Читать книгу Die Stadt ist der Dschungel - Anja Kwiatkowski - Страница 3

Kapitel 1

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Die Passagiere im Hafenkomplex machten Alois und seinen Begleitern instinktiv Platz. Der Kopfgeldjäger nahm es mit zufriedenem Grinsen zur Kenntnis. So sollte es sein. Wenn ein Troll in Ledermontur einen etwas orientierungslosen Menschen in Handschellen hinter sich her zerrte, dann war es nur allzu natürlich, dass sich ihnen niemand in den Weg stellte. Der Gefangene sah verständlicherweise ebenfalls nicht sonderlich glücklich aus, aber da er in wenigen Minuten auf einer Fähre Richtung Kontinent sitzen würde, konnte man es ihm auch nicht verübeln. Er war illegal auf die Insel gekommen und wurde nun abgeschoben. Ein privater Sicherheitsdienst hatte Alois Hintertupfer auf den Mann angesetzt, der Troll hatte ihn ohne Probleme aufgespürt und nun wurde er wieder von der Insel weggebracht. Alois hatte sich abgesichert, falls es am Hafen zu Problemen mit den Behörden kommen sollte, und seinen Bekannten Linus mitgenommen, einen Streifencop, der nebenbei schlechte Romane über Alois' aufregendes Leben schrieb. Hätte man den Troll danach gefragt, dann war es ausschließlich das Einkommen durch diese Geschichten, das ihn die Gegenwart des nervigen Cops erdulden ließ. Linus Caesar Jagelowsky war einer der anstrengendsten Menschen, die Alois kannte und das sollte durchaus etwas heißen, denn er fand einfach alle Menschen anstrengend. Er konnte sich noch gut an die Geschichten seines Großvaters erinnern, als Menschen von der Insel verbannt waren. Nach und nach waren die Bestimmungen gelockert worden, erst durften sie in bestimmten Zonen leben, dann wurden die Ausgangssperren für Menschen schrittweise aufgehoben. Schließlich wurden sie per Dekret der Ethikkommission für gleichberechtigt erklärt. Alois' Großvater hatte als junger Troll gegen diese Entscheidung demonstriert, war entschlossen gewesen, zur Not den bewaffneten Kampf aufzunehmen, wie viele andere auch. Die verordnete Gleichberechtigung der Menschen hatte damals viele Angehörige der anderen Rassen in die Arme der Radikalen getrieben. Geändert hatte das nichts. Menschen wurden per Gesetz gleichgestellt. Großvater Hintertupfer gab den Widerstand recht bald wieder auf, wurde vielfacher Vater und hatte andere Sorgen. Aber die Trennung in den Köpfen blieb. Niemand traute den Menschen. Aber seither machten die sich überall breit, die Kriminalitätsrate stieg sprunghaft an, das Leben war nicht mehr so wie vorher. Das behauptete jedenfalls Alois' Großvater. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Die Auswirkungen menschlichen Verhaltens würden weltweit noch auf Jahrhunderte spürbar bleiben. Sperrzonen, Fall-out-Areas, egal, wie man es nannte, es waren Menschen gewesen, die dafür verantwortlich waren, dass große Teile des Planeten nicht mehr bewohnt werden konnten. Und nicht wenige der anderen Völker verlangten daher, dass die Menschen in eben diesen Zonen leben sollten, die sie so dauerhaft verseucht hatten, anstatt in den Regionen zu leben, die geschützt waren, und in denen die anderen Völker überlebt hatten. Sicherlich war das eine radikale Ansicht, aber je mehr man sah, wie sehr die Menschen bereits wieder alles beherrschen wollten, bedurfte es keiner Wahrsagerei, um zu wissen, dass eine neue Katastrophe nur eine Frage der Zeit sein würde. Menschen waren gefährliche Störfaktoren, die man besser unter Kontrolle gehalten hätte. Aber natürlich fanden sich ein paar Aktivisten, die sich gegen die Diskriminierung der Menschen einsetzten, ohne wahrhaben zu wollen, welche fatalen Folgen das für die Weltgemeinschaft haben würde. Denn dass die Menschen mal dazulernen würden, damit rechnete Alois nicht. Und so lebten sie nun wieder mitten unter ihnen, in den großen Städten. Alois hatte erst neulich gelesen, dass etwa 80% aller verurteilten Kriminellen Menschen waren. Wundern tat ihn das nicht. Sie hatten einfach einen Hang zu unmoralischem Verhalten. Zugegeben, er verdiente sein Geld mit der Tatsache, dass es immer jede Menge kriminelle Menschen gab, die gefunden werden mussten. Insofern sollte er sich vielleicht nicht beklagen. Und natürlich gab es auch den einen oder anderen Menschen, der es vielleicht ehrlich meinte. Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass er Menschen grundsätzlich für kriminell hielt. Nicht, dass die anderen Völker da nicht auch durchaus mithalten konnten, aber es schien, als würden Menschen es besonders darauf anlegen, all ihre - ohne Frage vorhandene - Kreativität vor allem in kriminelle Energie umzusetzen. Was aber noch viel schlimmer war, zumindest nach Alois' Ansicht, war die Tatsache, dass sich Menschen deutlich schneller vermehrten als irgendeine andere Rasse, sogar schneller als die Orks und die vermehrten sich wie die Karnickel. Zumindest hatte das Großvater Hintertupfer behauptet. Alois selber hatte noch nie in seinem Leben ein Karnickel gesehen.

„Was ist denn los mit dir, Alois? Wenn du weiter so große Löcher in die Luft starrst, bildet sich gleich ein solches schwarzes“, sagte Linus und rammte ihm kameradschaftlich seinen Ellenbogen in die Hüfte. Alois brummte unzufrieden. Das war auch so ein Punkt. Menschen reichten ihm gerade einmal bis zur Brust, meinten aber dennoch, ihm irgendwie auf Augenhöhe zu begegnen.

„Schwarzes was?“, fragte er irritiert.

„Loch, Alois. Schwarzes Loch. Du bist vollkommen abwesend. Was ist denn los?“

Sie hatten auf den unbequemen Plastikbänken im Transitbereich Platz genommen und warteten auf den Beamten, der den Menschen in Empfang nehmen würde, um ihn auf die Fähre Richtung Kontinent zu verfrachten. Sie waren nicht die einzigen. Ein paar Sitze weiter sahen sie drei Orks, die verdächtig nach Grenzbeamten in Zivil aussahen, und die menschliche Familie in ihrer Begleitung machte einen so elenden Eindruck, dass man getrost vermuten durfte, sie sollten ebenfalls abgeschoben werden. Alois fand das absolut richtig, die Insel war klein, sie hatten hier ihre eigenen Probleme mit Sperrzonen, da brauchten sie nicht auch noch die Verseuchten vom Kontinent.

„Typisch Menschen“, knurrte er. „Erst die Welt ins Chaos stürzen und sich dann verpissen wollen.“

„Ich muss doch sehr bitten“, empörte sich Linus. „Ich bin ein Hüter des Gesetzes, ich stürze niemanden ins Chaos.“

„Aber mit den Gesetzen nimmst du es auch nicht so genau. Oder muss ich dich tatsächlich dran erinnern, dass wir erst vor ein paar Wochen höchst illegal eingebrochen sind und anschließend auch noch zwei Wachmänner ausgeschaltet haben? Wir haben uns nicht gerade Mühe gegeben, festzustellen, ob sie überlebt haben. Du bist ein Killer, Linus. Ein staatlich sanktionierter Killer.“

Der Cop war blass geworden und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Aber sie saßen außer Hörweite der Grenzorks und ihr eigener Gefangener hatte dermaßen viele Drogen intus, dass er nicht viel von dem mitbekam, was um ihn herum geschah. Es war nötig gewesen, ihn ruhig zu stellen, da er sich heftig gegen seine Abschiebung gewehrt hatte. Wer wollte ihm das verübeln? Die Aussicht, in Zukunft wieder in verseuchtem Gebiet ums Überleben kämpfen zu müssen, wäre für niemanden erfreulich gewesen. Aber das hätten sich die Menschen eben vorher überlegen müssen, bevor sie in ihrer Gier und religiösen Verblendung alles vernichteten, was über Jahrtausende aufgebaut worden war. Den Preis dafür mussten sie nun alle bezahlen.

„Ich bin nicht glücklich darüber, was ich getan habe, aber es erschien mir die einzige Möglichkeit, den Fall aufzuklären. Kein Grund, das hier jedem auf die Nase zu binden“, zischte der Cop. „Und ich bin wahrlich nicht stolz darauf, möglicherweise den Tod eines Wachmanns verschuldet zu haben. Aber ich bin Cop, ich fange jetzt nicht an zu heulen. Die Stadt da draußen ist ein Dschungel, da gilt Fressen und Gefressen werden.“ Linus' scharfe Worte wurden durch sein zerknirschtes Gesicht arg ihrer Aggressivität beraubt.

Alois winkte gelassen ab. Er selber war moralisch hoch flexibel. In einer von Menschen beeinflussten Welt blieb niemand lange makellos. Um so erstaunlicher war es zu sehen, dass es Leute wie Linus gab, die tatsächlich so etwas wie Prinzipien hatten und sich schwer damit taten, dagegen zu verstoßen.

Jagelowsky warf ihm finstere Blicke zu, die Alois aber ignorierte. Statt dessen schaute er den vorbei eilenden Passagieren zu, die für die Wartenden im Transitbereich nur einen schnellen Seitenblick übrig hatten und dann schon wieder verschwunden waren. Einer der Menschen erregte jedoch seine besondere Aufmerksamkeit. Er stand vor der Plasmawand und las die Abfahrtzeiten der Fähren. Seine Körperhaltung ließ darauf schließen, dass sein linkes Bein entweder etwas kürzer oder verletzt war. Als der Mensch den Kopf ein wenig zur Seite drehte, konnte Alois sein Profil erkennen und sein Puls beschleunigte sofort. Er hatte sich nicht getäuscht, er kannte den Mann. Allerdings hätte der nicht hier sein dürfen. Er hätte überhaupt nicht sein dürfen. Alois' letzte Information über Myrner besagte, dass er in einer der Todeszonen auf dem Kontinent verschollen war. Der Mikrochip in seinem Ohr war schon vor Jahren verstummt. Allerdings wusste Alois nur allzu gut, dass man da sehr leicht selber für sorgen konnte. Und die kleine Narbe am Ohr nahm man gern in Kauf, wenn man dafür vom Radar der internationalen Sicherheitsdienste verschwand. Er selber trug ebenfalls solch eine Narbe und er ging davon aus, dass Myrners Ohr auch eine hatte.

Alois stand auf und wollte seinen ehemaligen Kameraden auf sich aufmerksam machen, stellte aber nach zwei Schritten fest, dass ihm noch jemand am Arm hing. Den Abgeschobenen hinter sich her zu schleifen, würde zu viel Aufmerksamkeit der falschen Art auf sich ziehen. „He, Myrner!“, rief er statt dessen. Er konnte sehen, dass der Kopf des Menschen kurz in seine Richtung ruckte, er sich dann aber eilig aus dem Infobereich entfernte. „Myrner!“, rief Alois erneut, was die Aufmerksamkeit einiger Passagiere erregte und sie machten einen noch größeren Bogen um den Troll. Die Grenzorks schienen nun ebenfalls Interesse zu entwickeln und begannen zu tuscheln.

„Was machst du denn?“, nörgelte Linus. „Wer war das?“

„Ein alter Bekannter.“

„Der offenbar entweder schwerhörig ist oder nichts mit dir zu tun haben will. Woran das wohl liegen könnte“, murmelte der Cop.

„Ich zwinge dich nicht, hier zu sein.“

„Ach? Das hörte sich in der Mail aber noch anders an.“

Alois schmunzelte ein wenig. Natürlich würde er sein Wissen über das illegale Verhalten des Cops zu seinem Vorteil benutzen, wann immer er es für lohnenswert hielt. So funktionierte die Welt nun einmal.

„Jetzt reg dich mal nicht auf. Dafür, dass du eigentlich Streife fahren müsstest, treibst du dich ganz schön viel einfach herum. Was sagen deine Vorgesetzten eigentlich zu deiner eigenwilligen Interpretation des Dienstplans?“

Linus blieb ihm die Antwort schuldig, denn in diesem Moment wurden die Passagiere im Transitbereich aufgerufen, ihre Fracht aufzugeben. Zollbeamte nahmen sowohl Alois' Menschen als auch die Familie in Begleitung der Orks entgegen. Linus filmte mit dem eKomm die Übergabe und schickte die Datei an Alois' Webadresse, der den Film an die Auftraggeber weiterleiten würde, sobald er zu Hause war. Nach wie vor legte seine fehlerhafte Cyberware elektronische Präzisionsgeräte lahm, daher besaß er kein eKomm mehr. Aber natürlich verlangten seine Auftraggeber einen Beweis, dass der Job erledigt war. Eine kurze Videosequenz mit der Signatur eines Polizei-eKomms würde ausreichen, um die Einhaltung des Vertrags zu belegen. Das war leicht verdientes Geld gewesen. Zufrieden grunzte der Troll, nickte den Grenzorks einen kollegialen Gruß zu und machte sich auf den Weg aus dem Hafenkomplex heraus. Seine Cyberaugen scannten dabei jeden Passagier, immer auf der Suche nach seinem alten Kollegen Myrner. Er musste sein Rufen gehört haben. Alois' Stimme war laut und tief und außerdem Myrner vertraut. Sie waren nicht verfeindet gewesen, es gab also keinen Grund, ihm aus dem Weg zu gehen.

„Wie wäre es mit einem Bier zum Dank dafür, dass ich mal wieder meine Position missbraucht habe, um dir einen Gefallen zu tun?“, fragte Linus und folgte ihm.

„Meinetwegen“, brummte Alois und steuerte die erste Kneipe in den Docklands an, die er entdeckte.

„Ist sicher nur ein Frage von ein paar Tagen, bis der Typ auf einem anderen Schiff versucht wieder einzureisen“, sagte Linus im Plauderton, während sie sich an einen einigermaßen sauberen Tisch im hinteren Bereich der Kneipe setzten. Um diese Tageszeit waren vor allem Schichtarbeiter der Docklands hier anzutreffen, die sich über den Troll in Leder und den uniformierten Streifencop sicher wunderten, aber sie vollkommen in Ruhe ließen.

„Das liegt doch nur daran, dass die Grenzer auf dem Kontinent lieber die Hand aufhalten anstatt ihren Job zu machen.“

„Würdest du es anders machen?“, fragte Linus ungläubig.

„Nee, logisch. Ich meine ja bloß.“

„Immerhin gibt es Küstenpatrouillen, die einen Massenansturm verhindern. Stell dir mal vor, alle Bewohner der Fall-out-Zonen auf dem Kontinent würden versuchen auf die Insel zu kommen. Nicht auszudenken.“ Linus schüttelte sich bei der Vorstellung.

„Ganz verhindern kann man das wohl nicht. Immerhin haben die hohen Herrschaften des Parlaments inzwischen eingesehen, dass ein Wiederaufbau des zivilen Flugverkehrs keinen Sinn macht, um die Verseuchten wieder loszuwerden. Ich wohne in der Einflugschneise. Würde mir gar nicht gefallen, wenn da auf einmal ständig Fluglärm herrschte.“ Alois hatte bei der letzten Parlamentswahl dieses Thema sehr genau verfolgt und entsprechend seine Stimme abgegeben, damit das absolute zivile Flugverbot über der Insel weiterhin Bestand hatte. Sich mit den militanten Umweltaktivisten auf der selben Seite wiederzufinden, war für ihn eine völlig neue Erfahrung gewesen, die er nicht unbedingt wiederholen musste. Allerdings hatte er dabei diese heiße Orkbraut Abrruna kennengelernt, die..., nun, das hatte sich ja dann auch schnell wieder erledigt.

„Also, wer war der Typ im Transit? Dieser Myrner?“ Linus hatte leider die unangenehme Angewohnheit, Dingen auf den Grund gehen zu wollen und bewies dabei ein verdammt langes Gedächtnis. Gut für einen Cop, schlecht für Alois, wenn es um seine Privatsphäre ging.

„Ach“, brummte er und winkte ab. „War mal ein Kollege von mir.“

„Bei Jammer & Co? Wie ein Anwalt sah der aber nicht aus. Kopfgeldjäger?“

Der Troll nickte vage. Kopfgeldjäger stimmte wohl, aber das war lange vor seiner Zeit bei Renatus Jammer gewesen. Er wurde nicht gern daran erinnert. Besser, er ließ Jagelowsky in dem Glauben, dass sie beide für die Anwaltskanzlei aktiv gewesen waren.

„Wenn du den genau so scheiße behandelt hast wie mich, dann wundert mich nicht, dass er es vorgezogen hat, dich zu überhören“, erklärte Linus mit deutlich besserer Laune als noch vor wenigen Minuten. Alois wusste, dass der Cop ihm nicht glaubte. Und da er wie alle Menschen sehr neugierig war, würde er Informationen einholen. Als Polizist saß er an der Quelle. Missmutig schnaufte der Troll und trank die Hälfte seines Bieres mit einem Zug. Dann verzog er das Gesicht. „Synthetikbier“, maulte er.

„Was hast du denn erwartet?“, wunderte sich der Polizist. „Der Wirt ist nicht einmal ein Zwerg. Und hier in den Docklands wirst du mit Sicherheit keine Kneipe finden, wo selber gebraut wird.“

„Das ist widerlich.“

„Lenk nicht ab.“

Alois bedachte sein Gegenüber mit einem finsteren Blick, der normalerweise seine Wirkung nicht verfehlte. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund prallte das an Linus einfach ab. Alois hatte den Verdacht, dass der Cop ihn eher als großen grummeligen Teddybär betrachtete, der es eigentlich gar nicht so böse meinte. Vielleicht war es an der Zeit, damit endgültig einmal aufzuräumen.

„Also schön. Myrner und ich gehörten damals zu den Einheiten, die auf den Kontinent geschickt wurden, um die Anführer der Aufstände auszuschalten.“

Linus' Grinsen verschwand augenblicklich. Ungerührt setzte Alois sein Glas wieder an die wulstigen Lippen, verzog dann aber das Gesicht und stellte es wieder ab. Das Zeug war ungenießbar. Er hatte keine Probleme mit Synthetikfleisch und Synthetikkaffee. Aber bei Bier hörte der Spaß einfach auf. Das war für Trolle ein Grundnahrungsmittel und eigentlich sollte ihm per Gesetz ein Mindestmaß an echtem Bier zur Verfügung gestellt werden. Aber dieses Gesetz war schon so alt, dass sich kaum noch jemand daran erinnerte und mit Sicherheit ließ es sich vor Gericht niemals mehr durchsetzen.

„Du warst ein Söldner?“, fragte Linus zögernd nach.

„PML.“

Linus' Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Paramilitärischen Legionen waren inzwischen aufgelöst worden, nachdem verschiedene haarsträubende Skandale über diese Einheiten bekannt geworden waren. Berichte über Gräueltaten in den Sperrgebieten waren bis auf die Insel gedrungen und hatten zu Protesten auf den Straßen geführt und damit dem Parlament keine andere Wahl gelassen.

„Hast du auch mitgemacht bei diesen...“, begann der Cop, ließ den Rest aber unausgesprochen. Alois verstand auch so, was er meinte. Aber er konnte das ehrlicherweise verneinen. Er hatte seinen Job gemacht, und sich nicht dafür interessiert, was die Kollegen für Allmachtsfantasien auslebten. Und dann war er beizeiten von seiner Einheit getrennt worden und hatte sich mit ein paar Versprengten durch die besetzten Gebiete und die Todeszone gekämpft, bis sie ein Boot fanden, das sie in die kontrollierte Zone zurückbringen sollte. Myrner war einer dieser Leute gewesen, der einzige Mensch in ihrem kleinen Haufen. Aber er war gut gewesen, ein zuverlässiger Kämpfer. Bloß hatte es außer Alois keiner von ihnen an Bord des Schiffes geschafft. Er war davon ausgegangen, dass sie den Rebellen in die Hände gefallen waren. Vielleicht hatte man sie umgedreht anstatt sie zu töten. Um überleben zu können, durfte man sich keinerlei moralische Prinzipien erlauben. Alois hatte getan, was notwendig war; erst um seinen Job zu erledigen, dann um zu überleben. Und das allein reichte, um ihn manchmal des Nachts schweißgebadet aufschrecken zu lassen. Nicht wenige Rückkehrer hatten Probleme damit, wieder in den normalen Alltag zurück zu finden, viele zogen früher oder später Selbstmord in Betracht. Alois hatte die Erinnerungen an die Erlebnisse recht gut verdrängt aber natürlich konnte er nicht immer verhindern, daran erinnert zu werden, weil die Medien nach wie vor gern mit reißerischen Aufmachern Berichte aus den Zonen sendeten. Die Hälfte davon war nachgestellt von mittelmäßigen Schauspielern. Selbst die mutigsten Kriegsberichterstatter zogen es vor, nicht weiter zu gehen als bis zur Kontrollierten Zone im Randgebiet des Kontinents. Sicher hatte das auch damit zu tun, dass es keine Versicherung gab, die einen freiwilligen Aufenthalt in den Sperrgebieten abdeckte. Dabei wussten die auch nur, was in den Medien stand. Welche unvorstellbaren Ausmaße dieses Entfesseln der Urinstinkte tatsächlich annehmen konnte, das ahnte hier niemand. All die Details über die grauenhaften Massaker und Folterkammern blieben unter Verschluss. Nur selten wurden ein paar Ereignisse bekannt und hatten jedesmal einen empörten Aufschrei der selbsternannten Rechtschaffenen zur Folge. Einige der Verantwortlichen waren vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt worden. Aber so weit er sich erinnern konnte, wurde niemand jemals verurteilt. Der Kontinent und seine Todeszone waren weit weg, Zeugen gab es kaum welche, und zur Not konnte man sich gegenteilige Aussagen kaufen.

„Glaube mir, du willst keine Details hören“, murrte Alois, um von vornherein neugierige Fragen zu unterbinden. Für einen Cop war Linus sehr empfindsam und würde wahrscheinlich wochenlang Alpträume haben, wenn er ihm Einzelheiten erzählte. Warum es ihm etwas ausmachen sollte, ob Linus Alpträume hatte, hinterfragte er nicht. Jagelowsky hatte sich in den letzten Monaten in seinem Leben irgendwie breit gemacht, und er hatte sich an ihn gewöhnt. Heimlich musste er sich eingestehen, dass er den oft widerlich gut gelaunten Menschen mochte. Zumindest in Maßen. Wenn er ihm nicht gerade tierisch auf den Geist ging.

Der Ausdruck des Entsetzens auf Linus' Gesicht wich schnell tief empfundenem Mitgefühl. Das mochte Alois noch weniger.

„Krieg dich mal wieder ein“, murrte er und mied den Blick des Menschen. Er konnte es nicht leiden, wenn Linus hinter seine Fassade schaute.

„Du musst noch sehr jung gewesen sein, als du zu den PML gegangen bist.“

„Ich war süße zwanzig. Jüngere wollten die nicht haben.“ Er verkniff sich die Bemerkung, dass dies wahrscheinlich der Grund war, warum sein kleiner Bruder nicht auch mitgekommen war. Mit seinem unkontrollierbaren Temperament hätte er in den Truppen und in dem brutalen Chaos in der Zone nicht die geringste Überlebenschance gehabt. Heute war er Stunt-Spezialist in einem Entertainment-Park und ging voll und ganz in dem Job auf.

„Mit zwanzig ist man auf jeden Fall zu jung für so ein Killerkommando“, beharrte Linus.

„Es gibt für solche Jobs kein passendes Alter.“

„Nein, wohl nicht. Denkst du oft an die Zeit zurück?“

„Nicht, wenn ich es vermeiden kann.“

„Und dieser Myrner, der war damals dabei?“

Alois nickte wortlos.

„Und seither hast du ihn nicht mehr gesehen?“

„Als wir an Bord des Kutters gehen wollten, der uns in die kontrollierte Zone bringen sollte, wurden wir von Rebellen angegriffen. Ich habe es schwer verletzt auf das Boot geschafft, die anderen nicht.“

„Du hast gedacht, er wäre tot?“

„Anscheinend ein Irrtum.“

Linus druckste ein wenig herum. Alois wusste genau, was er fragen wollte, sich aber nicht traute, weil er mit dem Zorn des Trolls rechnen musste.

„Nein, ich habe ihn nicht absichtlich zurückgelassen, um meine eigene Haut zu retten. Es gab keine andere Möglichkeit, ich hatte einfach Glück.“

„Vielleicht sieht er das anders.“

Alois zuckte mit den Schultern. Sinnlose Spekulationen. Das Ganze lag beinahe zehn Jahre zurück, wer konnte schon wissen, was Myrner noch alles durchgemacht hatte, bis er aus der Zone herausgekommen war. Was sie erlebt hatten, war nicht gerade dazu angetan ein fröhliches Wiedersehen zu feiern. Es gab keine lustigen Veteranentreffen der Ex-PML.

„Lass uns gehen, ich will ein anständiges Bier und nicht so eine Synthetikpisse“, sagte er laut, so dass der gelangweilt an der Bar hockende Wirt ihn auf jeden Fall hören konnte.

Die Stadt ist der Dschungel

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