Читать книгу Radio Rhapsodie - Anja Hilling - Страница 8

4. Radio Rhapsodie

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- Am Anfang standen ein paar einfache Fragen, ein paar simple Voraussetzungen, ein, zwei Überlegungen.

- Ist die Umgebung geeignet, still, rauschfrei (Meer, Zikaden).

- Kannst du mit klarer Stimme sprechen, nicht zu langsam, nicht zu schnell.

- Kannst du sprechen.

- Gibt es das technische Gerät, Mikro, Kopfhörer, Mischpult, Equalizer, wir brauchen Dynamikprozessoren, Effektprozessoren, wir brauchen Verstärker.

- Wir brauchen Musik.

- DJs.

- Keine gewöhnlichen DJs.

- Musik ist da, um erfunden zu werden.

- Kannst du dir das vorstellen.

- Wir brauchen DJs, die eine neue Musik in fremde Herzen knallen.

- Laut.

- Ehrlich.

- Direkt.

- Wir brauchen Struktur.

- Jemanden, der durchs Programm führt, eine Moderation, am besten paarweise, falls einer ausfällt, plötzlich.

- Etwas, das, wenn alles sich auflöst, noch zusammenhält.

- Wir brauchen einen Jingle, und wir brauchen Satelliten, wir müssen uns verständlich machen.

- Weltweit Baby.

- Wir müssen unsere Stimme in einen unsichtbaren Raum schicken.

- Geschwindigkeiten erreichen, Orte, Menschen, bei denen jeder den Verstand verlieren würde.

- Wir müssen nicht bei Verstand sein.

- Wir müssen nur reden reden reden.

- Den Müll aus unserer Kehle zu Gold machen.

- Daran glauben, dass diese Lippen Alchimisten sind.

- Wir brauchen Philosophen.

- Wir können Menschen eine Welt zeigen, die sie alles vergessen lässt.

- Als erstes sich selbst.

- Wir brauchen Korrespondenten.

- Nachrichten.

- Veranstaltungstipps.

- Wir müssen Beiträge senden, relevant, gut recherchiert und außergewöhnlich.

- Was ist das Außergewöhnliche an meinem Beitrag.

- Ich muss meinen Beitrag im Vorfeld durchdenken, könnte das Thema noch jemanden außer mir interessieren, wie breit will ich fächern, Tod, Liebe, Wetter, wer, was, wo, wann, wie, warum.

- Am Samstag, dem dritten September um 14:10 Uhr wurde die Insel G. von einem Erdbeben der Stärke 8,1 auf der Richterskala buchstäblich in der Mitte entzweigerissen, die 39 quadratkilometergroße Insel lag keine 40 Kilometer vom Epizentrum entfernt, der Herd der Erschütterung befand sich nur 10 Kilometer unter der Oberfläche, zwei Flutwellen in einer Höhe zwischen 14 und 15 Metern rissen sich zwischen 16:15 Uhr und 16:45 Uhr jedes bis zu diesem Zeitpunkt noch atmende Leben unter den Nagel, acht Fischer, sieben Hirten, achtzehn Bauern, fünf Verkäufer (Brot, Teppich, Fleisch, Zigaretten, Accessoires), ein Fährmann, zwei Barkeeper, sieben Verrückte, sechs Besucher (fünf Männer und eine Frau), ein Anwalt, drei Regisseure. 50 Menschen befanden sich auf der Insel, acht auf der Mittagsfähre, die auf offener See von dem Beben erfasst wurde. Keiner der 58 Körper konnte bisher aus dem Unglück geborgen worden. Der für Katastrophen vorgesehene Sammelplatz im Norden der Insel wurde von keiner Menschenseele erreicht. Das paradiesische Eiland, fernab vom Massentourismus, war ein beliebtes Ziel für Tagesausflügler vom Festland und hatte in den letzten Jahren von sich Reden gemacht durch ein mediales Vorzeigeprojekt, einen Meilenstein im Selbsthilfeprozess der Nervenkranken, eine Liebeserklärung der Wahnsinnigen ans Leben, eine Radiosendung live ausgestrahlt aus den Mauern der inseleigenen Psychiatrie, paradiesisch gelegen, im südlichsten Teil der Insel, am Rand der Welt, über einem rauschenden Meer, an einen Felsen geschmiegt.

- Kann dein Beitrag die W-Fragen aufrichtig beantworten.

- Hast du genug Zeit gehabt.

- Zeit alles festzuhalten, Tänze, Blicke, Tränen.

- Warum trauerst du um einen Ort, an dem du gefangen warst.

- Um Menschen, ohne die es dir besser geht.

- Dich selbst eingeschlossen.

- Wie reagiert die Außenwelt auf ein Ereignis, das sie nicht betrifft, nicht so, nicht wie dich, nicht direkt.

- Welche Meinung von außen lohnt es sich festzuhalten.

- Wo findest du sie.

- Was heißt überhaupt außen.

- Außen heißt O-Töne (Flügel, Wellen, Stimmen), aber bist du bereit, dich zu bewegen, zu tauchen, zu klettern, zu fliegen, O-Töne an O-Orten (Strand, Grotten, Felsen, Meer).

- Oder willst du die Außenwelt lieber im Studio zu Gast haben.

- Du brauchst Stars im Säulengang.

- Du musst objektiv bleiben

- Du brauchst Experten.

- Kannst du ihnen einen Platz bieten, an dem sie sich wohlfühlen, mit ihrer Meinung, ihrer Stimme, ihrem Körper.

- Eine Bootsfahrt, eine Felslandschaft, eine Strandbar, Sonnenliegen, vielleicht ein Cocktail, geiz nicht mit dem, was der Ort zu bieten hat.

- Gibt es Experten, die du für ein Interview gewinnen könntest.

- Gibt es überhaupt ein Interview, gibt es überhaupt Fragen, und wenn, hast du die Fragen gut durchdacht.

- Fanden Sie es schön hier.

- Eben nicht. Keine Ja-Nein-Fragen, beim Radio geht es differenzierter zu, hier wird im Imperativ gefragt.

- Nennen Sie einen Ort, an dem es schöner gewesen ist als hier.

- Bist du gespannt auf die Antwort.

- Ein Interview zeichnet sich aus durch das Interesse des Fragers am Befragten, nicht umgekehrt. Kannst du dieses Interesse aufrechterhalten.

- Hast du Interesse an deiner eigenen Sendung.

- Weißt du, an wen du sie adressierst.

- Kannst du eine Verbindung herstellen mit einem Menschen, den du nie gesehen hast.

- Du kannst niemanden zwingen dir zuzuhören, aber du musst dem, der es tut, versprechen, dass du ihn lieben wirst, bedingungslos.

- Es wird dir nicht schwerfallen, dieses Versprechen.

- Du hältst ein Mikrophon, von unten, mit beiden Händen, wie ganz am Anfang vielleicht mal dein Kopf gehalten wurde.

- Präzise.

- Vorsichtig.

- Erstaunt.

- Bevor das Chaos ausgebrochen ist.

- Wenn du jetzt sprichst, in dieser Stille unter den Kopfhörern, voller Zärtlichkeit für diesen Tonträger, bist du wieder Tourist, mit offenem Mund für die Kontinente, in die du deine Worte trägst.

- Du leckst mit der Zunge den Pelz des Mikrophons und stellst dir einen anderen Menschen vor.

- Du hauchst ihm Mut ein mit deiner haarigen Zunge.

- Obwohl ihr euch noch nie gesehen habt.

- Weder eure Gesichter kennt, noch eure Namen.

- Er weiß nichts von dir.

- Er weiß nur, wie sehr du dir wünschst zu sterben.

- Er kennt das Gefühl.

- Er ist dein Hörer.

- Aber jetzt ist er dankbar, dass du den Moment hinauszögerst.

- Zusammen hängt ihr für einen Augenblick am Leben.

- Als ob ihr Liebhaber wärt und nicht Spinner. Die der Tod trennt und nicht befreit.

- Als ob das jetzt noch wichtig wäre.

- Wenn die Felsen ihre ersten Steine verlieren, dir das Mikrophon aus den Händen gerissen wird, die Erde zu reißen beginnt und die Farben explodieren.

- Wenn der seidene Faden eurer unsichtbaren Verbindung zu reißen beginnt, wirst du dir diesen Spinner herbeiwünschen, dem du deine Stimme geschenkt hast.

- Deinen Hörer.

- Er soll dich kennen lernen, diesmal in echt, deinen Körper, deinen Geruch, deine Angst.

- Er soll dir ins Gesicht sehen bei deinem Überlebenskampf.

- Er soll wissen, dass du mehr als diese eine Verbindung kennst, er soll dich sehen, wie du dich klammerst, an jeden Stein, jeden Vogel, jede Ziege.

- Er soll den Ort sehen, von dem du sprichst.

- Er soll wissen, dass du Angst hast, Angst, dass der letzte Faden reißt, ein für alle Mal.

- Er soll deine Lippen wühlen sehen in der Erde, die zu reißen beginnt.

- Er soll eins wissen.

- Dass es nur einen Ort gibt, dem du dich gewidmet hast, mit Haut und Haar.

- Dass eine Häutung ein Zeichen von Zärtlichkeit ist, verglichen mit dem Schmerz, von dem Ort zerrissen zu werden, zu dem du gehörst.

- BABY, VERSUCH DIR VORZUSTELLEN, ZU STERBEN, IN DEM MOMENT, IN DEM DU BEGREIFTST, DASS DU GLÜCKLICH BIST.

- Das nennt man Verrat.

- Die Welt soll dich zappeln sehen und schreien und flehen.

- Weil du nicht sterben willst.

- Noch nicht.

- Nicht hier.

- Weil das der schönste Ort ist, an dem du je gewesen bist.

Radio Rhapsodie

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