Читать книгу Eine kurze Ewigkeit - Angelina Knubbe - Страница 5
12. Februar 2015
ОглавлениеAm nächsten Morgen wird mir klar, dass ich nichts von dir habe. Keine Telefonnummer, E-Mailadresse oder dergleichen. Deinen vollen Namen kenne ich auch nicht, weshalb ich auch nicht dein Profil bei Facebook suchen kann. Ich habe einen Geistesblitz und möchte in der Freundesliste von Chris nach dir suchen. Leider hat Chris die Einsicht auf seine Freunde gesperrt. Verdammt!
Sollte ich Chris nach deiner Nummer fragen? Vielleicht etwas voreilig. Ich möchte nicht zu anhänglich wirken und dich nicht einengen. Trotzdem juckt es mich in den Fingern. Irgendetwas muss ich doch tun können? Ich weiß noch nicht einmal, ob ich dich überhaupt wiedersehen werde.
Nach deinem Abgang von gestern bin ich sowieso total unsicher. Ganz plötzlich hast du dich verabschiedet mit der Begründung, du müsstest zu einem Freund, dem es schlecht ginge. Ich bin mir nicht sicher, ob dies der Wahrheit entsprach und habe das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Bestimmt lag es an mir!
Wenn du ehrliches Interesse an mir hast, wirst du mich schon irgendwie ausfindig machen, versuche ich mich zu beruhigen. Ansonsten soll es wohl einfach nicht sein. Ich spüre eine innere Unruhe, wie man es oft vor einer Prüfung hat. Mir ist schlecht, mein Herz schlägt schneller als sonst und ich pule an meiner Nagelhaut. Meine Daumen sehen fürchterlich aus. Die Haut hat sich durch meine Knibbelei vollkommen abgelöst und mein Nagellack ist an vielen Stellen abgeblättert, obwohl ich meine Nägel erst gestern lackiert habe.
Meine Gefühle fahren Achterbahn. Während gestern noch mein Herz aus der Brust zu springen drohte, fühle ich mich heute taub und leer. Wahrscheinlich bin ich manisch depressiv!
Obwohl es nur ein Kuss war und ich dich vor fünfzehn Stunden noch gar nicht gekannt habe, scheint nichts mehr einen Sinn zu machen. Oh Gott! Ich bin ganz sicher manisch depressiv!
Mit meinen großen Kopfhörern auf den Ohren, liege ich im Bett und starre an die Decke. Ich müsste mal wieder die Ecken von Spinnenweben befreien, denke ich. Leise dudelt die Musik vor sich hin. Für meinen Geschmack zu leise. Ich taste nach meinem Handy, das stumm auf meinem Nachtschrank liegt und drehe die Musik auf die volle Lautstärke. Angestrengt überlege ich, was ich falsch gemacht habe und welche Möglichkeiten noch für deine plötzliche Wesensveränderung infrage kommen. Solange ich dich diesbezüglich nicht frage, werde ich allerdings keine Antworten bekommen. Schon wieder überlege ich, Chris nach deiner Nummer zu fragen. „Schreib ihm! Schreib ihm!“, rumort es in meinem Kopf. Ich lasse es. Für dich scheint dieser Abend eine völlig andere Bedeutung gehabt zu haben und Stalking wird meines Wissens nach mit Freiheitsentzug bestraft.
In meine düsteren Gedanken vertieft, bemerke ich meine Mutter gar nicht, die plötzlich in meinem Zimmer steht. Ich mache mich auf einen Vortrag gefasst und seufze. In meinem Zimmer sieht es genauso aus, wie in meiner Seele. Überall stehen leere Gläser und Teller herum, eine dicke Staubschicht überzieht meine Möbel und ein Berg von Klamotten liegt auf dem Boden. Auf meinem Fernseher prangt das Wort „Sau“. Ein Gruß, den mir meine Mutter schon vor zwei Wochen hinterlassen hat.
Entgegen aller Erwartungen kommt sie an mein Bett und überreicht mir eine Tasse frischen Kaffee. Überrascht reiße ich mir die Kopfhörer von den Ohren.
„Willst du heute gar nicht mehr aufstehen?“. Fragend sieht sie mich an. Ich schüttele den Kopf und blicke auf meine dicken, rosafarbenen Hausschuhe. „Ist alles in Ordnung, Süße?“. Sie wirkt besorgt. Stumm nicke ich und versuche inständig, sie meine Traurigkeit nicht spüren zu lassen. Mit dieser Antwort scheint sie allerdings nicht zufrieden zu sein, weshalb ich hinzufüge: „Ich bin nur müde. Es war ein langer Abend.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Wenn du Sorgen hast, sag mir bitte Bescheid!“ Sie verlässt mein Zimmer und überlässt mich meinem Gefühlschaos. Ich könnte heulen und verstehe einfach nicht, warum überhaupt. Ein einziger Abend kann doch nicht mein ganzes Leben komplett auf den Kopf stellen. Anscheinend schon!
Um mich ein wenig aufzuheitern, sehe ich mir die Fotos an meiner Wand an. In meinen knapp zwölf Quadratmetern finden sich überall Bilder wider. Ich liebe Fotos. Sie helfen mir, mich an die schönen Zeiten zu erinnern. Momente, die genauso nie wieder passieren werden. Ich entdecke das Bild von Emma, Chris und mir, das vor der Turnhalle unserer Schule gemacht wurde. Chris steht in der Mitte und fühlt sich offensichtlich sehr wichtig, gleich zwei Mädels im Arm halten zu dürfen.
Plötzlich bekomme ich Angst. Was ist, wenn wir uns alle nach der Schulzeit aus den Augen verlieren oder uns wohlmöglich noch nicht einmal mehr leiden können? Zeit ist vergänglich. Wir werden uns alle in völlig verschiedene Richtungen bewegen. Der eine wird studieren, der andere eine Ausbildung beginnen. Ein anderer wird eventuell ins Ausland gehen und wieder ein anderer das Vormittagsprogramm im Fernsehen auswendig lernen. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Freundschaft diesen Veränderungen standhalten kann. Emma scheint jetzt schon auf Wolke sieben zu sein und wird sich in nächster Zeit vermutlich vermehrt ihrer neuen Eroberung von gestern hingeben. Zwischen den beiden hat es kräftig gefunkt. Den ganzen Abend über waren sie zusammen, haben gelacht, gefeiert und sich super verstanden. Später kamen sie wieder zu uns herüber und der Typ stellte sich als „Noel“ vor. Er macht einen sehr netten und lustigen Eindruck. Sofort hat er mit uns gefeiert und ist in unseren Blödsinn mit eingestiegen. Und Emma ist glücklich. Nur das zählt!
Ich bete zum lieben Gott, mich nicht um meine besten Freunde zu berauben und verwerfe meinen vorigen Gedanken. Das Band unserer Freundschaft ist viel zu stark, als dass uns Kleinigkeiten auseinanderreißen könnten.
In der Sache mit dir bin ich immer noch nicht weitergekommen, während meine Playlist zum vierzigsten Mal vor sich hindudelt. Zu gern würde ich verstehen, was mit dir los ist, ob ich etwas falsch gemacht- oder etwas Doofes gesagt habe.
Die Sonne, die aussieht, wie ein gigantischer Feuerball, geht langsam unter. Den ganzen Tag habe ich noch nichts gegessen, verspüre jedoch trotzdem keinen Hunger. Was ist nur los mit mir? Mir ist selbst klar, wie krankhaft ich mich verhalte. Es war immerhin nur ein Kuss und wahrscheinlich ziehst du solche Nummern jedes Wochenende ab. Ich war nur eine von vielen. Ich schaue aus dem Fenster und ertrinke in Selbstmitleid. „Reiß dich zusammen, Nora!“
Der Tag ist vergangen, ohne dass ich irgendetwas Sinnvolles getan hatte. Selbst zum Fernsehen hatte ich keine Lust. Ab und zu bin ich eingenickt und bin immer wieder den gestrigen Abend durchgegangen. Durch den Mangel an Bewegung schmerzt mein Rücken, doch aufstehen tu ich trotzdem nicht. Teilnahmslos sehe ich auf mein Handy, scrolle durch die Apps und Fotos und warte. Worauf warte ich eigentlich? Niedergeschlagen lege ich das Handy auf meinen Nachtschrank und sehe aus dem Fenster.
Langsam wird es schon wieder dunkel und die Nachbarn knipsen ihre Lichter an. Die Nachbarn haben sich eine neue Eingangsbeleuchtung installieren lassen, die durch das grelle Licht an den Empfang einer Psychiatrie aus einem Horrorfilm erinnert. Ich registriere eine junge Frau, die nach Hause kommt. Wie eine Spannerin beobachte ich, wie sie die Stufen im Treppenhaus hinaufgeht und im dritten Stock die Tür aufschließt. In der Küche erspähe ich einen Mann in ihrem Alter, der am Herd steht. Als sie den Flur betritt, unterbricht er seine Handlung und begrüßt sie freudestrahlend. Ich beneide die junge Frau. Wie gern hätte ich ebenfalls jemanden, der Zuhause auf mich wartet und der sich auf mich freut.
Plötzlich vibriert mein Handy. Blitzartig springe ich aus dem Bett und wäre beinahe kopfüber heruntergefallen. Ich gebe den Code meines Handys ein und das Chatfenster öffnet sich.
Ben: Hey! Ich wollte mich mal erkundigen, wie es dir geht und ob du gestern gut heim gekommen bist?
Nora: Na! Alles Bestens, danke. Wie geht es dir? Konntest du deinen Freund etwas aufheitern?
Ben: Ja, ihm geht es schon etwas besser. Sorry, dass ich gestern einfach abgehauen bin. Hatte nichts mit dir zu tun.
Nora: Alles gut, mach dir keinen Kopf!
Ben: Was machst du denn morgen Schönes?
Ich brauche einen Moment zum Durchatmen. Soll das etwa der Vorschlag zu einem Treffen sein? Vor Aufregung trommle ich mit den Fäusten auf meine Oberschenkel und muss aufpassen, dass ich meine Mundwinkel nicht später von meiner Stirn abkratzen muss. Mein Leben ist wieder in Ordnung. Du hast dich gemeldet, und das ohne dass ich dich vorher belästigen musste. Ich scheine dir ja auch wichtig genug zu sein, dass du dir meine Nummer besorgt hast. Es klopft an der Tür und meine Mutter steckt den Kopf herein. „Ist alles wieder in Ordnung, mein Schatz?“. Die Frage ist völlig überflüssig. Sie braucht nur in mein Gesicht schauen und müsste dann wissen, dass ich mir entweder eine Nadel in den Arm gejagt habe oder dass meine Welt wieder vollkommen in Ordnung ist. Meine Mutter ist nicht doof. Sie weiß genau, was mit mir los ist und weiß, was in mir vorgeht, ohne dass ich etwas sagen muss.
Sie scheint schnell zu bemerken, dass ihre Frage durch meine Mimik schon beantwortet wurde. Verschwörerisch grinsend verlässt sie mein Zimmer. Ich bin so voller Glückshormone, dass ich schreien könnte.
Nora: Ich muss morgen nach der Schule Ballettunterricht geben. Was machst du?
Ben: Hab noch nichts geplant. Lust, danach bei mir vorbeizukommen?
Wuuuuuaaaahhh… Alles kribbelt, wie tausend Ameisen, die sich in meinem Bauch eingenistet haben und jetzt eine Party feiern. Du willst mich sehen und zwar schon morgen!
Trotzdem versuche ich, cool zu bleiben. Tief durchatmen!
Nora: Klar, kann ich machen. Hab bis 16:00 Uhr Unterricht, dann komme ich.
Ben: Ich freue mich auf dich!
Nora: Ich freue mich auch.
Vor meinem Auge blinken überall rote Herzen. Alles um mich herum ist in ein rosarotes Licht getaucht. Die Welt ist schön! Meine Gefühle müssen heraus. Ich bin nicht mehr in der Lage, sie für mich zu behalten. Mit irgendjemandem muss ich jetzt sprechen, bevor sie mich völlig übermannen.
Mit zitternden Fingern tippe ich eine Nachricht in mein Handy. „Emma, ich brauche dich! In zehn Minuten bei den Mülltonnen.“ Schnell verlasse ich mein Zimmer und schnappe mir meine Jacke. Ich werfe meinen Eltern ein „Spätestens-um-zehn-bin-ich-wieder-da“ zu und gehe.