinsend, um auf die Unterhaltung der letzten Nacht anzuspielen. „Wie ein Stein“, antwortet er mit geschlossenen Augen und seufzt genüsslich. Anschließend zündet er sich ebenfalls eine Zigarette an und ich werde nervös. Mich durchströmt die Lust, auch eine zu rauchen, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, das zu unterlassen. Meine Eltern haben mich schon ein paar Mal beim Rauchen erwischt und waren alles andere als erfreut darüber. Zwar haben sie nicht geschimpft oder mir Verbote erteilt, trotzdem fühle ich mich schuldig. „Wir sind nicht böse, nur enttäuscht.“ Dieser Satz hat sich in mein Hirn gebrannt. Ich habe große Schwierigkeiten damit, meine Mitmenschen zu enttäuschen und zuzugeben, dass ich nicht perfekt bin. Außerdem sind Zigaretten sauteuer!

„Na Mädels, alles klar bei euch?“, fragt Chris und richtet sein Cap. Danach hält er mir verführerisch seine Schachtel hin. Er kennt mich einfach zu gut! Schwach, wie ich bin, nehme ich einen Glimmstängel heraus, zünde ihn an und inhaliere genüsslich den Rauch. Die innere Unruhe verschwindet, so schnell wie sie gekommen ist. Während wir vor dem Schultor stehen, weihen wir Chris in unseren Plan ein. „Ja gute Idee“, sagt er, als wir unsere Geschichte beendet haben. „Ich bin heute Abend mit ein paar Freunden verabredet, aber die Hackfresse von Tony will ich mir nicht entgehen lassen. Ist doch kein Problem, wenn die Leute mitkommen, oder?“. Emma und ich sind sofort einer Meinung. „Ach Quatsch! Je mehr desto lustiger!“, antwortet sie und wir alle freuen uns, heute Abend mal wieder gemeinsam loszuziehen. Besonders Emma ist ihre Vorfreude deutlich anzumerken. Quietschend fällt sie uns in die Arme. Sicherlich ist sie aufgeregt, Tony eins auszuwischen, aber sie scheint auch glücklich zu sein, mal wieder etwas mit Chris und mir zu unternehmen. Chris ist leider oft verhindert, seitdem er eine Freundin hat. Früher haben wir täglich miteinander herumgehangen, aber jetzt trifft er sich lieber allein mit Linda, wofür ich auch Verständnis habe. Emma fällt das etwas schwerer. Ich denke, dass sie etwas eifersüchtig ist. Nicht, weil sie selbst gern mit ihm zusammen wäre und Gefühle für ihn hat, sondern weil Linda ihr ein Stück weit ihren besten Freund weggenommen hat. Außerdem war Emma lange Zeit Chris‘ Nummer Eins und wir anderen hatten ständig den Eindruck, er wäre verliebt in sie gewesen. Immerzu hat er ihre Nähe gesucht, ihr irgendetwas ausgegeben oder versucht, sie zum Lachen zu bringen. Manchmal kam er sogar mit kleinen Geschenken. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie das genossen hat. Mich sieht Emma zwar häufiger, aber ich habe neben der Schule einen Job als Babysitterin. Außerdem gebe ich einmal in der Woche Ballettunterricht. Deshalb ist es auch für mich manchmal schwer, Zeit zu finden und auszugehen. Vor einem Jahr haben sich ein paar meiner Freunde einen Nebenjob gesucht, um ihr Taschengeld aufzubessern. Ich fand den Gedanken daran, mein eigenes Geld zu verdienen und es frei verwalten zu können, sehr verlockend, weshalb ich mich ebenfalls auf die Suche begab. Mir hat das Arbeiten sofort großen Spaß gemacht und ich genieße meine Unabhängigkeit bis heute. Zwar bin ich sehr behütet aufgewachsen und musste nie auf etwas verzichten. Meine Eltern sind nicht besonders wohlhabend, aber auch nicht arm. Trotzdem finde ich es schön, ihnen nicht auf der Tasche zu liegen und sie wegen jedes Kinobesuchs anpumpen zu müssen.

Nachdem wir alle aufgeraucht und unsere abendlichen Pläne abgestimmt haben, gehen wir zusammen hoch in unseren Klassenraum. Mathe haben wir erst in der dritten Stunde, aber ich reiche Chris schon jetzt meine Hausaufgaben, damit er genug Zeit hat, sie abzuschreiben. Ich bezweifle, dass die Aufgaben richtig sind. Wenn ich sage, dass Mathe nicht zu meinen Stärken gehört, ist das weit untertrieben. Ich bin froh, wenn ich im Supermarkt grob abschätzen kann, ob mein Wechselgeld stimmt. Kurz: Ich bin der totale Matheloser! Das macht aber nichts, denn Herrn Spät, unserem Mathelehrer, ist es am Wichtigsten, dass wir uns an den Aufgaben versuchen und uns bemühen. Wenn man bei Herrn Spät die Hausaufgaben macht, hat man schon fast gewonnen. Deshalb mag ich ihn. Ich habe viele Mathelehrer kennengelernt, die alles schwarz oder weiß gesehen haben, richtig oder falsch. Wenn die Aufgabe falsch gelöst wurde, hieß es: „Setzen, sechs!“ Natürlich gibt es im Matheunterricht nur richtig oder falsch, er gibt keinen Raum für Schätzungen und Spekulationen, aber Herr Spät ist bisher der Einzige, der sich mit der Wurzel des Problems beschäftigt. Die Aufgaben werden solange wiederholt, bis wirklich jeder sie halbwegs verstanden hat, auch wenn er so bestimmt oft vom Lehrplan abweicht. Ich finde, an ihm sollten sich viele Lehrer ein Beispiel nehmen!

Ich habe jedenfalls jetzt kein schlechtes Gewissen, wenn ich Chris meine vermutlich falschen Lösungen zum Abschreiben überlasse. Vielleicht lernt er ja etwas daraus und macht seine Hausaufgaben, zumindest in Mathe, das nächste Mal selbst!

Es ist 18:00 Uhr als es an der Haustür klingelt. Ich bin gerade dabei, mein Outfit für den Abend anzuziehen. Schnell mache ich den Reißverschluss und den Knopf meiner Jeans zu und hechte zur Tür. Als ich die Haustür öffne, sehe ich Emma, die ihre große Reisetasche im Gepäck hat. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass du hier einziehen willst!“, sage ich grinsend, während ich ihr helfe, das riesige Ungetüm von Tasche ins Haus zu befördern. Ich frage mich, wie Emma es geschafft hat, das mächtige Ding hierher zu schleppen. Mein Kopfkino beginnt und ich fange an, zu schmunzeln. „Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich anziehen soll. Deshalb hab ich alles Brauchbare mitgebracht“, erwidert Emma überdreht wie immer und lacht. Ich habe mich in Emmas Lachen verliebt, bevor ich sie richtig kennengelernt habe. Damals kam ich neu in ihre Klasse und kannte niemanden. Wegen meiner schlechten Noten musste ich vor anderthalb Jahren die Schule wechseln, was mir ganz recht war. Hier kannte mich niemand. Keiner kannte mein verborgenes Geheimnis und meine Geschichte. Endlich musste ich mich nicht mehr verstellen und konnte die neue, etwas zynische Nora sein. Mein neues Leben konnte beginnen. Irgendwie hat Emma mich sofort fasziniert. An meinem ersten Schultag saß sie mit Lina zusammen, die ihr etwas ins Ohr flüsterte. Daraufhin begann Emma so laut loszuprusten, dass ihr die Selter aus der Nase lief und sie Tränen in den Augen hatte. Einige Leute hätten sicherlich gedacht, dass dieses Mädchen frisch aus der Irrenanstalt entlassen wurde und sich gefragt, ob die Entscheidung der Ärzte diesbezüglich die Richtige war, aber ich mochte sie auf Anhieb. Emma polarisiert. Entweder man mag sie oder man kann sie nicht ausstehen. Einige halten sie für arrogant und oberflächlich, aber das ist sie keineswegs. Sie setzt sich für ihre Freunde ein, ist fair und loyal und sicherlich auch ein kleines bisschen verrückt. Emma macht keine halben Sachen. Wenn sie lacht, dann tut sie das nicht leise hinter vorgehaltener Hand, sondern laut und schallend. Wenn sie jemanden umarmt, tut sie das nicht zaghaft und vorsichtig, sondern richtig fest. Sie ist nicht egoistisch, hat immer die Gefühle anderer im Blick und ist eine tolle und hingebungsvolle Freundin. Ich bin froh, sie an meiner Seite zu wissen.

Nachdem ich Emma hereingelassen habe, stürmt sie auch schon, wie ein aufgescheuchtes Huhn, auf ihre Tasche zu und zieht eine Flasche Sekt heraus. Aus dem Küchenschank holt sie zwei Sektgläser und öffnet mit einem lauten „plopp“ die Flasche. Emma ist nicht gerade selten bei mir, was bedeutet, dass sie sich bei uns Zuhause super auskennt und auch keine Hemmungen hat, sämtliche Schränke aufzureißen und deren Inhalt zu inspizieren. Gerade untersucht sie unsere Naschschublade nach Chips oder dergleichen, wird fündig und füllt sie in eine große Glasschale. Ehrfürchtig beobachte ich, wie sie die Schale hin- und herschwenkt. Wenn sie zu Bruch geht, habe ich ein gewaltiges Problem mit meiner Mutter. Schnell nehme ich sie ihr ab, stelle sie auf den runden Couchtisch und nehme selbst auf dem Sofa Platz.

„Wir brauchen Musik!“, flötet sie und klatscht in die Hände, als ob dadurch die Musik automatisch angeschaltet würde. Gerade als ich mich vom Sofa erhebe und zur Anlage latschen will, sehe ich Emma schon wieder in ihrer Tasche herumfummeln und eine Dockingstation herausziehen. „Tadaaaaa!“ Per Bluetooth wird die Anlage mit dem Handy verbunden und schon ertönt laute Musik aus der kleinen Box. Der Sound ist beeindruckend. „Du hast ja wirklich an alles gedacht!“, staune ich und komme langsam in Fahrt. Emma sieht mich mit funkelnden Augen an. „Jetzt fehlt nur noch das Styling!“, nuschelt sie mit vollem Mund und hängt schon wieder über der Tasche. „Was willst du eigentlich anziehen?“. Ich blicke an mir herunter und zupfe an meinem schwarzen Pulli, den ich zu einer hellblauen Röhrenjeans kombiniert habe. „Eigentlich das oder ist das nicht okay?“, frage ich sie unsicher. Skeptisch mustert sie mich von Kopf bis Fuß und antwortet schließlich: „Wenn man Bibeln verkaufen möchte, ist das super! Mach dir noch `nen hübschen Dutt und erzähl´ den Leuten etwas von Jesus.“ Streng begutachtet sie mich erneut und sieht dabei fast angewidert aus. „Nora, mal im Ernst!... Wir wollen feiern gehen! Da darfst du ruhig etwas mehr Haut zeigen. Denk an unsere Tony-Mission!“ Gekränkt schaue ich ihr entgegen. Sie meint es nicht böse, das ist mir klar. Trotzdem werde ich in ihren Augen immer das kleine, brave Mädchen sein.

Ich beschließe, mich nicht über ihre Worte zu ärgern und strecke ihr stattdessen die Zunge heraus.

„Tut mir Leid! Ich meine es doch nicht so. Aber hab doch einfach mal Spaß! Vielleicht finden wir heute Abend ja auch endlich mal einen netten Typen für dich. Du kannst nicht dein ganzes Leben allein bleiben!“

Na klar! Auf Emmas Verkupplungsversuche bin ich noch nie scharf gewesen.

Schweigend setze ich mich auf die Couch, vor der Emma ihr gesamtes Schminksortiment drapiert hat, und lasse zu, dass die kleine Irre einen Kanarienvogel aus mir macht.

Wir stehen vor der Disko und hören schon die Musik von drinnen. Sofort bekomme ich Lust, zu tanzen. Ich tanze total gern. Ständig und immer! Was mich allerdings, so denke ich, von anderen Mädchen unterscheidet, ist, dass ich nicht darauf bedacht bin, cool und sexy dabei auszusehen. Ich tanze nur für mich, weil ich es gern tue und es Spaß macht. Und wenn ich dabei aussehen sollte, als hätte ich gerade einen epileptischen Anfall, dann ist das eben so!

Emma hat mir doch noch andere Klamotten aufgeschwatzt. Auf meine Jeans habe ich zwar bestanden, habe mich aber zu einem kurzen, schwarzen Top mit Spitzenapplikationen überreden lassen. Ständig zupfe ich daran herum, weil es mir deutlich zu kurz erscheint. Zwar ist der Bauchnabel noch versteckt, aber trotzdem ist sehr viel Haut zu sehen. Wenn ich das Top hinunterziehe, ist der Ausschnitt allerdings viel zu tief. Es ist wie verhext!

Emma trägt ein pinkfarbenes Top mit einem Jeansrock, der mir persönlich ebenfalls viel zu knapp wäre. Sie sieht jedoch umwerfend aus. Emma gehört zu den Menschen, die alles tragen können und immer gut aussehen. Sie könnte sich in einen Müllsack schmeißen und trotzdem würden sich alle Typen nach ihr umdrehen. Ihre Haare hat sie mit einem Lockenstab gestylt und umrahmen ihr schönes Gesicht.

Auf unseren High Heels stehen wir in der Kälte und frieren uns den Allerwertesten ab. Dabei fällt es mir schwer, zu entscheiden, ob mich die Kälte oder meine schon jetzt schmerzenden Füße mehr stören. Sofort bereue ich, nicht vorgeschlagen zu haben, uns drinnen zu treffen. „Warum kann Chris auch nie pünktlich sein?“. Emma ist bereits leicht angesäuert. In der Schlange bricht ein kleiner Tumult aus, weil ein offensichtlich sehr betrunkener Typ versucht, in den Club zu gelangen und von einem der Türsteher daran gehindert wird. „Isch bin ga nisch besfn“, lallt er, doch die Türsteher lassen sich davon nicht beeindrucken und schicken ihn weg. „Sorg dafür, dass dein Freund heil nach Hause kommt“, sagt der eine zu der Begleitung des Jungen.

„Komm, wir stellen uns schon mal in die Schlange. Ich habe keine Lust zu erfrieren“, schlägt Emma vor und schlendert auf den Eingang des Clubs zu.

Mit zitternden Fingern krame ich in der Tasche nach meinem Handy, das blinkt, um mir eine neue Nachricht anzuzeigen.

Chris: Sorry, wir verspäten uns. Mein Kollege hatte mal wieder die Ruhe weg!

Nora: Beeilt euch! Es ist schweinekalt!

Chris: Bleib cool! Sind gleich da. Können die Disco schon fast sehen.

Chris kommt im Eilschritt auf uns zu und begrüßt uns überschwänglich. „Hallo ihr Hübschen“, ruft er aus, was mich darauf schließen lässt, dass er bereits angetrunken ist. Er hat zwei Freundinnen und einen Freund im Schlepptau. Die Mädchen kommen auf uns zu und stellen sich als Natascha und Sandra vor. Viel bekomme ich davon nicht mit, denn meine Augen haben schon etwas anderes im Visier. Dich!

Du bist also der Freund, von dem Chris uns erzählt hat. Er hat dich als seinen besten Freund bezeichnet. Erst gibst du Emma die Hand und nimmst dann meine. „Ben“, sagst du knapp und grinst etwas schief. Ich zucke zusammen bei deiner Berührung und mir ist nicht klar, warum. Irgendetwas hast du an dir, das mich fasziniert und interessiert. Deine tief ins Gesicht gezogene Mütze kann nicht deine wunderschönen Augen verstecken. Sie sind groß und grün und wirken so ehrlich und treu. Trotzdem liegt etwas in ihnen, das ich noch nicht deuten kann. Irgendetwas Geheimnisvolles und Trauriges. „Starre ihn nicht so an, du Vollidiotin“, ermahnt mich die Stimme meines Verstandes, aber du schaust mir ebenfalls in die Augen, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden. Plötzlich wird mir klar, warum. Du wartest darauf, dass ich mich dir ebenfalls vorstelle.

„No…Nora“, stottere ich. Oh Gott, wie peinlich! Jetzt habe ich sogar das Sprechen verlernt. „Schön, dich kennenzulernen, Nora“. Wenigstens du bist ein wenig cooler, als ich es bin. Die Schlange bewegt sich, was für reichlich Gedränge und Geschubse hinter uns sorgt, doch wir lassen uns davon nicht beirren und starren uns weiterhin in die Augen. Die Welt scheint für einen kurzen Moment stillzustehen, als hätte jemand während eines Spielfilms auf „Pause“ gedrückt. Irgendwann weiche ich deinem durchdringenden Blick peinlich berührt aus, weil ich Angst bekomme, du könntest meine Gedanken lesen. Ständig habe ich Angst davor, durschaut zu werden. Das Gefühl, dass jemand merken könnte, dass ich nicht ganz normal bin. Ich sehe auf unsere Hände, die immer noch aneinander festhalten. Du hast riesige Hände, so groß wie Klodeckel. Wunderschöne und starke Hände. Auch sonst finde ich dich sehr attraktiv. Du entsprichst keinem Schönheitsideal, das für große Unterwäschefirmen posiert, aber für mich bist du absolut schön. Schnell wird mir klar, dass ich dich näher kennenlernen muss. Und obwohl ich ein absoluter Verächter der „Liebe auf den ersten Blick“ bin und sie für die größte und hirnrissigste Illusion der menschlichen Geschichte halte, wird mir in diesem Moment klar, dass ich dir mein Herz schenken werde. Immer wieder sucht mein Blick dein Gesicht und ich versuche zu ergründen, was sich darin verbirgt.

Chris ist schließlich derjenige, der mich aus meinen Gedanken reißt: „Wollen wir endlich die Party rocken oder lieber hier festfrieren?“ Wie in Trance nicke ich. Immer noch starre ich dich an, wie ein Volltrottel, der das Schlucken vergessen hat.

Wir zahlen an der Kasse unseren Eintritt, holen uns einen Stempel ab und lassen unsere Taschen inspizieren. Natürlich musste Emma wieder ein paar Shots in ihrer Tasche deponieren, obwohl sie weiß, dass das Mitbringen von Getränken verboten ist. Das Schlimme daran ist, dass sie trotzdem jedes Mal durch die Kontrolle kommt. Wie ein Katzenbaby, das ausgesetzt wurde, sieht sie den Türsteher flehend an, schürzt die Lippen, sagt „bitte, bitte“ und wird durchgewunken. Mitsamt des Alkohols! Ich an ihrer Stelle wäre jedes Mal aus Scham im Erdboden versunken. Emma hingegen ist das völlig egal. Selbst der Alkohol ist ihr gleichgültig. Sie braucht nur die Bestätigung, dass sie in der Lage ist, die Männer um ihre schlanken Finger zu wickeln.

In der Disco ist es ziemlich voll und die Luft ist schlecht. Es riecht nach Schweiß, Zigarettenrauch und Alkohol. Obwohl wir uns in einer Jugenddisco befinden, schaffen es einige Leute, unter anderem Emma, immer wieder ein paar Flaschen in den Club zu schmuggeln. Sekt und Bier gibt es zwar an der Bar zu kaufen, aber die breite Masse bevorzugt dann doch die härteren Getränke.

Du fragst uns mit einer Handbewegung, ob wir etwas trinken möchten. Die Mädchen bestellen einen Sekt, die Jungs und ich entscheiden uns für Bier. Um dich nicht allein die Getränke schleppen zu lassen oder um einfach in deiner Nähe sein zu können, begleite ich dich zur Bar. Du wirkst verschlossen. Ich bin mir nicht sicher, ob das an unserer Gesellschaft liegt oder ob das generell deine Art ist. Oder steckt vielleicht mehr dahinter?

Wir stehen an der Bar und warten auf unsere Getränke. Reden tun wir nicht, was bei der lauten Musik auch wenig Sinn macht. Verstohlen tippe ich von einem auf das andere Bein und verfluche meine viel zu hohen Absätze. Wer hat sich diesen Scheiß bloß ausgedacht?! Immer wieder suchen sich unsere Augen, finden sich schließlich und wenden sich dann wieder ab. Irgendwann brüllst du mir etwas ins Ohr, das ich wegen der lauten Musik nicht verstehen kann. Was mache ich denn nun? Soll ich zugeben, dass ich dich nicht verstanden habe und das Risiko eingehen, du könntest mich für schwerhörig halten? Schwerhörigkeit erinnert leicht an alte Omis. Und ältere Damen bringen einen nicht unbedingt wegen ihres Sexappeals in Ektase. Außer, du hast einen merkwürdigen Fetisch. Deshalb zucke ich nur möglichst cool mit den Schultern und brülle zurück: „Keine Ahnung“. Mit der Antwort kann man meist nichts falsch machen. Langsam wird dein Lächeln breiter, während du mich sehr belustigt ansiehst. Entweder ist mir gerade ein drittes Auge auf der Stirn gewachsen oder ich habe die falsche Antwort gewählt. Du kommst mit dem Mund näher an mein Ohr heran und berührst mit den Lippen mein Ohrläppchen. Deine Nähe bringt mich aus dem Konzept und die Berührung lässt mich erschaudern. „Du weißt nicht, wie alt du bist?“ Erschrocken starre ich dich an. Oh nein! „Er hält dich für einen Freak!“ Im letzten Hinterstübchen meines Gehirns, suche ich nach einer möglichst schlagfertigen Antwort, um aus der Blamage unbeschadet herauszukommen. „Verdrängung“, sage ich kurz und hoffe, du könntest über mein Missgeschick hinwegsehen. „Ich bin sechzehn.“, füge ich knapp hinzu. „Und du?“.

„Auch. Aber gerade erst geworden.“ Krass! Ich hätte gedacht, dass du mindestens zwei Jahre älter wärest, als ich. Stattdessen bist du fast ein Jahr jünger.

„Herzlichen Glückwunsch, nachträglich“, sage ich verlegen.

Während wir so nebeneinander stehen und uns peinlich berührt immer wieder zulächeln, entdecke ich aus dem Augenwinkel Ahmet. Er geht mit Emma, Chris und mir zur Schule. Eine Zeit lang habe ich hin und wieder mit ihm gechattet und wir haben uns gut verstanden. Bis zu dem Tag, an dem er die glorreiche Idee hatte, mich in der Schule schlechtmachen zu müssen. Er hat herumerzählt, ich würde auf ihn stehen und hätte ihm gegenüber anzügliche Bemerkungen fallen lassen, was totaler Schwachsinn ist! Immer, wenn ich ihm in der Schule über den Weg gelaufen bin, hat er entweder laut und schrill losgestöhnt oder aber irgendwelche komischen Verrenkungen gemacht, die an Sex erinnern sollten. Als wäre ich mit diesem Mistkerl ins Bett gegangen! Einbildung ist schließlich auch eine Bildung. Wenn man nichts anderes kann, dann muss man wohl Gerüchte in die Welt setzen. Und heute habe ich erst recht keine Lust, mich mit seinen Komplexen zu beschäftigen. Als hätte Ahmet meine Gedanken gelesen, zwinkert er mir zu und leckt sich lüstern sie Lippen. Schnell wende ich mich ab. Mir ist zum Kotzen zumute, aber ich bin erleichtert, dass du diese Szene nicht mitbekommen hast. Ich möchte dir unbedingt gefallen und keinen falschen Eindruck von mir vermitteln.

Endlich werden uns unsere Getränke überreicht und die peinliche Stille nimmt ein Ende. Schnell greife ich nach den Bierflaschen, um dich die Sektgläser tragen zu lassen. Gläser und ich waren noch nie gute Freunde. Du scheinst meinen Plan durchschaut zu haben, denn du grinst mich wissentlich an. Mit den Gläsern und Flaschen bewaffnet begeben wir uns durch das Getümmel zurück zu den anderen. Dort angekommen, zieht Chris mich an sich heran und raunt mir entsetzt ins Ohr, dass er Ahmet ebenfalls bemerkt hätte. Ich winke ab und möchte mich heute Abend nicht weiter mit diesem Thema beschäftigen, aber du siehst uns fragend an. Chris beugt sich zu dir hinüber, um auch dich in die spannende Geschichte einzuweihen. „Der Typ zieht Nora in der ganzen Schule durch den Dreck“, höre ich Chris nur sagen. Vielen Dank! Mir ist die Situation äußerst unangenehm. Verstohlen fummle ich an dem Etikett meiner Bierflasche und haue Chris auf die Schulter, um ihn zum Aufhören zu bewegen. Doch er nimmt mich überhaupt nicht zur Kenntnis.

Du hörst aufmerksam zu und siehst mich dann überrascht an. Entschlossen greifst du nach meiner Hand und ziehst mich auf die Tanzfläche. Was hast du vor?

Ahmet steht mit seinen Jungs in einer Ecke und lässt seinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Seine schmierigen Haare erinnern mich an die, eines Kens von Barbie.

„Wer von denen ist es?“, fragst du mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung der Jungs. Deine Kinnmuskulatur zuckt, als würdest du die Zähne fest aufeinanderpressen. „Ben, es ist nichts los. Lass uns einfach gehen“, versuche ich, dich zum Aufhören zu bewegen, aber meine Überzeugungsarbeit greift ins Leere. Starr siehst du mir in die Augen und wartest auf eine Antwort. Unauffällig zeige ich mit dem Finger auf Ahmet und du ziehst mich weiter quer durch den Raum. Die Angst überkommt mich, du könntest Ahmet eine verpassen wollen, aber wir stellen uns nur in sein Sichtfeld. Wahrscheinlich möchtest du ihn aus der Entfernung abchecken. „Lass uns bitte wieder zu den anderen gehen!“, starte ich einen neuen Versuch, doch du schüttelst den Kopf und grinst schief. Du umfasst mit beiden Händen meinen Nacken und ziehst mich an dich heran. Oh, diese Hände!

Die Musik dröhnt aus den Boxen. Der Bass sorgt dafür, dass der Boden unter unseren Füßen vibriert.

„Machst du mit?“, fragst du mich und ich nicke perplex. Ich habe absolut keine Ahnung, was du vorhast, aber ich würde wahrscheinlich auch nicken, wenn du vorschlagen würdest, mit mir gemeinsam eine Bank auszurauben. Oder eben, Ahmet umzubringen und seine Eingeweide als Konfetti zu benutzen.

Du ziehst mich noch näher an dich heran, sodass sich unsere Körper nun berühren und wir bewegen uns zur Musik. Mein ganzer Körper erschaudert und ich hoffe, dass du nicht bemerkst, wie ich schnell nach Luft schnappe. In dem Moment hätte ich gern Sekundenkleber gehabt, um dich für immer an mich anzukleben. Deine Hände streichen durch meine Haare und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich bin wie elektrisiert. Jede Berührung von dir lässt mein Herz schneller schlagen. Was hast du nur vor? Du siehst mir in die Augen. „Sag Bescheid, wenn du das nicht willst!“ Dein Blick ist ernst und aufrichtig. Du legst deine Hände auf meine Wangen, beugst dich vor und küsst mich. Im ersten Moment spiele ich mit dem Gedanken, dir eine zu scheuern. Was fällt dir ein, mich ohne ein Wort zu küssen?! Bisher weiß ich nur, dass dein Name „Ben“ ist. Ansonsten bist du mir völlig unbekannt. Außerdem habe ich keine Vorstellung davon, was du mit dieser Aktion bei Ahmet auslösen möchtest. Auf Eifersucht kannst du wohl nicht hoffen, soviel steht fest. Meine Hände verkrampfen sich an deiner Brust und ich möchte dich von mir drücken, doch mein Hirn hat die Arbeit für heute eingestellt, hat aufgehört zu denken und das Für und Wider abzuwiegen.

Deine Lippen sind weich und deine Berührungen sanft. Behutsam öffnest du mit deinen Lippen meinen Mund, sodass sich unsere Zungen berühren können. Hätte ich mir doch bloß vorher einen Pfefferminz eingeschmissen! Auch sonst wäre ich gern etwas besser vorbereitet gewesen. Dann hätte ich wenigstens noch den überschüssigen Speichel in meinem Mund hinunterschlucken können. Wie angewurzelt stehe ich inmitten der Menge und fühle mich nicht dazu in der Lage, mich zu bewegen. Möchtest du, dass ich dich auch berühre? Ich presse meinen Körper an deinen, sodass kein Millimeter Platz zwischen uns bleibt und schaffe es sogar, meine Arme zu heben und sie dir um den Hals zu legen. Ich spüre dein breites Kreuz und deine Muskeln, die sich unter meiner Berührung verhärten. Alles um mich herum verschwimmt. Ahmet und deine Motive sind mir längst egal. Ich will dich und will, dass der Kuss niemals endet! Deine Hände wandern über meine Schultern zu meiner Taille und graben sich in meine Haut. Ich japse nach Luft, bin überhaupt nicht mehr Herr meiner Sinne und verliere mich total in deinen Berührungen. Schon lange höre ich keine Musik mehr und nehme keine Geräusche mehr wahr. Vielleicht sind alle nach Hause gegangen und wir wurden hier eingeschlossen und müssen jetzt nur noch von Wasser und Staub leben. Es wäre mir egal! Mir ist alles egal. Niemals hätte ich gedacht, solche Signale meines Körpers empfangen zu können. Alles fühlt sich leicht und unbeschwert an, als würde ich schweben.

Auf einmal werden wir voneinander getrennt, denn Chris haut dir freundschaftlich auf den Rücken und zerstört damit diesen wundervollen Augenblick. Die anderen haben uns anscheinend gefunden. Du zuckst zusammen und löst dich von mir. Auf einmal höre ich auch die Musik wieder.

„Hätte ich dich doch lieber Zuhause lassen sollen, Alter?“, fragt Chris und lacht. Du lachst ebenfalls und wendest dich dann ab. „Ich habe noch etwas zu erledigen“, raunst du mir zu. Du gehst ein paar Schritte auf Ahmet zu und tippst ihm auf die Schulter. Ich kann kaum hinsehen. Verschwende deine Energie doch nicht an diesen Mistkerl!

„Merk dir mein Gesicht, Alter“ Ganz dicht trittst du an Ahmet heran. „Nimmst du noch einmal den Namen meines Mädchens in den Mund, sehen wir uns wieder!“. Mit einer ausladenden Bewegung deutest du auf mich. „Mein Mädchen“, hast du gesagt! Ich schmelze dahin wie ein Eis am Stiel.

Ich sehe, wie Ahmet Anstalten macht, sich zu rechtfertigen und entschuldigend die Hände hebt, aber du schenkst ihm keine Beachtung mehr und kommst zu uns zurück. Du beugst dich zu mir. „Sollte er dir noch einmal Ärger machen, sag mir Bescheid!“

Ich nehme deine Hand und ziehe dich nach draußen. Nach der ganzen Aufregung brauche ich dringend frische Luft. Nachdem ich meine Zigarettenschachtel in der Tasche gefunden habe, halte ich sie dir hin und du nimmst dir eine Zigarette davon heraus. Du ziehst dein Feuerzeug aus deiner Jackentasche und zündest unsere beiden Zigaretten an. „Ich wollte mich bei dir bedanken.“ Fragend ziehst du die Augenbrauen hoch: „Wofür?“

„Danke, dass du Ahmet so eine Ansage gemacht hast.“ Irgendwie ist mir die Situation peinlich. Du grinst frech und antwortest: „Naja, ich kann ja nicht behaupten, dass ich davon nichts hatte.“ Du beginnst zu lachen. Ich bin völlig überfordert mit deiner Anwesenheit. In meinem Kopf dreht sich alles und ich kann nicht mehr klar denken. So viele Dinge möchte ich dir sagen und dich fragen, aber ich finde keine Worte. Also pusten wir stumm graublaue Rauchschwaden in das Dunkel der Nacht, bis du endlich das peinliche Schweigen brichst. „Ist der Typ immer so ängstlich?“ Wir lachen beide bei der Erinnerung an Ahmets Reaktion. Ich ahme sogar seine beknackten Bewegungen nach und wir lachen uns schief über meine Parodie. Das Eis zwischen uns scheint gebrochen zu sein.

„Was wolltest du eigentlich mit diesem Kuss bezwecken?“. Auch wenn es mir eigentlich gleichgültig ist, würden mich deine Motive interessieren.

„Es musste ja glaubwürdig sein, dass du einen Freund hast. Außerdem wollte ich ihm beweisen, dass du es gar nicht nötig hast, dich mit ihm abzugeben.“

„Aber mit dir, ja?“, frage ich frech.

Du grinst mich schief an: „Ich denke schon, dass du das solltest“, erwiderst du schlagfertig.

Einen Augenblick stehen wir einfach nebeneinander. Nervös spiele ich an einer Haarsträhne. Ich sehe hoch zum Himmel, der eher grau als schwarz ist. Kein einziger Stern ist zu sehen. Dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und spreche laut aus, was mir schon die ganze Zeit im Kopf herumschwirrt. „Für eine Show hat sich das ziemlich echt angefühlt.“

Du siehst mich an und scheinst zu überlegen. Ich habe das Gefühl, dass du deine Worte generell mit Bedacht wählst und nicht wie ich, einfach drauf los redest. Schon bereue ich meine Worte. Wo ist das Loch im Boden, in das ich kriechen kann? „Also, du bist ein guter Schauspieler, wollte ich damit sagen“, versuche ich, das Ruder wieder herumzureißen.

„Also, es war eigentlich als Show gedacht, aber du gefällst mir und es hat sich richtig angefühlt, weiterzumachen.“ Du sagst das so cool dahin, als wären solche Aktionen nichts Besonderes für dich. Trotzdem bin ich dir völlig verfallen. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, mache ich einen Schritt auf dich zu und küsse dich. „Sag Bescheid, wenn du das nicht willst!“

Diesmal bin ich diejenige, die das zu dir sagt.

„Mensch, hier seid ihr! Wir suchen euch überall!“

Emma steht vor uns und dieser wunderbare Moment wird an diesem Abend ein zweites Mal zerstört. „Süße, wir haben doch eine Mission.“ Vorwurfsvoll sieht Emma mich an, doch als sie meinen flehenden Blick sieht, ändert sich ihre Miene. „aber ich will euch zwei Hübschen natürlich nicht stören“, säuselt sie zuckersüß. Oh, nein! An die Sache mit Tony habe ich nicht mehr gedacht, seit ich dir das erste Mal gegenüber stand. Ich entschuldige mich bei meiner besten Freundin und begleite sie zusammen mit dir ins Innere der Disco zu den anderen. Dort angekommen werden wir mit Pfiffen und Jubelrufen begrüßt. „Nora, du alte Aufreißerin. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Chris nimmt mich freundschaftlich in den Arm, drückt seine Wange an meine und raunt mir ins Ohr: „Halt ihn dir warm! Er ist der beste Mensch, den ich kenne.“ Chris weiß, dass es äußerst untypisch für mich ist, mich bei der ersten Begegnung küssen zu lassen. Überhaupt haben meine Freunde mich noch nie zusammen mit einem Typen gesehen.

Während sich die anderen zum Tanzen aufmachen, lassen Emma und ich unsere Blicke durch die Disco schweifen. Wir entdecken Tony, der mit seiner Neuen an der Bar steht. So richtig zufrieden sieht er allerdings nicht aus. Ich kann ihn verstehen. Emma ist eindeutig die bessere Wahl gewesen. Gelangweilt schlürft die Unbekannte ihren Drink und sieht wenig begeistert aus.

Emma hakt sich bei mir ein und gemeinsam halten wir nach einem geeigneten Typen für unsere Mission Ausschau. Dabei fallen mir die vielen Mädchen auf der Tanzfläche auf. Ich kann sie nur bemitleiden, wie sie sich förmlich anbieten und sich schon fast obszön bewegen. Schnell wende ich den Blick ab und sehe in deine Richtung. Du grinst mich schief an und ich erkenne Mitleid in deinem Blick. Wie gern wäre ich bei dir geblieben! Du hebst deine Bierflasche zum Gruß und verlässt die Disco. Willst du schon gehen? Du schnappst wahrscheinlich draußen nur ein wenig frische Luft, versuche ich mich zu beruhigen.

An der Tür entdecke ich einen Typen, der in Emmas Beuteschema passen könnte. Er ist groß, trainiert, aber nicht übermäßig muskulös, hat dunkle Haare und Augen und ein offenes, aufgeschlossenes Gesicht. Er ist mit einem Kumpel hier, mit dem er gerade anstößt und sich angeregt unterhält. Mit einer Kopfbewegung in seine Richtung, gebe ich Emma zu verstehen, ein mögliches Opfer für unsere Mission gefunden zu haben. Emma wirkt entzückt. Also stellen wir uns in ein paar Metern Entfernung neben die beiden und hoffen, dass sie auf uns aufmerksam werden.

Plötzlich verstummt die Musik, damit der DJ eine Ansage machen kann: „Willkommen im BEAT, Leute! Ich hoffe, ihr habt alle Spaß!“ Alle jubeln und grölen. „Heute ist wieder Ladiesnight. Also liebe Ladies, seid nicht schüchtern und schnappt euch den Mann euer Wahl für das nächste Lied!“

Das ist unsere Chance! Ich schubse Emma sanft in Richtung unseres Auserwählten, doch sie sträubt sich. „Komm schon, Emma! Jetzt oder nie. Was hast du zu verlieren?“ Sämtliche Argumente, die dafür sprechen, den jungen Mann um einen Tanz zu bitten, prallen an ihr ab. Sie traut sich einfach nicht. Also bleiben wir nebeneinander stehen und beobachten die neu zusammengewürfelten Pärchen, die sich auf der Tanzfläche versammeln. Ich halte nach dir Ausschau, kann dich aber nicht entdecken. Du bist doch nicht wirklich gegangen? Ich hätte dich zwar jetzt nicht zum Tanzen aufgefordert, aber traurig wäre es trotzdem.

Jetzt liegt der Fokus auf meiner besten Freundin. Sie ist im Augenblick wichtiger und ich möchte meine Versprechen halten. Kurz überlege ich, selbst zu unserem Opfer hinüber zu gehen, um damit eine Brücke zwischen den beiden herzustellen. Schnell verwerfe ich den Gedanken wieder. Das würde Emma nur in Verlegenheit bringen und unsicher machen. Der Kerl scheint ihr wirklich zu gefallen. Unter normalen Umständen ist Emma kein Kind von Traurigkeit und überhaupt nicht schüchtern!

„Ich weiß, es ist Damenwahl, aber darf ich dich trotzdem um einen Tanz bitten?“ Gleichzeitig drehen Emma und ich uns um.

Ich fasse es nicht! Das ist eindeutig Schicksal. Mir fällt die Kinnlade herunter. Da steht doch tatsächlich Emmas Auserwählter und bittet sie um einen Tanz! Emma schüttelt ihre Unsicherheit von eben ab und setzt ein Pokerface auf. Während sich die beiden von mir entfernen, dreht Emma sich noch einmal zu mir um und wirft mir ein stummes „Wuhuuuu“ zu. Ich freue mich für sie. Auf der Tanzfläche ist sie nun auch wieder die Alte. Ausgelassen tanzen die beiden. Ab und zu unterbrechen sie ihre Bewegung, um sich gegenseitig etwas ins Ohr zu schreien. Ich stehe zu weit abseits, um auszumachen, worüber sie sich unterhalten.

Plötzlich steht Tony neben mir. „Na, wo hast du deine bessere Hälfte gelassen?“, fragt er mich schadenfroh. Als ich mit dem Finger auf meine beste Freundin zeige, die in diesem Moment eng umschlungen mit dem Unbekannten tanzt, setzt er ein gequältes Lächeln auf. „Wie schön, dass sie sich amüsiert“, sagt er knapp und zieht von dannen. Fast bekomme ich Mitleid mit ihm. Er erinnert mich an einen Hund, dem der Kauknochen weggenommen wurde. Innerlich aber feiere ich. Mission „Tony“ geglückt! Eins zu null für uns.

Nach einer Weile komme ich mir ziemlich dämlich vor, wie ich so allein dastehe. Also gehe ich zu den anderen zurück. Ich erreiche sie gleichzeitig mit dir, denn du scheinst gerade von draußen gekommen zu sein. Du bist also doch nicht gegangen! Mein Herz macht einen Hüpfer.

Zu fünft feiern wir und genießen die gute Musik. Wir hopsen auf der Stelle, drehen uns im Kreis, machen Blödsinn und haben einfach Spaß. „Remmidemmi“ ertönt aus den Boxen und wir alle grölen lauthals mit. Die anderen Mädchen sind auch sehr nett und lustig. Bisher habe ich mich ja nicht sehr viel mit ihnen beschäftigt. Sandra hat mir sogar ein neues Bier geholt und gemeinsam trinken wir auf Brüderschaft, beziehungsweise Schwesternschaft.

Du bist anders als zuvor, wirkst total verändert. Zwar bist du gut drauf, bist offener als eben noch und hast auch keine Hemmungen mehr, aus dir heraus zu gehen. Sofort steigst du in unseren Blödsinn mit ein und hopst mit uns auf der Stelle. Irgendetwas stört mich, ist anders als zuvor und ich könnte nicht sagen, was genau es ist. Von dem Selbstbewusstsein, das dir eben noch zu fehlen schien, hast du plötzlich mehr als genug. Deine Augen sind gerötet und obwohl du völlig überdreht bist, siehst du müde und schlapp aus. Meine Augen suchen deine, finden sie schließlich, doch du wendest dich ab. Habe ich etwas falsch gemacht? Fast schon arrogant siehst du in meine Richtung. Was ist mit dir passiert, als du draußen warst? Du scheinst eine Maske zu tragen. Willst du irgendetwas überspielen? Hattest du draußen einen Streit und versuchst es uns nicht merken zu lassen? Oder hast du eine schlechte Nachricht bekommen? Egal, was ich tue, mir gehst du aus dem Weg. Ich komme nicht mehr an dich heran. Sobald ich mich dir nähere, flüchtest du, schaffst es nicht, mich anzusehen. Plötzlich bin ich Luft für dich. Offensichtlich hast du ein Problem mit mir. Bereust du, was zwischen uns war? Tausend Fragen blubbern in meinem Kopf, warten darauf, gestellt zu werden, aber ich will dir nicht zu nahe treten. Du bist wie ausgewechselt, nicht mehr derselbe, der mir vorhin noch so nah war. Ich habe das Gefühl, dass wir Welten voneinander entfernt sind und bereue den Kuss, den es zwischen uns gab. Warum war ich nur so dumm und habe geglaubt, er hätte für dich etwas zu bedeuten gehabt?

Irgendwann halte ich diese Distanz nicht mehr aus und gehe auf dich zu. „Alles okay?“, frage ich knapp. Du nickst und gibst mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Nichts von dem Gefühlswirrwarr von vorhin ist noch zu spüren. Es ist ein schneller Kuss. Du hättest genauso gut deine Oma küssen können. Dann verschwindest du wieder, um mit den anderen zu feiern. Ich bin für dich nicht mehr anwesend.

Eine kurze Ewigkeit

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