Читать книгу Travemünder Geflatter - Anja Es - Страница 6
ОглавлениеAlbert fliegt
Auch nach so vielen Jahren konnte sich Albert noch gut an die sanften Hänge von Enderby Islands erinnern. Die von Flechten, Moosen, Gräsern und niedrigem Gestrüpp bewachsenen Steine waren ein idealer Platz für ihn und seine Kolonie abertausender Wanderalbatrosse. In seinem Herzen hörte er noch das Lärmen der anderen und roch die würzige Frische der Insel und den salzigen Duft des Südpazifiks.
Wie immer war es ein anstrengender Start. Die schmalen, fast dreieinhalb Meter langen Flügel mussten mit voller Kraft schlagen, um den sieben Kilogramm schweren Vogel in die Lüfte zu heben, aber in dem Moment, in dem seine kräftigen Füße sich von den Felsen abstießen, als er sich vom Aufwind tragen ließ, war alle Anstrengung vergessen. Er schwebte. Höher und höher ließ er sich in großen Kreisen in den Himmel tragen und sah seine Insel und schließlich die ganze Inselgruppe kleiner und kleiner werden. Bereits nach wenigen Stunden waren die Aucklandinseln hinter dem Horizont verschwunden. Albert ließ sich treiben. Lange Reisen waren für ihn nichts Besonderes, im Gegenteil, Albatrosse wie er mieden Land und Küste.
Ihr Zuhause war der Wind über dem Meer, von dem sie sich problemlos über riesige Strecken um die ganze Südhalbkugel tragen lassen konnten.
Mit seinen erst 28 Jahren hatte Albert schon viel gesehen. Er war ein abenteuerlustiger Albatros und sein durchtrainierter Körper erlaubte ihm, immer wieder auch Risiken einzugehen, um neue Gefilde für sich zu entdecken.
Er fürchtete sich nicht vor dem Unbekannten, hatte so manchen Sturm überstanden und war gut bei Kräften. Albert wusste Wind und Strömung zu nutzen, um sich im Flug mit Tintenfischen, die nachts an die Oberfläche kamen, eine gehaltvolle und leckere Mahlzeit zu verschaffen und verschmähte auch kleine Krebse zum Dessert nicht. Er genoss das Leben in Freiheit und seine Ungebundenheit. Auf den Inseln warteten weder Frau noch Eier auf ihn, er hatte keine Küken zu ernähren und niemand stellte Ansprüche an ihn. Das ermöglichte lange, weite Reisen, die er in vollen Zügen genoss. Dabei hatte er schon so manche Bekanntschaft mit anderen Albatrossen gemacht, die hin und wieder in Affären geendet waren. Der Albatros-Mann fürs Leben war nicht darunter und mit den Jahren begann Albert das zu bedauern. Vielleicht würde ihn diese Reise in den Himmel der Liebe führen, dachte er und ließ sich von einer kräftigen Luftströmung nach Norden ziehen.
Wahrscheinlich war es das Träumen, das verhindert hatte, dass Albert rechtzeitig aus der Strömung navigierte. Unvermittelt fand er sich in einem Sturm wieder, der mit jeder Minute stärker wurde. Als Albatros beherrschte er die Kunst des dynamischen Segelflugs und konnte auch in Stürmen manövrieren, aber hier versagten schon bald seine Fähigkeiten. Die ungewohnt kalte Luft zerrte an seinen Federn, schlug ihm die Flügel weg und trug ihn mal hinauf in eisige Höhen und dann wieder hinab über die aufgepeitschte See. Albert kämpfte. Hagelkörner prasselten fast waagerecht auf seinen Körper ein und Wasser, Wind sowie die einsetzende Dunkelheit machten es ihm unmöglich, Kurs zu halten. Sich nicht in die meterhohen Wellen drücken zu lassen und die Schwungfedern nicht dem Sturm zu opfern, war alles, was er versuchen konnte.
Der Kampf mit dem Sturm währte die ganze Nacht. Immer wieder griffen riesige Wellenkämme nach ihm, Gischt spritzte ihm ins Federkleid und heftige Fallwinde pressten ihn bis an die Wasseroberfläche. Immer wieder arbeitete sich Albert nach oben, wurde vom Sturm weggeschleudert und fand sich in wildem Tanz zwischen Wolken, Wind und Wellen. Die mondlose Nacht machte es ihm unmöglich zu erahnen, wo er sich befand. Einzig zu überleben, war jetzt wichtig – und Albert überlebte.
Als der Morgen dämmerte, hatte sich der Sturm gelegt und gegen Mittag schwebte er über spiegelglatter See unter einem wolkenlosen Himmel. Vollkommen erschöpft suchte er nach einer Front zum Aufgleiten und hielt gleichzeitig Ausschau nach Cumuluswolken, unter denen man Aufwinde erhoffen durfte. Er hatte Glück. Ein zarter, aber stetiger Aufwind trug ihn davon und mit ausgebreiteten Flügeln ließ er sich nach Norden gleiten.
Das unter ihm liegende Meer war ihm vollkommen unbekannt. Nie zuvor hatte Albert diese Gegend gesehen oder auch nur von ihr gehört. Alles war ihm fremd und selbst der Sternenhimmel bot ihm keine Orientierung. Was war das nur für eine Welt, in die dieser furchtbare Sturm ihn getrieben hatte? Er ließ sich sinken und entdeckte einen Schwarm kleiner Fische, von denen er einige zum Frühstück verspeiste. Sie schmeckten eigenartig und hatten so gar nichts vom tranigen und aromatischen Aroma einer Sardelle. Aber zusammen mit ein paar Quallen, die immerhin genauso fade schmeckten, wie zuhause, füllten sie Albert den Bauch und gaben ihm neue Kraft für den Weiterflug.
An Rückflug war nicht zu denken, denn Albert war auf den Wind angewiesen. Über lange Strecken gegen die Windrichtung zu fliegen, war für Albatrosse unmöglich, das war Albert bewusst und so jubelte er innerlich als er ein Kreuzfahrtschiff entdeckte. Aus riesigen Schornsteinen zog das schwere Gefährt eine dicke, schwarze Wolke hinter sich her, aber Albert wusste, wenn er sich vor den Abgasen hielt, konnte er die Aufwinde des Schiffes nutzen und ohne großen Kraftaufwand sein Ziel erreichen.
Doch was sollte das für ein Ziel sein? In dieser ihm fremden Welt kannte er nichts und niemanden. Andererseits hatte er gehört, dass Kreuzfahrtschiffe immer schöne Regionen ansteuerten und so vertraute er darauf, dass auch dieses ihn an einen Ort führte, der freundlich und sehenswert sein würde.