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2. A Kind of Magic

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Juli 1986

»Henner, kannst du mal eben noch den Anzug von Familie Böckmann abholen? Ich will gleich anfangen, den Großvater herzurichten.«

Alma Kattenstroth wartete gar nicht erst, bis Johannes mit beiden Füßen im Geschäft stand, da hagelte es schon Aufträge.

»Mama, kann ich bitte erst mal was essen?«

»Ja ja. Aber wenn du den Anzug abgeholt hast, kannst du dann auch gleich zum Friedhof fahren, zum Grab von Brindöpke? Ich glaube, dem Floristen ist ein Fehler bei einem der Kränze unterlaufen. Guck mal, was auf der Schleife steht. Ich glaube, die haben Brindöpke mit zwei p geschrieben. Da ist heute Nachmittag die Trauerfeier, das wäre doch zu peinlich.«

Johannes stöhnte auf und schlurfte mit hängenden Schultern durch den Ausstellungsraum mit den Särgen nach hinten in den Wohnbereich des Hauses Kattenstroth.

»Und so was nennt sich dann Sommerferien«, maulte er.

»Was hast du gesagt?«

Sein Vater kam mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Aufbahrungsraum und steckte sich eine Zigarette an.

»Bist du schon vom Friedhof zurück? Wo ist der Anzug für Opa Böckmann?«

Johannes richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schaute seine Eltern vorwurfsvoll an.

»Heute fangen die Sommerferien an. Ich hatte soeben meinen letzten Schultag. Für immer. Wäre es möglich, dass ich davon auch was habe?«

Die Eltern tauschten einen erstaunten Blick.

»Aber natürlich, Junge. Wieso denn nicht? Du sollst doch nur eben …«, begann die Mutter.

»… den Anzug holen und zum Friedhof radeln. Genau. Und wenn ich damit fertig bin, fällt euch noch was Neues ein, was ich mal eben schnell erledigen könnte. Ich habe Ferien!«

»Mit anderen Worten, du willst die ganzen sechs Wochen auf der faulen Haut liegen und bis mittags pennen?«, fragte der Vater kopfschüttelnd.

»Ach, lass mal den Jungen, Alwin. Nach den Ferien fängt ja der Ernst des Lebens für ihn an. Obwohl ich es besser gefunden hätte, wenn er noch aufs Gymnasium gewechselt wäre. Mit dem Abitur kann man doch viel mehr anfangen.«

»Wozu braucht der Junge denn Abitur? Der wird ab sofort Bestatter und übernimmt mal den Laden.«

»Oh, Laden ist ein gutes Stichwort. Wenn du vom Friedhof kommst, könntest du da eben noch schnell in den Laden springen und …«, begann die Mutter, wurde dann aber von Säuglingsgeschrei unterbrochen. Seufzend legte sie die Kladde auf dem Tisch ab, in der sämtliche Termine vermerkt wurden, und begab sich hinauf ins Kinderzimmer.

Johannes dankte seiner kleinen Schwester im Geiste für das gute Timing und warf sich seinen Rucksack wieder über die Schulter. »Anzug und Friedhof. Danach habe ich Ferien.«

Er verschwand aus dem Haus, bevor dem Vater noch weitere Botengänge einfielen, die der Junge doch mal eben schnell erledigen konnte. Er hasste diese Formulierung. Alles war immer nur mal eben schnell zu erledigen. Dass in der Summe von ganz viel ‘nur mal eben schnell' gar nichts mehr mal eben und erst recht nicht schnell war, sahen sie natürlich nicht ein. Dann hieß es wieder, er sei einfach faul und würde sich noch umgucken, wenn er erst einmal erwachsen wäre und selber eines Tages das Bestattungsunternehmen führte.

Johannes hatte nie einen einzigen Gedanken daran verschwendet, das nicht zu tun. Weder er selbst noch irgendjemand sonst hatte je angezweifelt, dass er die lange Familientradition fortsetzen würde. Wer sonst hätte es auch tun sollen? Aber nun hatte er eine Schwester bekommen. Sehr überraschend für die ganze Familie war Alma Kattenstroth mit 40 noch einmal Mutter geworden. Das hatte den Haushalt ziemlich auf den Kopf gestellt und Johannes hatte deutlich mehr Pflichten übernehmen müssen, als zuvor abgesprochen. Klein Kerstin war ein lautes Kind, daher war er nicht böse, wenn diese Pflichten ihn aus dem Haus führten. Aber Johannes war sechzehn. Und da hatte man nun mal andere Interessen, als unbezahlter Handlanger für einen Bestatter zu sein, erst recht, wenn es sich um den eigenen Vater handelte.

Johannes radelte zuerst zum Sennefriedhof, um sich diesen dämlichen Kranz mit Schreibfehler auf der Schleife anzuschauen. Er malte sich aus, wie der teure Verblichene aus dem Grab stieg und vehement protestierte, dass das ja gar nicht sein korrekter Name sei und er von Rechts wegen also noch leben müsste. Solche schrägen Ideen würde er sich in Zukunft wohl besser verkneifen.

Die Wahrheit war, dass Johannes sich noch nicht bereit dafür fühlte, ab sofort Bestatter zu werden. Er hatte seit ein paar Tagen ernsthaft erwogen, doch noch auf das Gymnasium zu wechseln und Abitur zu machen, einfach, um Zeit zu schinden. Das Erwachsenwerden kam auf einmal sehr plötzlich. Dabei hatte er sich doch noch gar nicht richtig ausgetobt. Offenbar gingen seine Eltern davon aus, dass er in den nächsten Wochen von einem kiffenden Teenager zu einem seriösen Bestatter mutierte. Johannes sah das nicht so.

Er parkte sein Fahrrad am Eingang des Friedhofs und schloss es ab. Eilig bewegte er sich durch die Reihen der Gräber bis zu einer frisch ausgehobenen Grabstätte, um die herum bereits zahlreiche Kränze ausgelegt waren. Er ging einen nach dem anderen durch und las die kurzen Grußworte auf den Schleifen. Kein einziger Schreibfehler. Was auch immer seine Mutter da zu sehen geglaubt hatte, hier war kein Fehler zu entdecken. Na toll. Den Weg hätte er sich sparen können.

Ein lautes Rascheln und Fiepen ließ ihn herumfahren. Auf jedem Friedhof gab es eine Menge Getier, aber er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, seinen zukünftigen Arbeitsplatz mit Ratten teilen zu müssen.

Wieder raschelte es. Das Fiepen ging in ein leises Wimmern oder Jaulen über. Definitiv keine Ratte. Zögernd machte Johannes ein paar Schritte in die Richtung, aus der er die Geräusche vernommen hatte, und blickte sich nach allen Seiten um. Aber es war niemand zu sehen außer ihm und einem Jungen im dunklen Anzug, der ungefähr in seinem Alter war und vollkommen unbeweglich vor einem Grab ganz in der Nähe stand.

Da, schon wieder das Rascheln. Johannes schaute schnell zu dem Jungen hin, aber der hatte sich nicht bewegt. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten zwischen den Büschen verschwinden, die um eines der großen Familiengräber gepflanzt waren. Johannes umrundete den Grabstein. Vor kurzem hatte offenbar jemand frische Blumen abgelegt, die nun zertrampelt waren. In der aufgewühlten Erde konnte Johannes Abdrücke von Tierpfoten erkennen. Er vermutete, ein Hund habe das angerichtet, was immerhin zum Jaulen und Fiepen passte. Obwohl die Abdrücke eher wie Hufe und nicht wie Pfoten aussahen. Ziegen? Wohl kaum.

Er warf einen letzten Blick zu dem anderen Jungen hinüber und stellte fest, dass dieser ihn anstarrte. Allerdings war sich Johannes nicht sicher, ob auf dem Gesicht des Jungen eher Ablehnung oder Sorge zu erkennen war. Merkwürdig. Sollte er ihn ansprechen? Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er noch den Anzug abholen musste und anschließend verabredet war. Immerhin waren doch Ferien! Er würde möglichst viel Zeit mit Mareike verbringen. Die Aussicht, sechs Wochen lang mit seiner Freundin Freizeitaktivitäten unternehmen zu können, ließ ihn breit grinsen. Das würden großartige Ferien werden. Er zwinkerte dem anderen Jungen fröhlich zu und machte sich auf dem Weg zu seinem Fahrrad.

*

»Wie war der letzte Schultag?«

Annette Schücking blickte ihren Bruder skeptisch an, als er seine Ledermappe sorgfältig auf dem Küchenstuhl abstellte und sich dann daran machte, Kaffee zu kochen.

»Wie immer. Musst du nicht arbeiten?«

»Oh, was für eine nette Begrüßung. Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie sehr man vom eigenen Bruder geschätzt wird.«

Clemens stellte die Dose mit dem Kaffeepulver unnötig geräuschvoll auf der Anrichte ab und drehte sich zu seiner Schwester um.

»Führt dieses Geschwafel noch zu irgendetwas? Willst du etwas von mir?«

»Warst du auf dem Friedhof?«

»Wieso fragst du?«

Annette seufzte, wie es nur ältere Schwestern konnten, bevor sie ihren jüngeren Brüdern einen Vortrag hielten, um den diese nicht gebeten hatten.

»Schau, Clemens, ich verstehe ja, dass du um Mama trauerst. Aber du musst dich wirklich nicht verpflichtet fühlen, jeden Tag an ihr Grab zu gehen. Sie würde es dir nicht verübeln, wenn du nicht jeden Tag kommst.«

»Woher weißt du das? Plaudert ihr manchmal nett miteinander?«

»Sei nicht albern, Clemens. Ich will dir doch nur helfen.«

Er hätte ihr gern an den Kopf geworfen, dass er ihre Hilfe weder brauchte noch wollte. Aber das stimmte nicht. Sie war sein Vormund. Wenn es seiner Schwester mit ihm zu bunt wurde, dann konnte sie dafür sorgen, dass er in ein Heim kam. Das musste er unter allen Umständen verhindern. Also gab er sich zerknirscht und ließ die Schultern hängen.

»Ich weiß. Aber ich habe das Gefühl, ich vergesse sie viel zu schnell.«

»Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Das ist normal. Du bist erst sechzehn. Mama würde wollen, dass du nach vorn schaust und dein eigenes Leben lebst.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte er halbherzig. Ihr zuzustimmen war erfahrungsgemäß der schnellste Weg, sie loszuwerden.

Er goss sich eine Tasse Kaffee ein, räumte alle Utensilien wieder weg und putzte über die Anrichte. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass Annette ihn kopfschüttelnd beobachtete. Was konnte er dafür, dass andere Jungs in seinem Alter schlampig und unordentlich waren? Er bevorzugte es, alles beim nächsten Mal wieder so vorzufinden, wie es sein sollte.

Mit seinem Kaffee in der Hand wollte er die Küche verlassen, aber Annette war noch nicht fertig.

»Du willst doch nicht die ganzen Sommerferien in deinem Zimmer verbringen, oder?«

»Hatte ich nicht gerade eben erwähnt, dass ich nach der Schule auf dem Friedhof war?«

»Ich meinte, außer dem Friedhof. Was machen denn die anderen Jungs aus deiner Klasse so in den Ferien?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Habt ihr euch nicht darüber unterhalten?«

Dieses Mal war es an Clemens, schicksalsergeben zu seufzen.

»Annette, wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich gehöre nicht gerade zum erlauchten Kreis meines Jahrgangs. Niemand erzählt mir, was er oder sie im Urlaub macht. Und um ehrlich zu sein, bin ich echt froh darüber, denn es interessiert mich nicht die Bohne.«

»Ach komm, es wird doch wohl irgendjemanden in deinem Jahrgang geben, mit dem du redest.«

Clemens zuckte mit den Schultern. Es störte ihn nur äußerst selten, als verschrobener Außenseiter zu gelten. Meistens hatte er mit den Interessen seiner Mitschüler ohnehin nichts gemeinsam. Und sie waren allesamt viel zu neugierig. Es reichte schon, wenn Annette ihn ständig löcherte, das musste er nicht auch noch in der Schule haben.

»Was ist denn mit dem netten Jungen von den Füchtenschnieders? Mit dem hast du dich doch immer ganz gut verstanden, oder nicht?«

Clemens starrte seine Schwester fassungslos an. Wie konnte sie so zielsicher bloß jedes Fettnäpfchen finden?

»Meinhard und ich gehen uns aus dem Weg«, sagte er kurz angebunden.

»Aber warum denn?«

»Das ist meine Sache. Sonst noch was?«

Annette schien ernsthaft darüber nachzudenken.

»Ich nehme an, es wäre meine Pflicht, die Frage nach deinem Zeugnis zu stellen. Aber ich weiß, dass du ausgezeichnete Noten bekommen hast, also spare ich mir das.«

Clemens wartete wortlos ab, wohin das führen würde.

»Du hast doch ausgezeichnete Noten bekommen, nicht wahr?« Sie wirkte ein wenig besorgt. »Diese ganze Sache mit dem verlorenen Schuljahr, die spielt keine Rolle mehr, richtig?«

Wortlos öffnete Clemens seine Ledermappe, holte das Zeugnis heraus und reichte es seiner Schwester. Sie überflog es rasch und atmete erleichtert aus.

»Dein Vertrauen in meine geistigen Kapazitäten ist doch nicht so groß, was?« Er steckte das Zeugnis wieder ein.

»Niemand würde dir einen Vorwurf machen, wenn du nach dieser …«, sie machte eine allumfassende Geste, »nach dieser Sache mal einen Durchhänger hättest.«

»Doch, ich. Annette. Ich würde mir einen Vorwurf machen. Außerdem verblödet man nicht, nur weil man trauert.«

»Aber man ist abgelenkt.«

Clemens wusste nicht, wie er seiner Schwester verständlich machen sollte, dass sein Gehirn so nicht funktionierte. Dass es in seinem Kopf anders aussah, als bei den meisten Menschen, war ihm schon lange bewusst. Es zu erklären, hatte stets nur Spott oder Unverständnis hervorgerufen. Daher zuckte er als Reaktion nur noch müde mit den Schultern und schlurfte Richtung Tür.

»Wie wäre es, wenn du am Wochenende mitkommst?«

Clemens blieb stehen und schaute seine Schwester entgeistert an. Auf so eine absurde Idee war sie noch nie gekommen. Offenbar hatte sie das Gefühl, ihn zu vernachlässigen.

»Steht eine Kontrolle vom Jugendamt an oder warum legst du dich so ins Zeug?«

Annette schob schmollend ihre Unterlippe vor, was Clemens mit einem unbeeindruckten Augenrollen quittierte.

»Das ist gemein. Ich will doch nur, dass du dich mal ein bisschen amüsierst.«

»Indem ich mit meiner älteren Schwester ausgehe? Hast du Drogen genommen? Wie kommst du auf so einen abwegigen Gedanken?«

»Du sollst ja nicht mit mir allein ausgehen. Wir wären zu fünft oder zu sechst. Aber wenn es dir lieber ist, können wir auch etwas zu dritt unternehmen, nur du, Michaela und ich.«

»Aha.«

»Wir wollen am Samstag erst ins PC69 und anschließend vielleicht noch ins Zazoo

»Was auch immer das ist.«

»Eine Disco. Tu doch nicht so weltfremd. Ich wette, du würdest da total gerne mal hingehen, traust dich aber nicht, das zuzugeben.«

»Warum erfordert es Mut, da hinzugehen?«

Annette winkte ab.

»Ich geb's auf. Du willst unbedingt bockig wie ein Fünfjähriger deine gesamten Sommerferien in deinem Zimmer verbringen. Davon kriegt man Pickel. Was genau machst du da eigentlich die ganze Zeit?«

»Das geht dich nichts an.«

»Aha!«

»Nichts aha. Wage es ja nicht, mein Zimmer zu betreten.«

Annette musterte ihn ernst. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, tue ich nicht. Wir haben eine Abmachung und ich halte mich dran. Es sei denn, Rauchschwaden ziehen irgendwann mal durchs Haus. Dann ist die Abmachung null und nichtig.« Sie lächelte ihn versöhnlich an.

Clemens nickte dankbar und verließ die Küche. Trotz aller Auseinandersetzungen und Probleme, die sie miteinander hatten, konnte er sich immerhin auf Annettes Integrität verlassen. Es gab keine Schlüssel im Hause Schücking, daher konnte er sein Zimmer nicht abschließen. Aber er hatte sich ein paar Dinge aus einschlägigen Spionageserien im Fernsehen abgeschaut, um festzustellen, ob jemand in seiner Abwesenheit in seinem Zimmer gewesen war. Und er dachte dabei nicht nur an Annette.

*

»Das ist irgendwie gruselig«, meinte Mareike und verzog das Gesicht.

Johannes hatte seiner Freundin von den seltsamen Geräuschen auf dem Friedhof erzählt, als sie sich abends im Biergarten trafen. Er machte ein vage zustimmendes Geräusch, dachte aber mehr an den Jungen, der ihn so intensiv gemustert hatte. Komischer Kauz.

»Willst du das wirklich machen?«, fragte sie über den Rand ihrer Colaflasche hinweg.

»Was?«

»Tote Leute anfassen und verbuddeln.«

Johannes seufzte. »Weiß nicht. Habe ich nie so richtig drüber nachgedacht.«

Mareike stellte energisch die Flasche ab und beugte sich über den Tisch.

»Aber das ist doch wichtig! Damit entscheidet sich doch dein ganzes Leben! Man kann doch nicht einfach so durch die Gegend trudeln, wie ein Stück Treibholz im Wasser!«

Johannes widmete sich seiner Pizza. Warum hatte er seine Bedenken überhaupt geäußert? Er hätte wissen müssen, dass Mareike sich mit Feuereifer darauf stürzen würde.

»Aber das ist in unserer Familie Tradition. Seit Urzeiten sind die Kattenstroths Bestatter. Behauptet jedenfalls mein Vater.«

»Na und? Manchmal sind Traditionen nichts anderes als überkommene Rituale, die ihren Sinn verloren haben.«

»Du meinst, wir sollten die Toten nicht mehr bestatten?«

»Stell dich nicht so doof an, Henner. Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe. Ich rede davon, dass du nicht verpflichtet bist, etwas zu tun, was du gar nicht willst, nur weil das seit Generationen in eurer Familie so üblich war. Was möchtest du denn?«

»Keine Ahnung.«

»Aber irgendetwas musst du doch wollen?«

Er grinste schief und musterte sie aufreizend langsam von Kopf bis …, nun ja, Tischkante.

Mareike schüttelte ungläubig den Kopf.

»Jungs in der Pubertät. Unfassbar.«

»Gehen wir gleich zu dir?« Er hätte nichts dagegen gehabt, mit dem Gerede aufzuhören. »Bei uns zu Hause kräht meine kleine Schwester ständig herum.«

»Mir ist heute nicht danach, Henner.« Sie mied seinen Blick. »Ich will mich später außerdem noch mit Steffi und den anderen vom ABAL treffen.«

Johannes unterdrückte einen Anfall von Eifersucht. Nicht nur, dass seine Freundin für seinen Geschmack viel zu viel Zeit mit diesem dämlichen Aktionsbündnis für ein atomfreies Leben verbrachte, sie vermied es auch zu erwähnen, dass dort nicht nur ihre Freundin Steffi aktiv war, sondern vor allem auch Kolle. Und der war für Johannes ein rotes Tuch. Weshalb Mareike ihn nicht erwähnte. Was Johannes nur noch misstrauischer machte. Er war ein paar Mal zu diesen Treffen mitgekommen, aber das ganze Öko-Geschwafel hatte ihn aggressiv gemacht. Es war okay, wenn Mareike ihm einen 'Atomkraft, nein danke'-Button an die Jeansjacke steckte, es war auch noch akzeptabel, wenn sie manche Dinge aus Überzeugung tat, wie zum Beispiel einen Teil ihres Taschengeldes an Greenpeace zu spenden. Es wurde zu einem Problem, wenn das Geld dann nicht reichte, damit sie für ein paar Tage nach Frankreich fahren konnten, wie sie es mal vorhatten. Seine schlechte Stimmung, als er das hörte, hatte sie mit einem Vortrag über Prioritäten quittiert, von denen er offenbar die falschen hatte.

Es war nicht so, dass er ihr nicht grundsätzlich zustimmte, was den Schutz der Umwelt und die Gefahren der Atomkraft anging, aber er war sechzehn. Da sollte man sich nicht mit Becquerel und Halbwertzeit befassen müssen, sondern mit Partys und Sex. Stattdessen gab es verstrahlte Nahrungsmittel und Aids. Johannes fühlte sich von der Welt um seine Pubertät betrogen.

»Wir können ja morgen ins Kino gehen«, sagte Mareike versöhnlich.

Er verkniff sich die Frage, ob Steffi und Kolle dann auch dabei wären.

»Nur wir zwei«, fügte sie hinzu und lächelte.

»Ich bin wohl ziemlich leicht zu durchschauen, was?«

»Ja. Aber das ist nichts Schlechtes«, fügte sie eilig hinzu. »Ich finde es gut, wenn ein Junge sich nicht verstellt, um den Macho zu spielen oder sich irgendwie geheimnisvoll zu geben. Du bist eben …« Sie blickte über die anderen Gäste des Biergartens hinweg, offenbar auf der Suche nach dem passenden Wort. Johannes war sich ziemlich sicher, dass er mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein würde.

»Schlicht gestrickt?«, schlug er vor.

»Reell«, erwiderte sie. »Bodenständig und handfest. Ich mag das. Sonst wären wir ja wohl kaum zusammen.«

Johannes nickte und stand auf. »Dann komme ich morgen zu dir. Am Nachmittag? Meine Eltern haben morgens bestimmt jede Menge Aufträge für mich.« Er verzog das Gesicht.

Mareike stand ebenfalls auf und küsste ihn flüchtig.

»Bis morgen.«

Auf dem Weg nach Hause summte Johannes ein Lied vor sich hin, was sich bei genauerer Betrachtung als Midnight Lady entpuppte. »Ach du kacke«, murmelte er und blickte sich erschrocken um, ob ihn jemand gehört haben könnte. Das fehlte ihm noch, dass seine Kumpel dachten, er würde so ein Softie werden, nur weil er jetzt mit Mareike fest zusammen war. Als Nächstes würde er sich noch dabei ertappen, diese dämlichen Pierrot-Poster an die Wand zu kleben. Grauenvoll. Er schüttelte sich. Das passte eher zu dem Jungen vom Friedhof, fand er. Der hatte in seinen feinen Klamotten so ausgesehen, als wäre er genau der Typ, von dem viele Mädchen in seiner Klasse schwärmten. Empfindsam, gepflegt und modebewusst. Alles, was Johannes nicht war. Aber immerhin gab es auch Mädchen, die es nicht so wichtig fanden, welche Marken er trug. Im Gegenteil, Mareike würde ihm einen langen Vortrag halten, wenn er auf einmal mit einem Benetton-Pulli ankäme.

»Na, schon zurück?« Seine Mutter hatte Baby Kerstin auf dem Arm, die zur Abwechslung mal nicht schrie, sondern fröhlich glucksend nach allem griff, was ihr in die kleinen Finger kam. Johannes hätte ihr gern vermittelt, dass sie nie wieder im Leben eine so einfache Welt vorfinden würde und daher gefälligst zufrieden sein sollte. Er hielt ihr einen Finger hin und zog ihn weg, sobald sie danach griff.

»Mareike hat noch was vor mit ein paar Freundinnen«, erklärte er ausweichend und kitzelte seine kleine Schwester, die vor Freude laut quiekte. Als sie seinen Bruce-Springsteen-Button zu fassen kriegte und fast von der Jeansjacke riss, hörte der Spaß aber auf.

»Ich gehe in mein Zimmer.«

»Mach die Musik nicht so laut«, mahnte die Mutter.

»Das liegt ganz bei Kerstin.« Er stupste seiner Schwester auf die Nase und ging hinauf.

Johannes hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht und das Radio eingeschaltet. Aber seit Mel Sondocks Hitparade nicht mehr kam, war der Mittwochabend musikalisch betrachtet eine echte Nullnummer geworden. Als Ersatz hatte er BFBS Radio 1 auserkoren, aber es war einfach nicht dasselbe. Er hätte hinunter ins Wohnzimmer gehen können, um sich gemeinsam mit seinem Vater Die Profis anzuschauen, die sah er eigentlich ganz gerne, wenn sein Vater nicht bei jeder Actionszene gemeckert hätte, wie brutal und unrealistisch das doch alles wäre. Schlimmer war es eigentlich nur, mit der Mutter Dallas zu gucken. Nein, dazu war er nicht in der Stimmung.

Im Radio wurde Underground von David Bowie gespielt und seine Laune besserte sich sofort erheblich. Ausgerechnet da fing der Sender an zu rauschen und zu knistern.

Genervt rollte sich Johannes auf die Seite und fing an, am Sendersuchlauf herumzudrehen. Aber je feiner er justierte, desto seltsamer wurden die Verzerrungen. Jaulen, Krächzen und Fiepen war zu hören, beinahe so, wie die Geräusche auf dem Friedhof am Nachmittag. Johannes stand auf und öffnete das Fenster, um zu hören, ob das vielleicht von draußen kam. Aber außer dem normalen Straßenlärm war da nichts. Das Jaulen und Fiepen kam eindeutig aus dem Radio. Vielleicht lag das Problem beim Sender. Er würde abwarten, ob der Moderator etwas dazu sagte.

Als das Lied endete, hörten abrupt auch die Störungen auf. Musste wohl an der Schallplatte im Sender gelegen haben. Warum dasselbe Geräusch auf dem Friedhof und im Sender der britischen Streitkräfte auftauchen sollte, hinterfragte er nicht. Dazu kiffte er zu oft. Mit einem schiefen Grinsen blickte er auf den Joint, der im Aschenbecher neben dem Bett vor sich hin qualmte.

Summer of 86

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