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Kapitel 3

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Vanessa leerte den Briefkasten, bevor sie die Wohnung betrat. Die obersten zwei Briefe waren Rechnungen. Sie sehnte sich zu den Zeiten zurück, als man noch Brieffreunde hatte und nicht nur per WhatsApp kurze Mitteilungen sandte und als Geschenk einen unpersönlichen Emoticon hinterher warf.

Der dritte Brief hatte eine rote Schrift und offenbarte bereits den Inhalt. Es war eine Werbesendung für den Zirkus. In dem Umschlag lagen zwei Tickets, die ein freies Getränk für jedes Kind ankündigten, das zu den zwei Terminen am Wochenende kommen würde.

Wegen all der Gerüchte um Wilhelms Tod bezweifelte sie, dass überhaupt jemand hingehen würde von den Dorfbewohnern. Die Artisten taten ihr leid. Allein deshalb überlegte sie hinzugehen, natürlich ohne ihren Sohn.

Diesen Hype um Clowns hatte sie schon vor einem Jahr nicht verstanden. Clowns mochten vielen Menschen komisch erscheinen, auch im negativen Sinne. Aber Angst vor Clowns zu haben, schien ihr wirklich merkwürdig.

Außer es handelte sich um Kinder. Es gab Entwicklungsphasen, in denen die Angst vor bleichen Gesichtern und Puppen normal war. Warum ausgerechnet Erwachsene gern Horrorfilme wie »Chucky, die Mörderpuppe« oder »Es« sahen, blieb ihr ein Rätsel. Wahrscheinlich war es der Nervenkitzel, den sie im realen Leben vermissten.

Vanessa hörte den Hausschlüssel im Schloss kratzen. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass es ihr Sohn sein musste, der nach der achten Stunde endlich frei hatte. Sie nahm einen letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse und erhob sich dann, um ihn zu begrüßen.

»Mama? Ich bin d – Aaaahhhhh.«

Roberts Schrei klang durch die Wohnung. Vanessa sprang auf und rannte in den Flur. Dort stand er mit ausgestrecktem Zeigefinger, presste sich an die gegenüberliegende Wand.

Vor ihm lag auf dem Schuhschrank Toms Clownsmaske. Seine Mutter schalt sich, dass sie so unachtsam gewesen war.

»Entschuldige.«

»Was ist das?«

»Das ist eine Maske.«

»Ich weiß«, schrie er und sah sie empört an. »Was macht die hier?«

»Ganz ruhig! Ich pack sie ja weg.«

Er nickte heftig und hielt sich mit der rechten Hand die Brust. Achtlos ließ er seinen blauen Schulranzen fallen und ging an ihr vorbei in die Küche. Sie sah ihm nach. Der erste Blick in den Kühlschrank ließ ihn sichtlich unbefriedigt zurück.

»Was gibt’s heute?«, fragte er noch immer außer Atem.

»Du kannst dir die Nudeln von gestern warm machen. Wir haben noch Pesto.«

Robert verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah ihr im Augenwinkel dabei zu, wie sie die Maske in einer Schublade verschwinden ließ.

»Kann ich mir einen Döner holen?«

»Wenn du heute Abend die Nudeln aufisst?«

Er nickte und ging auf sie zu, nachdem sie die Schublade geschlossen hatte. Aus dem Portemonnaie auf der Anrichte zog Vanessa einen Zehneuroschein und legte ihn ihrem Sohn in die ausgestreckte Hand. Ohne weitere Worte griff er sich seinen Hausschlüssel aus der Mappe und ging zur Tür.

»Bring mir einen mit! Komplett, mit extra Käse. Und fahr auf der Rücktour bei Frau Helm vorbei und bring eine Packung Eier mit.«

»Okay. Bin gleich wieder da.«

Sie lächelte traurig. Roberts Vater war ein großer Horrorfilmfan und dieser Abschiedssatz war eine Ankündigung für den baldigen Tod des Sprechers. Sie konnte am Gesicht ihres Sohns sehen, wie schauerlich sich diese Anspielung in Anbetracht der momentanen Umstände für ihn anfühlen musste.

Vanessa ging zurück in die Stube und setzte sich vor den Fernseher. Die nächste halbe Stunde würde er unterwegs sein. Robert musste mit dem Fahrrad in die benachbarte Ortschaft fahren. Dort hatten immerhin ein Tante Emma Laden und eine Imbissbude überlebt.

Während sie eine Folge »How I met your Mother« schaute, fragte sie sich, wie Robert wohl reagieren würde, wenn sie ihm von Toms Aktion erzählte? Wahrscheinlich ließ sie es lieber bleiben.

Woher genau seine Angst vor Clowns kam, wusste niemand so genau. Die Angst bezog sich nicht nur auf bunte Clowns, sondern auch auf bleiche Gesichter und Puppen mit starren Augen. Marcel hatte einmal die Vermutung angestellt, dass es sich um eine frühkindliche Erinnerung handeln könne.

Sie hatten einmal eine englische Märchenadaption gesehen. Als Schneewittchen in das Gemach ihrer Stiefmutter tritt, erblickt sie den Wandspiegel. Sie stellt sich davor und plötzlich fangen die weißen Masken am Spiegelrand an, mit ihr zu reden und lachten sie schließlich aus.

Die Szene war zu Recht als irre gruselig zu bezeichnen, aber dass dieser Film Roberts Phobie erklärte, wollte seine Mutter nicht glauben. Stattdessen hatte sie begonnen ehrenamtlich als Klinikclown zu arbeiten, als sich die Angst ihres Sohns vor Clowns nicht legte. Doch die Beziehung zu Robert hatte sich dadurch nur verschlechtert.

Dennoch hatte sie den Job nicht aufgeben wollen. Sie wollte verhindern, dass andere Kinder ebenso wie ihr Sohn Skepsis gegenüber Clowns empfanden. Clowns sollten Freude in die Gesichter der Menschen zaubern, keine Angst oder gar Panik wie die allseits bekannten Killerclowns, die im letzten Jahr wieder verstärkt aufgekommen waren.

Als Clowns verkleidete Menschen hatten sich einen Spaß daraus gemacht, andere Menschen zu Tode zu erschrecken, indem sie mit Hammer oder Baseballschläger bewaffnet am Straßenrand standen. Zuerst nur in den USA, doch im Herbst 2016 tauchten die Clowns aus den Vereinigten Staaten auch in Europa auf.

Noch war es nur ein Gerücht, doch sollte sich die Annahme eines als Clown kostümierten Menschen in der Nähe von Wilhelms Leiche bestätigen, sah Vanessa für den ankommenden Zirkus unangenehme Zeiten auf sich zukommen.

Als Vanessa wieder den Schlüssel im Türschloss kratzen hörte, schaltete sie den Fernseher aus und begab sich in den Flur. Widererwarten stand nicht Robert vor ihr sondern ihr Ehemann. Marcel hängte gerade seinen schwarzen Mantel an die Garderobe.

Sie ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange, so wie sie es jeden Morgen nach dem Aufstehen tat. Ihr Mann lächelte sie an und nahm seine beschlagene Brille ab. Es hatte zwar nicht geregnet, aber die Luftfeuchtigkeit war hoch.

Er zog ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Tasche und hielt es ihr mit ausdrucksloser Miene hin. Bevor sie es ergreifen konnte, um sich den ominösen Inhalt anzusehen, öffnete sich die Haustür erneut.

Robert stand in der Tür und sah seine Eltern verdutzt an. Blitzschnell wandte ihr Mann sich seinem Sohn zu und versteckte das weiße Blatt hinter seinem Rücken, für seine Frau noch gut sichtbar. Sie stutzte, ließ sich aber nichts anmerken.

»Na. Auch endlich da?«

»Wo warst du?«, fragte Marcel.

Robert legte eine Zehnerpackung Eier auf das Fensterbrett und hielt dann die Tüte mit den zwei in Alufolie eingepackten Dönern hoch.

»Hast du mir einen mitgebracht?«

»Er hat MIR einen mitgebracht.«

Vanessa ging an ihrem Mann vorbei und nahm Robert die Tüte ab, damit er sich entkleiden konnte. Auf der Rücktour zur Küche, griff sie nach dem Zettel in Marcels Hand und er ließ sie gewähren.

Bedächtig legte sie das Blatt Papier zuerst unauffällig in den Postkartenständer, dann packte sie die Döner einzeln auf große Teller. Marcel und Robert folgten ihr in die Küche. Mit einem der Brillentücher, die sich in allerhand Schubladen im ganzen Haus versteckten, reinigte Marcel seine Brille.

»Und was soll ich essen?«

»Da sind noch Nudeln im Kühlschrank«, sagte Robert.

»Netter Versuch, Schatz. Abmachung ist Abmachung.«

»Ach, Mom.«

»Nenn mich nicht so!«

Vanessa hielt ihrem Sohn den erhobenen Zeigefinger entgegen und sah ihn finster an. Sie hatte ihm schon mehrmals erklärt, dass sie nicht in einem amerikanischen Blockbuster waren und sie diese Bezeichnung herabwürdigend fand. Da war sie sich mit ihrem Mann einig.

Dennoch setzte Marcel lediglich seine Brille wieder auf und sagte:

»Ich kann sie doch auch essen.«

»Aber ich habe MEINEM Sohn gerade gesagt, dass er nur einen Döner bekommt, wenn er die Nudeln auch isst.«

»Dann esse ich die Hälfte von dem Döner MEINES Sohns und wir beide essen die Nudeln.«

Sie funkelten sich beide eine Weile lang an. Nach kurzem Bedenken willigte Vanessa ein. Sie setzen sich gemeinsam an den Tisch, nur Robert blieb stehen.

»Kann ich den Fernseher anmachen?«

»Jetzt, wo wir alle mal gemeinsam essen, fände ich es schön, wenn wir auch mal miteinander reden könnten.«

»Worüber möchtest du reden, Schatz?«, fragte Marcel provokant.

Vanessa sah ihren Mann tadelnd an, während er zum Kühlschrank ging und sich die Nudeln aus der Schüssel auf einen tiefen Teller schüttete. Er stellte die Mikrowelle an und das Summen übertönte beinahe ihre Worte.

»Was gibt’s denn Neues von der Arbeit? Oder in der Schule?«

Sie sah ihre Männer nacheinander an. Robert ließ sich frustriert auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. Marcel blieb vor der Mikrowelle stehen.

»Nichts.«

»Gar nichts?«, hakte sie nach.

»Hm.«

Robert hatte seinen Döner entpackt und biss herzhaft in die Spitze. Die Soße tropfte auf die silberne Folie und Vanessa sah ihren Mann an Robert vorbei an.

»Und die Arbeit?«

Sein Blick huschte zum Postkartenständer neben ihr, dann sah er sie wieder an.

»Na ja, war nicht viel los. Ein paar Artikel, ein paar Sterbeanzeigen. Nichts weiter.«

Das Bing der Mikrowelle ertönte und Marcel schien recht froh zu sein, etwas zu tun zu haben. Mit einer Gemächlichkeit, die nicht zu ihm passte in Anbetracht seines regen Appetits, ging er mit dem Teller zu seinem Platz. Er begann mit der Gabel in seinem Essen herumzustochern.

»Was hast du heute so für Kunden gehabt?«

»Das Übliche«, antwortete Vanessa.

»Genauer?«

Sie grinste ihren Mann an, der begann, die Nudeln genüsslich in den Mund zu schieben.

»Ehekrisen, ätzende Hunde und beschissene Technik.«

»So nenn ich meinen nächsten Artikel.«

»Mach das!«

Sie schmunzelten alle drei und eine Pause trat ein. Vanessa wollte unbedingt noch ein Thema anschneiden, das sie interessierte, doch es bot sich keine Gelegenheit. Also entschied sie sich, einfach drauflos zu fragen.

»Robert, hast du Tom heute zufällig in der Schule gesehen?«

»Der kleine Müller? Wieso?«

»Ich hab’ ihn heute früh vermisst. Sonst nimmt er mir immer die Briefe für seine Oma ab.«

Robert sprach mit vollem Mund, aber das war ihr jetzt nicht wichtig genug, um es zu kritisieren. Viel wichtiger war die gerunzelte Stirn ihres Sohns. Er überlegte einen Tick zu lang.

»Ja. Ich denke, der stand in der großen Pause auf dem Hof.«

»Du könntest Detektivin werden bei deiner Neugier«, sagte ihr Mann.

»Das ist eher Mutterinstinkt. Bei ihm war niemand Zuhause und ich hatte schon Sorge, er sei krank.«

Marcels Stirn legte sich in Falten. Sie wusste, dass er sie durchschaut hatte. Dabei war sie selbst erstaunt, wie gut sie lügen konnte. Zumindest Robert kaufte es ihr ab und stellte keine Rückfragen. Dafür wechselte er das Thema.

»Ich muss noch zu Henrik. Ich wollte ihm die Hausaufgaben vorbeibringen.«

»Bis wann?«, fragte Vanessa.

»Acht?«

»Ihr geht nicht in den Wald!«, sagte Marcel.

»Henrik wird kaum das Haus verlassen bei seinem momentanen Zustand.«

Vanessa und Marcel sahen sich mitleidvoll an. Schließlich gab Roberts Vater sein Okay.

»Klasse. Bis dann.«

Robert legte den halb aufgegessenen Döner auf seinen Teller und erhob sich von seinem Platz. In Windeseile hatte er sich wieder Schuhe und Jacke angezogen und die Wohnung verlassen.

Marcel stocherte mit der Gabel in dem angefangenen Fladenbrot herum. Sein Blick war auf den Teller gerichtet.

»Er ist komisch seit dem Vorfall.«

»Wie wärst du drauf, wenn dein Mitschüler tot im Wald aufgefunden worden wäre?«

»Ob wir mit ihm reden sollten?«

»Nein«, widersprach Vanessa ihrem Mann, »Wenn er reden will, wird er schon auf uns zukommen.«

»Wenn du meinst.«

Er nahm den Döner in die Hand und biss hinein. Vanessa hatte nur ein wenig an ihrem Döner geknabbert. Viel lieber genoss sie die Zeit mit ihrer Familie. Nun biss sie ebenso wie ihr Mann hinein, ließ ihn dann jedoch sinken. Ihr Blick fiel auf den Postkartenständer.

»Was war heute auf der Arbeit los?«

Sie wagte einen Blick in sein Gesicht und sah seine herabhängenden Mundwinkel. Plötzlich sah er zutiefst entkräftet und müde aus. So kannte sie ihn nur, wenn er Nächte an einem Artikel oder einer ganzen Kolumne saß und eine feste Deadline hatte.

»Hast du noch nicht davon gehört?«

Sie fühlte sich an das Gespräch mit ihren Kollegen erinnert und ahnte Schreckliches. Mit zittriger Hand griff sie nach dem Blatt im Postkartenständer und faltete es auf dem Küchentisch auf. Es war ein Vordruck für eine Handvoll Zeitungsartikel. Einer erweckte aber Vanessas Aufmerksamkeit mehr als die anderen.

»Doktor Steinert?« Vanessa sah ihren Mann schockiert an. »Den kenn ich!«

»Das dachte ich mir schon.«

»Wenn Henrik das erfährt …«

»Solang der Artikel nicht veröffentlicht ist, erfährt niemand irgendwas! Apropos, was war mit Tom?«

»Tom?« Marcel sah seine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ach, ja. Der Vorfall.«

»Was?«, fragte er wie ein Mann, der ahnte, dass seine Frau sogleich eine Affäre beichtete.

Sie erzählte ihm von Toms Aktion und bat ihn, nichts davon durchsickern zu lassen. Ebenso schwor sie, dass sie dem Jungen die Leviten gelesen hatte und er es nie wieder tun wolle.

»Wir sagen Robert nichts von Tom!«

»Und erwähnen in seiner Gegenwart nicht den Zirkus«, ergänzte Vanessa.

»Als wenn er davon nicht schon längst gehört hat. Arachnophobiker sehen auch überall Spinnen. Und am Dienstag ist Halloween.«

»Er hasst den Oktober.«

»Ich mittlerweile auch.«

Lachende Clowns morden nicht

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