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DER BRIEF

Während des Fußmarsches fängt der Fremde an zu erzählen. So erfahren Destineaux und Pollagia, was es mit dem Koffer auf sich hat. Und auch, warum der Fremde vor der Polizei geflüchtet ist.

"Wisst Ihr, ich saß letztens auf einer Bank. Die Bank stand mitten auf einer großen, grünen Wiese. Dort wollte ich mich auszuruhen. Plötzlich sah ich neben mir einen Brief liegen. Der Brief lag da, als wollte er unbedingt gelesen werden. Also nahm ich den Brief zur Hand und fing an zu lesen. Darin stand, dass in einer kleinen Seitenstrasse – nahe einer alten Kirche – an einem datümlich genannten Donnerstag – hinter einem Stapel Umzugskisten – ein Schlüssel zu finden sei, welcher zu einem Schließfach in einem fragwürdigen Hotel gehört. In dem Schließfach wäre ein Koffer voller Geld zu finden. Das fand ich so unglaublich, dass ich den Brief wieder und wieder lesen musste. Mir liefen die Tränen über mein Gesicht, weil ich daran dachte, was man mit dem Geld alles Gutes tun könnte. Ich nahm Papier und Stift zur Hand und machte mir Notizen, wer beschenkt werden könnte. Plötzlich stand eine alte, rundliche Frau vor mir. Sie trug einen braunen Filzhut mit einer riesigen steifen Krempe. Der Hut war über und über mit bunten Anhängseln versehen. Dazu eine abgewetzte rote Jacke – knielang – die fast nur noch aus Flicken bestand. Sie sah mich mit großen blauen Augen durch ihr auf dem rechten Auge sitzendes Monokel an.

Dann holte sie einen klobigen Wecker mit zwei riesigen Glocken aus ihrer Jackentasche. Ernst schaute sie erst auf mich und dann auf die schwarzen Zeiger. Sie schaute mir durch ihr Monokel ganz tief in die Augen und zeigte auf die Weckerzeiger. Die Alte raunte mir mit ruhiger Stimme ins Ohr: `Sie müssen sich beeilen. Holen Sie den Koffer. Er muss sofort in Sicherheit gebracht werden. Sehen sie, die Zeit rennt schon!` – und dann ging die alte Dame einfach davon."

Destineaux und Pollagia sind ganz gebannt von der Erzählung. Der Fremde spricht weiter.

"Wie durch eine unsichtbare Kraft verspürte ich den Drang, loszugehen und den Auftrag zu erfüllen.

Und so tat ich es. Ich ging Richtung Innenstadt. Ich habe den Schlüssel hinter den Umzugskisten gefunden. Ich bin zu dem zwielichtigen Hotel gegangen. Ich habe das Schließfach geöffnet und den Koffer herausgenommen, aus dem die Geldscheine hervor schauten. Dabei habe ich mir keinerlei Gedanken gemacht, wo das Geld herstammen und wem es gehören könnte. Das ist bei mir übrigens immer so, dass ich nicht weiß, warum genau ich etwas tue – nur dass ich es tun muss."

Der Fremde überlegt kurz, räuspert sich und erzählt weiter: "Der Typ an der Rezeption hat mich dabei die ganze Zeit misstrauisch beobachtet. Dann nahm er plötzlich das Telefon zur Hand und wählte eine Nummer. Als ich aus dem Hotel kam, hörte ich aus der Ferne Polizeisirenen. Da entschloss ich mich, das Weite zu suchen. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja."

"Und was willst Du jetzt mit dem Geld machen?" fragt der Mäuserich.

"Das werde ich in Sicherheit bringen. So wie die alte Dame es mir geraten hat. Und so wie es zu meinen Aufgaben gehört, mir plötzlich zufallende Aufträge zu erfüllen. Ohne danach zu fragen, warum und wieso." antwortet der Fremde.

Destineaux und Pollagia erzählen dann ihrerseits, wie sie in den Hinterhof gekommen sind. Die Beiden empfinden zu ihrer eigenen Verwunderung keinerlei Angst vor dem Fremden. Er scheint wie von einer magischen, sehr positiven Aura umgeben zu sein.

Mittlerweile ist es schon spät geworden. Deshalb steigen alle – um den Weg in die Innenstadt etwas zu beschleunigen – in eine alte, klapprige Straßenbahn.

Den Dreien schräg gegenüber sitzt eine alte Dame. Zu sehen ist sie nur von hinten. Wie in Zeitlupe dreht sie sich auf einmal um. Der Fremde erkennt sie sofort. Es ist die gleiche Alte von der großen Wiese. Und er findet auch, dass er sie vor der Begegnung auf der großen Wiese schon einmal gesehen hat. Nur kann er sich nicht mehr erinnern, wo. Sie holt wieder ihren großen Wecker aus der Jackentasche, zeigt auf die Zeiger und flüstert: "Sehen Sie, die Zeit ist gerannt. Jetzt findet der Wandel von Zeit und Raum statt!"

Der Wecker fängt an, ganz laut zu klingeln. Die wenigen Fahrgäste, die noch in der Straßenbahn sitzen, drehen sich um und schütteln verständnislos den Kopf.

"Auf Deine beiden Freunde passe ich auf, bis Ihr Euch wiederseht."

"Welcher Wandel?" wundert sich der Fremde noch. Und plötzlich fällt ihm wieder ein, dass er ja seine Gestalt nicht auf Dauer behält. Da wird ihm – wie er es schon kennt – übel, schwindelig, heiß und kalt. Er sieht lauter bunte, flimmernde Flecke vor seinem rechten Auge. Und da verschwindet er auch schon von seinem Straßenbahnsitz und mit ihm der Koffer.

Destineaux und Pollagia sind völlig perplex. Die alte Dame steht von ihrem Sitz auf, geht zu den Beiden rüber und sagt freundlich: "Mein Name ist Moira. Kommt mit mir mit, ich werde Euch ein bisschen mehr über den Fremden, über mich und über alles andere im Allgemeinen erzählen. Und ja, auch ich verstehe Eure Sprache."

Die Uhrenträgerin

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