Читать книгу Summer of 86 - Anja Kuemski - Страница 5

3. Boys Don't Cry

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Als Clemens am späten Nachmittag das Wohnzimmer betrat, machte Annette einen erneuten Versuch.

»Wie wäre es mit Kino?«

Sie hatte die Tageszeitung auf dem Couchtisch ausgebreitet und deutete einladend auf das halbseitige Kinoprogramm.

»Aber sicher, wenn ich den Film aussuchen darf?«

»Gern.« Sie strahlte ihn an.

Mit frechem Grinsen deutete er auf das Bild einer barbusigen Frau, der man trotz einer Übermenge an Druckerschwärze die schlecht gespielte Ekstase deutlich ansah.

»Club Intim.«

Annette verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

»Und was, wenn ich das durchziehe? Ich bin volljährig. In meiner Begleitung darf der kleine Clemens in den Erotikfilm. Was würdest du dann machen, hm?«

Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie legte nachdenklich den Kopf schief.

»Oder ist das als Informationsveranstaltung gedacht? Müssen wir ein Aufklärungsgespräch führen? Soll ich dir eine BRAVO kaufen?«

Clemens reagierte darauf gar nicht erst. Weder interessierte ihn der billige Sexfilm noch das Zentralorgan seiner pickeligen Klassenkameraden. Er überflog die anderen Filme. Momo, Männer, Asterix. Nein, nein, nein. Für so etwas würde er keine sieben Mark Eintritt ausgeben. Tod eines Handlungsreisenden. Er hatte darüber gelesen. Nicht, dass er viel übrig hatte für dröge Literaturverfilmungen, aber er hatte eine kaum eingestandene Schwäche für John Malkovich, seit er ihn in Killing Fields gesehen hatte. Was er seiner Schwester gegenüber aber niemals zugeben würde. Er wusste selber nicht genau, was das bedeutete. Wahrscheinlich gar nichts. Manchmal mochte man eben einen Schauspieler oder Musiker. Er mochte schließlich auch David Bowie, ohne dass das irgendwie anrüchig gewesen wäre. Ihm war durchaus bewusst, dass Bowie lange den Ruf als Elternschreck besessen hatte. Nicht bei ihnen zu Hause allerdings. Da gab es andere Schrecken.

»Wie wäre es mit Indiana Jones und das Geheimnis des verborgenen Tempels?«, schlug Annette vor. »Oder lieber E.T.? Außerirdische sind doch vielleicht eher dein Geschmack. Stehen 16-jährige Jungs nicht auf Science Fiction?«

»Science Fiction? Annette, das ist ein Kinderfilm«, sagte er entgeistert. »Du solltest mal was für deine Bildung tun und dir die Literaturverfilmung von Arthur Miller anschauen.«

Annette warf erwartungsgemäß einen skeptischen Blick auf das Kinoprogramm.

»Nee, das klingt dröge. Willst du das etwa gucken?«

»Wir können uns ja offenbar nicht auf einen Film einigen. Damit ist das Thema wohl erledigt, oder?«

Er faltete die Zeitung zusammen, nicht jedoch, ohne sich vorher noch einmal zu vergewissern, wann der Film anfing. Er hatte keine Probleme damit, allein ins Kino zu gehen. Dann musste er den Film hinterher wenigstens nicht noch in allen Einzelheiten besprechen. Er konnte es nicht leiden, wenn alles und jeder immer bis ins letzte Detail analysiert werden musste. Manche Dinge waren viel besser im Verborgenen aufgehoben.

Um kurz vor acht stand Clemens an der Kasse des Movie und kaufte ein Ticket. Der Andrang war mäßig, ganz wie er erwartet hatte.

»Ach nee, dafür hat der Streber Zeit? Muss er denn nicht lernen?«, fragte eine spöttische Stimme hinter ihm.

Clemens erkannte die Stimme und wusste sofort, dass nur er gemeint sein konnte. Er überlegte, ob es klüger wäre, so zu tun, als fühle er sich nicht angesprochen, aber das war erfahrungsgemäß kein probates Mittel, um diesen Vollidioten loszuwerden. Den besorgten Blick der Kartenverkäuferin quittierte er mit einem beruhigenden Lächeln, dann drehte er sich aufreizend langsam um. Mit ironisch hochgezogener Augenbraue musterte er seinen Widersacher, der mit seiner hellblauen Bundfaltenjeans und einem türkisfarbenem Jackett eine absolut lächerliche Figur machte.

»Meinhard, du hier? Guckst du dir den Film an, um hinterher behaupten zu können, du hättest das Buch gelesen?«

Die beiden Begleiterinnen seines Klassenkameraden schnappten hörbar nach Luft. Clemens kannte sie nicht, nahm aber an, dass sie eher wegen John Malkovich als wegen Meinhard hier waren, denn sie rückten ein Stück von ihm ab, wohl in der Annahme, dass es eine Schlägerei geben würde. Clemens quittierte das mit einem Grinsen.

»Da geht er hin, dein weiblicher Schutzschild. Es reicht eben nicht, eine Frau ins Kino einzuladen, damit sie sich schützend vor dich stellt, Meinhard.«

»Mach dich nicht lächerlich, du Psycho.«

Clemens rollte übertrieben mit den Augen.

»Lass dir mal was Neues einfallen. Deine Platte hat einen Sprung.«

»Stimmt doch. Du bist krank im Kopf. Man hätte dich von der Schule schmeißen müssen, du bist gemeingefährlich. Stattdessen versetzen sie dich sogar, obwohl du fast das komplette Schuljahr nicht da warst. Wen hat dein Alter denn geschmiert dafür?«

Auch das überging Clemens kommentarlos. Dass sein Vater inzwischen in einer privaten Pflegeeinrichtung lebte, sollte ja niemand wissen. Dass ihm unterstellt wurde, er habe seine Versetzung gekauft, störte ihn weniger. Er wusste ja, dass es nicht stimmte.

Inzwischen hatte sich ein kleiner Kreis aus Neugierigen um sie herum versammelt. Die männlichen Kinobesucher sahen so aus, als seien sie freudig überrascht, dass der Besuch eines langweiligen Intellektuellenfilms, in den ihre Freundinnen sie unbedingt mitschleppen wollten, sich vielleicht doch noch als unterhaltsam erweisen könnte. Clemens hatte nicht die Absicht, es zu einer Schlägerei kommen zu lassen. Aber er wusste, dass Meinhard das auch unter allen Umständen vermeiden würde.

»Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen?«, spottete Meinhard und blickte sich Beifall heischend um. »Müssen die Männer mit der Zwangsjacke kommen, um dich abzuholen? Da hinten ist eine Telefonzelle, ich kann sie anrufen. Das wäre mir glatt drei Groschen wert.«

Clemens wusste, dass sein beharrliches Schweigen von allen Anwesenden als Schwäche ausgelegt wurde. Er selbst betrachtete es jedoch als seine größte Stärke. Nichts zu sagen, würde Meinhard irgendwann zu einer unüberlegten Reaktion verleiten, mit der er die Zuschauer gegen sich aufbrachte. Sie würden Clemens das Problem vom Hals schaffen, ohne dass er selbst einen Finger krumm machen musste. Allerdings fiel es ihm zunehmend schwerer, den Provokationen dieses Idioten mit Gleichmut zu begegnen. Er hätte zu gern ausprobiert, ob die Kräfte, die er mobilisieren konnte, ihm noch immer gehorchten. Allerdings hatte es beim letzten Mal den unerwünschten Effekt gehabt, dass er tatsächlich in die Psychiatrie gesteckt worden war. Weil er ihnen keine Erklärung geben konnte für Dinge, die um ihn herum geschahen. Er wusste, dass sie alle von einer Anderswelt umgeben waren, aber niemand sonst konnte sie offenbar sehen. Es gab Kreaturen in der Anderswelt, die furchterregend waren. Aber er glaubte, sie kontrollieren zu können. Diese Wesen hätten Meinhard in Stücke gerissen. Die Vorstellung war durchaus angenehm. Umso wichtiger war es, sie nicht zu stark zu visualisieren. Er konnte seine Kräfte nicht gut kontrollieren, da er viel zu wenig darüber wusste. Er hatte es sich angewöhnt, sie zu unterdrücken, aber manchmal war der Drang sehr groß, ihnen einfach freien Lauf zu lassen und zu sehen, was passierte. Er fühlte sich wie befreit, wenn er daran dachte, dass seine Sicht auf die Welt real war und nicht einem überspannten Hirn entsprangen, wie die Ärzte ihm hatten einreden wollen.

*

»Vielleicht hätten wir doch lieber doch noch mal in Männer gehen sollen«, sagte Mareike und blickte skeptisch auf den Pulk von Leuten, der sich vor der Kasse des Movie gebildet hatte.

Sie hatten sich nicht so recht auf einen Film einigen können, Mareike weigerte sich, Shanghai Police zu sehen, Johannes hingegen war strikt gegen Momo gewesen. Alles andere hatten sie bereits gesehen, also blieb nur Tod eines Handlungsreisenden. Allerdings hatte Johannes nicht damit gerechnet, dass sich so viele Leute den Film ansehen wollten. Er war schon geneigt, zuzustimmen, als er sah, dass die Leute keineswegs an der Kasse Schlange standen, sondern offenbar einen Kreis um zwei Jungen gebildet hatten, die sich gegenseitig belauerten. Einer von ihnen war der blasse Bursche vom Friedhof. Aus der Nähe konnte er sehen, dass er strahlend blaue Augen hatte, beinahe unnatürlich.

»Nee, warte mal«, sagte er und trat näher. Mareike drängte sich ebenfalls zwischen die Zuhörer. Sie hörten die spöttischen Worte des großen, schlaksigen Jungen in Buntfaltenjeans, die bei dem blauäugigen Blassgesicht offenbar keinerlei Regung provozierten.

»Der arme Junge«, murmelte Mareike. »Warum hackt der Andere auf ihm herum? Er ist ja schon ganz starr vor Angst.«

Johannes zuckte mit den Schultern. Er fand eigentlich nicht, dass der Junge ängstlich wirkte, sondern eher so, als müsse er sich zusammenreißen, um dem aufgeplusterten Arschloch nicht derbe die Fresse zu polieren.

Er hörte hinter sich ein seltsames Fiepen und drehte sich um. Zwei Gestalten drückten sich in einen Hauseingang, er konnte nur etwas schäbige, abgewetzte Kleidung erkennen. Dann jaulte etwas, aber er konnte nicht erkennen, woher das kam. Diese Laute verfolgten ihn nun schon seit gestern. Langsam zerrte das an seinen Nerven. Vielleicht sollte er doch weniger kiffen.

»Was ist?«, fragte Mareike.

»Nichts«, erwiderte er und sah, dass der blasse Junge den Kopf schief gelegt hatte, als lausche er ebenfalls. Hatte er das Jaulen auch gehört? Der Junge schmunzelte, als habe er als einziger einen Witz verstanden. Johannes fühlte sich unwohl.

»Lass uns lieber gehen«, sagte er leise. Aber Mareike drängelte sich nach vorn und stemmte empört die Hände in die Hüften. Oh nein, dachte er. Sie würde sich einmischen. Er fand es einerseits gut, dass sie für ihre Überzeugungen den Mund aufmachte, aber doch nicht bei einem harmlosen Streit, der sie nichts anging.

»Du bist eine Gefahr für die Menschheit, du gehörst eingesperrt.«

Aus der Stimme des großen Jungen sprach eindeutig unterschwellige Angst. Vielleicht hatte Blassgesicht ihm tatsächlich schon mal eine gelangt. Aber in dem Fall wäre es echt dämlich, ihn auch noch zu provozieren. In der Tat ging der andere Junge nun auf ihn zu und hob die Hand. Der Kopf des Großmauls zuckte zurück. Aber anstatt ihn zu schlagen, machte der Junge eine Geste, als wolle er ihm die Hand an die Wange legen, beinahe zärtlich, ohne ihn jedoch tatsächlich zu berühren.

»Ich kann nichts dafür, wenn du mit deinen Gefühlen für mich nicht umgehen kannst, Meinhard.« Er ließ die Hand noch ein wenig zögerlich in der Luft verharren und lächelte traurig.

»Was?« Der große Junge stieß die Hand beiseite. »Du Schwuchtel, fass mich ja nicht an.«

»Also, jetzt reicht es aber!« Mareike drängte sich in die Mitte des Kreises und baute sich vor dem großen Jungen auf. »Es ist doch offensichtlich, dass du seine Gefühle verletzt hast. Und ihn dann noch so vor allen Leuten zu beschimpfen! Schämen solltest du dich!«

In der Menge war zustimmendes Gemurmel zu hören, aber auch Enttäuschung, denn mit einer Schlägerei war nun wohl nicht mehr zu rechnen.

Johannes sah, wie der blasse Junge sich unauffällig aus der Mitte des Kreises zum Rand bewegte, während Mareike nun erst richtig aufdrehte und zu einem Vortrag darüber ansetzte, wie wichtig es war, zu seinen Gefühlen zu stehen.

Als der blasse Junge wenige Schritte entfernt von ihm aus der Menge heraustrat, sah Johannes ein zufriedenes Grinsen auf dessen Gesicht. Er musste neidlos anerkennen, dass das eine fabelhafte schauspielerische Leistung gewesen war. Besser als der Film, der ihm nun erspart bleiben würde.

Summer of 86

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